Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #79
Prolog
Diese Woche ist mir wieder bewusst geworden, wie sehr die sozialen Medien von tatsächlich relevanten Themen ablenken, indem durch tagesaktuelle Empörung der Fokus auf Dinge gelenkt wird, die am nächsten Tag vergessen sind. Seien es nun dümmliche Äusserungen von Joe Kaeser über mitreisende Politiker oder ein Journalist, der Annalena Baerbock als “junge Dame” bezeichnet. Das ist doch alles wahnsinnig egal, wenn man dagegen Themen betrachtet, die tatsächlich Einfluß darauf haben, wie sich die Gesellschaft entwickelt. Letztere werden auch weiterhin in diesem Newsletter behandelt.
Dazu gehört zum Beispiel eine Bundesinnenministerin, die es nicht hinbekommt, Extremismus per se zu verurteilen, aber ohne Not im Jahr 2021 einen Gastbeitrag für die Publikation “Antifa” der “Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten” (Kurz VVN-BdA e.V.) geschrieben hat, welche vom bayerischem Verfassungsschutz als "bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus" eingestuft wird. Die Vereinigung wurde seit ihrer Gründung immer wieder und wird bis heute von mehreren Landesämtern des Verfassungsschutzes beobachtet.
Von 1948-2010 gab es in Faesers Partei, der SPD, einen Unvereinbarkeitsbeschluss bezüglich der VVN-BdA e.V. Nun folgten unglaubliche Relativierungsanstrengungen interessierter Kreise, die eine Doppelmoral offenbarten, welche ich in letzter Konsequenz für demokratiegefährdend halte. Wäre zum Beispiel herausgekommen, dass Horst Seehofer in der Vergangenheit einen Gastbeitrag für die Vereinszeitschrift einer vom Verfassungsschutz als größte rechtsextremistisch beeinflusste Organisation eingeschätzte Gruppe geschrieben hätte, gäbe es diese Diskussion nicht und er wäre längst nicht mehr im Amt.
Die berechtigte Forderung, Faeser möge sich von Linksextremismus distanzieren, vernimmt man auch aus rechten Kreisen. Ersuchen, Abstand zu Extremisten in den eigenen Reihen zu halten, bezeichnet man dort allerdings als "Distanzeritis". Doppelmoral gibt es eben nicht nur links der Mitte.
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Nun aber los.
Heute geht es unter anderem um die Vermischung von Aktivismus und Politik, Lagerdenken und Freiheit.
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Politik und Gesellschaft
Lernen konnte man diese Woche auch, dass es guten und schlechten Lobbyismus gibt. Außenministerin Baerbock beruft Jennifer Morgan, Chefin von “Greenpeace” als Staatssekretärin ins Auswärtige Amt. Sie soll dort Sonderbeauftragte für Klimafragen werden. Dafür wird sie zuerst eingebürgert und dann verbeamtet. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei Greenpeace um eine intransparente Lobbyorganisation handelt, die regelmäßig durch kriminelle Aktionen auffällt, ist das eine doch recht bizarre Personalie. Begrüßt wird diese Berufung hauptsächlich von denjenigen, die einen solchen Vorgang auf das Schärfste verurteilen würden, wenn es sich um eine ihnen nicht genehme Lobbygruppe handelte. Diese in negativer Hinsicht beeindruckende Moralflexibilität fällt nicht zum ersten Mal auf. In der gestrigen Regierungspressekonferenz wurde dazu keine einzige kritische Frage gestellt. Alexander Marguier hat sich in einem Artikel mit diesem aktuellen Trend der Vermischung von Aktivismus und Politik beschäftigt.
Seit Tagen werden in Deutschland Straßen und Autobahnauffahrten von sogenannten Aktivisten blockiert, die damit gegen Lebensmittelverschwendung im Besonderen und für den Klimaschutz im Allgemeinen protestieren wollen. Dass es sich dabei sehr eindeutig um Straftaten handeln dürfte – einschlägig ist Paragraph 315b im StGB – spielt im deutschen Rechtsstaat inzwischen aber keine große Rolle mehr. Ebenso wenig die Tatsache, dass die Mitglieder der Gruppe, die sich im schönsten Weltuntergangsjargon „Letzte Generation“ nennt, mit ihren Eingriffen in den Straßenverkehr Notfallambulanzen auf dem Weg ins Krankenhaus aufhalten oder eine Ärztin daran hindern, rechtzeitig zum OP-Termin zu gelangen. Ganz nach dem Motto: Wo gehobelt wird, da fallen eben auch Späne.
Wenn die Vorsitzende einer Regierungspartei, in diesem Fall Ricarda Lang von den Grünen, für derlei Verhalten auch noch Verständnis zeigt und somit implizit mutmaßliche Straftaten dieser und anderer Art befeuert, dann ist in der Bundesrepublik Deutschland endgültig etwas ins Rutschen geraten, das sich kaum noch aufhalten lassen dürfte. Und zwar der Durchmarsch sich selbst über dem Gesetz wähnender „Aktivisten“ an die Schaltstellen staatlicher Macht. Aus „Nichtregierungsorganisationen“ werden „Regierungsorganisationen“. So einfach geht das – aus jahrelanger staatlicher Alimentierung erwächst endlich die unmittelbare Regierungsverantwortung. Und zwar durch die kalte Küche.
Denn genau so und kein bisschen anders ist jene Personalie zu bewerten, […]: „Außenministerin Annalena Baerbock beruft Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan zur Sonderbeauftragten für internationale Klimapolitik. Die US-Amerikanerin braucht noch die deutsche Nationalität, bevor sie verbeamtet wird.“ Was sich so lapidar liest, ist tatsächlich ein Skandal erster Güte. Die in Berlin lebende 55-Jährige soll nämlich nicht nur für die internationale Klimapolitik der Bundesregierung verantwortlich werden, sondern künftig auch noch den Posten einer Staatssekretärin im Auswärtigen Amt bekleiden.
Nur zur Erinnerung: Erst im Mai vorigen Jahres haben Greenpeace-„Aktivisten“ im niedersächsischen Emden in einem Verladehafen mehrere hundert Schlüssel von Neuwagen der Marke VW „entwendet“, um diese später auf einem Gletscher in den bayerischen Alpen zu deponieren. Die Täter sprachen von einem „Signal“ gegen die „Klimazerstörung“, die Polizei hingegen von Hausfriedensbruch und besonders schwerem Diebstahl.
Was Greenpeace jedoch nicht davon abhielt, wenig später mit einer neuen Aktion auf sich aