Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #93
Prolog
Diese Woche hat die Tatsache, dass die G7-Staatschefs am Münchner Flughafen von einer Trachtengruppe empfangen wurden und der Schuhplattler für sie getanzt wurde, eine bizarre Diskussion über traditionelle Kleidung und lokale Bräuche ausgelöst. In jedem Land der Welt werden Staatsgäste mit folkloristisch-traditionellen Ritualen empfangen und unterhalten. Weltweit wird dieser Bezug auf Bräuche und Traditionen als positiv empfunden. Nur in Deutschland gilt das in manchen Kreisen als rückständig oder gar Ausweis einer fragwürdigen Gesinnung.
Wer argumentiert, ausländische Gäste könnten den Eindruck bekommen, in Deutschland trüge jeder Tracht und tanze den ganzen Tag, traut ihnen zudem offenbar nicht zu, diese Dinge richtig einzuordnen. Man muss das alles nicht mögen und ein solcher Anlass liefert natürlich auch Stoff für Satire. Diese Empörung ist allerdings völlig übertrieben.
Bemerkenswert war auch, dass die Schilderung eines Kolumnisten über Versuche, ihn aus dem Job zu entfernen und einen Anschlag auf sein Haus, in den Kreisen, in denen es bereits als gewalttätig gilt, jemanden mit dem falschen Pronomen anzusprechen, keinerlei Kritik ausgelöst hat. Im Gegenteil. Manche fühlten sich als Reaktion dazu berufen, lange Texte über die Strategien von Rechtsextremisten zu schreiben, politische Widersacher mundtot zu machen. Vor dem Hintergrund, dass diese speziellen Silencing-Versuche garantiert nicht von Personen aus dem rechten Spektrum ausgingen, ist das vielsagend. Die Versuche, unliebsame Stimmen aus dem Diskurs zu entfernen, werden von allen Seiten gleichermaßen unternommen und sind allesamt zu verurteilen. In einer Demokratie hat man abweichende Meinungen zu tolerieren. Wer das anders sieht, sollte sein Demokratieverständnis hinterfragen.
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Nun aber los.
Heute geht es unter anderem eine umstrittene Personalie, Liberalismus und den Rechtsstaat.
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Politik und Gesellschaft
Mein Unbehagen darüber, dass sich Klimaaktivisten zunehmend radikalisieren habe ich hier bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht. Seien es Drohungen gegenüber dem Bundeskanzler, die Ankündigung einer “Klima-RAF” oder das Sinnieren über die Sprengung einer Öl-Pipeline. Dass sich Politiker unreflektiert mit diesen Gruppen solidarisieren, ist nicht ungefährlich. Fatina Keilani hat sich damit in einem Artikel beschäftigt.
In der Demokratie entscheidet das Volk selbst über die Regeln, nach denen es leben will. Ehebruch zum Beispiel ist in Deutschland nicht strafbar, woanders schon. Ein Hakenkreuz an die Wand zu schmieren, ist hingegen strafbar, woanders nicht. Dafür gibt es gute Gründe, aber der wichtigste ist: Die Gesellschaft wollte es so. Denn die Gesetze bilden ab, wie die Mehrheit leben will. Ändert sich das, so ändert sich auch das Recht, getreu dem Satz: «Gesetze sind geronnene Moral.» Das sieht man an Frauenrechten, der Homo-Ehe, dem Abtreibungsrecht, der Diskussion um Drogenfreigabe.
Bis jetzt ist Konsens, dass auch diejenigen, die gegen ein Gesetz waren, sich daran halten müssen, sobald es in Kraft ist. Ohne diesen Konsens hat die Demokratie keine Geschäftsgrundlage.
Die Personen, die gewählt wurden, um öffentliche Ämter auszuüben, sind mit dem Zeitpunkt ihrer Wahl keine Privatpersonen mehr, denen es freisteht, Partikularinteressen zu vertreten, sondern sie sind dem geltenden Recht verpflichtet. Das gilt für alle, und deshalb ist das Der-eigenen-Basis-Schöntun, das auch andere grüne Politiker gerne praktizieren, so schädlich.
Amtsträger können sich nicht aussuchen, welche Gesetze sie durchsetzen und welche nicht. Wenn sich eine Amtsträgerin hinstellt und sich mit Rechtsbrechern solidarisiert, dann sagt sie eigentlich: «Ich entsolidarisiere mich gegenüber dem Rest der Gesellschaft, der das ablehnt und entsprechende Gesetze beschlossen hat.»
Man stelle es sich einmal umgekehrt vor: Eine Bürgermeisterin in Bayern solidarisiert sich mit einem Standesbeamten, der sich aus Überzeugung weigert, zwei Männer miteinander zu verheiraten. Was dann wohl los wäre?
Die Durchsetzung des Rechts ohne Ansehen der Person muss von Amtsträgern kategorisch eingefordert werden. Wenn dies nicht geleistet wird, so verliert der Staat sein Volk.
Die Erkenntnis, dass Ferda Ataman als Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes eine Fehlbesetzung ist, setzt sich im Kreis politischer Entscheidungsträger immer mehr durch. Sie hat sich in der Vergangenheit durch eigenes diskriminierendes und spaltendes Verhalten für einen solchen Posten disqualifiziert. Der Trend, Aktivisten in hohe politische Ämter zu befördern, ist meiner Meinung nach das Betreten von dünnem Eis. Einige Personen mit eigener Agenda sind bereits an entscheidenden Stellen installiert. Sei es Sven Lehmann, Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, der durch sein Gebaren in letzter Zeit klarmacht, dass es ihm hauptsächlich um die Art von Vielfalt geht, die er persönlich für richtig hält und Andersdenkende diffamiert. Oder Innenministerin Nancy Faeser, die ohne Not einen Gastbeitrag für das Magazin der - laut bayerischem Verfassungsschutz “bundesweit größten linksextremistisch beeinflußten Organisation im Bereich des Antifaschismus” - schreibt und der es schwerfällt Extremismus per se als Problem zu benennen. Man könnte noch mehr Beispiele nennen, aber das sprengte den Rahmen.
Der oben erwähnte Kolumnist hat einen ausführlichen Artikel über Ferda Ataman und ihre Methoden geschrieben.
Da ist es also, das böse K-Wort, das Frau Ataman auch sonst hin und wieder bemühte, um Deutsche zu bezeichnen. Ich bin in rechtlichen Fragen nicht so bewandert, wie es ausginge, würde man als Deutscher andere Nationen mit Speisen bezeichnen, vor allem, wenn man vom Geld dieser Nation abhängig wäre. Aber so wichtig ist das gar nicht für Atamans Verein, denn eine bestimmte Bevölkerungsgruppe – die Weißen – sind generell nicht von Rassismus betroffen, meinen sie unter Atamans Ägide
Es ist fragwürdig, ausgerechnet von einer Aktion gegen Hassrede und Diskriminierung in Deutschland aufgrund der Farbe der Haut aufgeteilt zu werden in jene, die Opfer von Rassismus sind und jene, die gar keine Opfer sein können. Aber das ist nun mal ein Dogma der linken Identitätspolitik. Und wenn andere auf die Idee kommen, über Hautfarben zu reden, etwa, weil ein Migrant ein Massaker an einem Bahnhof angerichtet hat, ist es nicht die Herkunft, die in den Augen der Aktion die Verantwortung trägt, sondern in Form der toxic masculinity das – männliche - Geschlecht.
Hat man das Problem auf diese Art elegant in einem anderen Kontext untergebracht, ohne über die Kriminalitätsstatistik und den unzweifelhaften Zusammenhang zwischen Herkunft und Delinquenz zu sprechen, kann man wieder betonen, dass keinen Rassismus gegen weiße Menschen gibt. Mehr noch, man brüstet sich damit, dass solches rassenbeurteilende Treiben ein Ausdruck von „Zivilcourage“ sei. Schwer verständlich für Ältere wie mich, die noch gelernt haben, dass das Ziel von Zivilcourage die Gleichheit aller Menschen ohne Kategorisierung nach Hautfarben ist.
Aber das ist ohnehin völlig bedeutungslos, weil Weiße ja keine Opfer von Rassismus sein können, und was letztlich als Rassismus betrachtet wird, entscheiden keine objektiven Kriterien oder eine Wissenschaft oder, wie in einem Rechtsstaat üblich, gar die Gesetze. Nein, darüber haben laut gefördertem Programm des Europarates nur die Opfer mit ihrem Empfinden zu entscheiden. Damit ist der Sack gewissermaßen zu, die Weißen sind entweder Täter oder können keine Opfer sein, und wer sich als Opfer fühlen möchte, bleibt den Nichtweißen zur Entscheidung überlassen. Und bitte, das ist nicht meine rassistische Einteilung, sondern die des Programms gegen Hassrede – ich gebe das nur wieder.
Das Problem ist hier, dass allgemeine Gleichheitsgrundsätze, auf denen unser Rechtsstaat basiert, etwas ganz anderes aussagen. Selbstverständlich und glücklicherweise wird der Staat schnell aktiv, wenn wer auch immer jenen Rassismus gegen Osteuropäer vertritt, den die Nationalsozialisten begründeten, und allein deshalb kann niemand sagen, es gäbe keinen Rassismus gegen „Weiße“. Auch die von Ataman geforderten Migranten- und folgerichtig Nichtmigrantenquoten laufen dem Geist des Grundgesetzes entgegen. Und was strafbarer Rassismus ist, oder eine Aussage, die arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, oder eine Ungleichbehandlung, die illegal ist, entscheidet keine NGO und kein Gefühl, sondern einzig und allein die Judikative, über die die Stelle sogar ausgiebig informiert.
Presse- und Meinungsfreiheit sind nicht umsonst ein hohes Gut, und besonders die Pressefreiheit ist wichtig, weil sie der Kontrolle der Mächtigen und ihrer Begünstigten dient. Aber. Wenn die Presse das einmal macht. Und dabei aufdeckt, dass eine Journalistin wie Nemi El-Hassan eine Vorgeschichte hat, die mit den Werten und Überzeugungen dieser Gesellschaft kaum in Einklang zu bringen ist, und daher die Frage im Raum steht, ob sie für eine bestimmte Stelle im öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch tragbar ist: Dann ist es mit der Pressefreiheit für Ferda Atamans NDM schnell vorbei.
Das ist unter dem Vorsitz von Frau Ataman keine Organisation, die sich für die universelle Freiheit der Berichterstattung einsetzen würde. Es ist eine Lobby, die versucht, Berichterstattung zu beeinflussen, indem sie den störenden Aufklärern Irrationalität und Rassismus unterstellt und zur Falschbehauptung greift. Statt des einen Falls in ihrem eigenen Umfeld möchte sie lieber über alle anderen diskutieren, die damit nichts zu tun haben. Und das, ohne den eigentlich Betroffenen irgendwie eine Stimme zu geben oder zu reflektieren, was sie zu diesem Thema sagen.
Gleichzeitig wird die Presse- und Meinungsfreiheit nur für sich selbst bemüht, wenn es darum geht, Ausfälle und Beleidigungen zu rechtfertigen. Wie selektiv und bedenkenlos staatliche Mittel bei diesem Wechsel zwischen extremer Empfindsamkeit für eigene Belange und Diskreditieren von Andersdenkenden eingesetzt werden, hat man bei der eher mäßig erfolgreichen Aktion NoHatespeechDE deutlich gesehen. Wer glaubt, dass Frau Ataman als Chefin einer Behörde jetzt einen anderen Kurs einschlagen würde – der kann sie als Abgeordneter im Bundestag natürlich wählen. Das ist das freie Mandat.
Woanders wird dagegen schon fleißig daran gearbeitet, Atamans Diskriminierung gegen andere gesellschaftsfähig zu machen. Fünf Jahre wäre Frau Ataman Leiterin der Stelle, und es wird für Medien eine spannende Aufgabe sein zu beobachten, ob das Amt dabei genauso wie die Aktion NoHatespeechDe für Partikularinteressen entlang von selbstkonstruierten Hautfarbengrenzen benutzt wird.
Hautfarbenkunde, Rassismusvorwürfe, Hetze gegen Journalisten - Welt
Auch Jan Fleischhauer hat sich in seiner Kolumne mit der Personalie Ataman beschäftigt.
Tatsächlich hat die grüne Partei nach wie vor einen harten ideologischen Kern. Sie ist im Augenblick so schlau, ihn nicht zu deutlich zu zeigen. Nur manchmal kommt er zum Vorschein, so wie jetzt bei der Nominierung von Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten. Der Personalvorschlag ist eine Idee der neuen grünen Familienministerin, die damit so etwas wie ihren Einstand gibt.
Ich kenne Ferda Ataman vom „Spiegel“. Wir waren zeitweise Kolumnistenkollegen, bis ihr die Chefredaktion die Kolumne wieder wegnahm, weil zu viel Quatsch drinstand. Sie hätte rasend gerne weitergemacht, aber es ging einfach nicht mehr. Ich habe überlegt, ob ich überhaupt über sie schreiben soll. Andererseits: Wenn ich jeden aus meinen Texten raushalte, den ich kenne, kann ich den Laden dichtmachen.
Vor einigen Tagen hat Ataman alle Spuren auf Twitter gelöscht. Offenbar war sie selber der Meinung, dass ihr altes Leben in so einem eklatanten Widerspruch zur neuen Aufgabe steht, dass sie dieses besser vor der Öffentlichkeit verbergen sollte. Wer heute auf ihren Account geht, sieht dort nur noch harmlose Einträge wie Glückwünsche zur Nominierung.
Unter den Tweets, die nicht mehr angezeigt werden, befindet sich die Einschätzung, dass die deutsche Gesellschaft im Innern so verdorben sei, dass Ärzte zu Ungunsten von Migranten selektieren würden. Wörtlich schrieb Ataman zu Beginn der Pandemie: „Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen in Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn die Beatmungsgeräte knapp werden.“
Das ist kein Ausrutscher, wie man denken könnte. Es ist Ausdruck einer Weltsicht, die auch die Grundlage des zugehörigen Geschäftsmodells bildet. Die deutsche Gesellschaft ist demnach so sehr von Diskriminierung durchzogen, dass dem Problem mit normalen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Es braucht positive Diskriminierung, also Quoten und staatliche Gegenmaßnahmen, um am Ende eines mühsamen Prozesses bei einer wirklich gleichberechtigten Gesellschaft herauszukommen.
Selbstverständlich zählt auch nicht jeder Migrationshintergrund, um zum Kreis der zu Fördernden gerechnet zu werden, sondern nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die als „rassistisch markiert“ gilt, wie das heißt – womit schon mal alle raus wären, die eine polnische oder dänische oder französische Großmutter haben.
Damit wir uns nicht missverstehen, ich bin nicht gegen Aktivismus. Jeder kämpft für seine Anliegen, so gut er kann: die Freunde des geschlechtsneutralen Oben-ohne-Badens im deutschen Freibad ebenso wie die Befürworter der Gendersprache oder eben die Vertreter der migrantischen Sache. Ich habe nur Zweifel, ob jemand, der jeden Vertreter der Mehrheitsgesellschaft für rassismusgefährdet hält, die richtige Person an der Spitze einer aus Bundesmitteln finanzierten Beratungsstelle ist.
Die andere Seite der Grünen: Was Habeck und Baerbock Ihnen lieber nicht zeigen würden - Focus
In letzter Zeit wird immer häufiger gefordert, man müsse Liberalismus neu denken. Dieser Meinung bin ich überhaupt nicht, auch wenn mich die Performance der einzigen liberalen Partei in Deutschland bereits seit einigen Jahren enttäuscht. Oft kommen diese Forderungen von Menschen, die ich eher als Gefahr für den Liberalismus empfinde. Das sind vor allem zwei laute Minderheiten: Die eine versucht, sozialdemokratische und grüne Konzepte als liberal umzudeuten. Die andere unterscheidet sich inhaltlich und vom Duktus kaum von der AfD. Beiden spreche ich ab, liberal zu sein. Es sind von Populismus und dem Drang nach Aufmerksamkeit getragene Grüppchen. Einer der wenigen klugen Köpfe, der immer wieder interessante Anmerkungen zu diesem Thema macht, ist Ralf Fücks. Auch wenn ich nicht alle seine Ansichten teile, lese ich ihn immer sehr gerne. Nun hat er Bedenkenswertes in der Zeit geschrieben.
Die Abwehr staatlicher Übergriffe ist zentral für die Entstehung der liberalen Denktradition: Der absolutistische Staat wurde eingehegt, ihm wurden die bürgerlichen Freiheiten abgetrotzt. Es folgte eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Keine andere politische Denkschule war so wirkmächtig und langlebig. Ideengeschichtlich bildet der Liberalismus die Grundlage der modernen Demokratie. Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Rechtsstaat, die Trennung von Staat und Religion und eine aktive Bürgergesellschaft sind liberale Ideen. In ihrem Zentrum steht das Postulat der gleichen Freiheit aller und die normative Idee der Menschenrechte. Beide waren und sind subversive Postulate gegenüber Verhältnissen, in denen sie nicht eingelöst sind.
Der Erfolg der liberalen Revolution rief die antiliberale Konterrevolution auf den Plan. Innerhalb des Westens in Gestalt populistischer Parteien von rechts und von links, in der globalen Arena als Aufstieg autoritärer Gegenmächte zur liberalen Demokratie. Politikwissenschaftler sprechen von einer "demokratischen Rezession", die Mitte der Zweitausender einsetzte. Bei allen Unterschieden teilen Putin und Xi Ji Ping, die iranischen Mullahs, der türkische Präsident Erdoğan, Ungarns Orbán und Brasiliens Bolsonaro die Abneigung gegen liberale Ideen.
Ohne selbstkritische Erneuerung wird der Liberalismus deshalb nicht aus der Defensive kommen. Er muss erkennen, dass zur ursprünglichen "Freiheit von" inzwischen die "Freiheit zu" gehört, die ermöglichende Freiheit. Individuelle Freiheit hängt an staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, sie ist also nur als gemeinsame Freiheit realisierbar. Das gilt erst recht in modernen, hochkomplexen Gesellschaften. Sie ermöglichen eine immer stärkere soziale und kulturelle Ausdifferenzierung und individuelle Autonomie, zugleich aber wächst ihre Staatsbedürftigkeit. Ein zeitgemäßer Liberalismus kann sich nicht mit der Abwehr staatlichen Übergriffe zufriedengeben. Er muss den Staat und die Wechselbeziehungen zwischen kollektiven Regelungen und individueller Freiheit neu denken. Er darf das Bedürfnis nach Sicherheit und Gemeinsamkeit nicht der politischen Rechten, die soziale Gerechtigkeit nicht der Linken und die Ökologie nicht allein den Grünen überlassen. Liberalismus neu denken bedeutet, freiheitliche Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit zu finden.
Liberale sollten freiheitliche Antworten auf konservative Bedürfnisse finden. Dazu gehört ein soziales Sicherheitsnetz, das vor dem Absturz in dauerhafte Armut schützt, den ökonomischen Strukturwandel abfedert und die Selbstwirksamkeit der Einzelnen stärkt. Bildung und Weiterbildung sind die Voraussetzung für Sicherheit im Wandel, Gründern und Selbstständigen beim Start und bei der Finanzierung zu helfen, ebenso. Das Konzept "Fördern und Fordern" ist nicht überholt, nur weil es durch die Art und Weise, wie die "Agenda 2010" unter Kanzler Schröder durchgezogen wurde, in Misskredit geriet.
Die Industriegesellschaften müssen in einer historisch kurzen Frist klimaneutral werden. Die Versuchung, dies politisch vor allem durch Gebote und Verbote erreichen zu wollen, liegt nahe, die Begründung dafür auf der Hand: Die heutige Freiheit muss drastisch eingeschränkt werden, um die Freiheit künftiger Generationen zu sichern. Der Drift in den ökologischen Obrigkeitsstaat wäre aber nicht nur demokratiepolitisch fatal. Er ist auch untauglich, um den Klimawandel einzuhegen. Dafür braucht es liberale Stärken: ökologische Innovationen und Investitionen in großem Stil, die Internalisierung ökologischer Folgekosten in die Marktwirtschaft und einen sozialen Ausgleich für niedrigere Einkommensgruppen.
Das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die Achtung des Völkerrechts müssen im Zweifel auch mit Waffen verteidigt werden. Wehrhafte Demokratie nach innen und Wehrhaftigkeit nach außen sind zwei Seiten einer Medaille. Das anzuerkennen, fällt vielen Menschen schwer. Und doch sichert nur ein robuster Liberalismus unsere freiheitliche Lebensform und eine halbwegs friedliche Weltordnung. Zugleich müssen liberale Demokratien ihre Strahlkraft im Wettbewerb mit ihren autoritären Gegenspielern erneuern.
Skizze für einen neuen Liberalismus - Zeit
Kultur
Coverversion der Woche: Ken Boothe - You Keep Me Hangin’ On
Weil heute Florence Ballard, eine der Gründerinnen der Supremes, Geburtstag hat, fiel die Wahl auf einen Supremes-Song. Von Holland–Dozier–Holland geschrieben und komponiert, wurde er erstmals 1966 aufgenommen und erreichte Platz eins der Billboard Hot 100. In den ersten 32 Jahren der Billboard Hot 100 wurde "You Keep Me Hangin' On" einer von sechs Songs, die von denen zwei verschiedene Interpretationen diese Platzierung erreichten.
Es existieren unzählige Coverversionen. Die von Ken Boothe habe ich ausgewählt, weil mich seine Stimme berührt. Habe ihn einmal live gesehen und das als unglaubliches Erlebnis in Erinnerung. Daran, ob er das Lied damals auch gespielt hat, kann ich mich leider nicht mehr erinnern.
Epilog
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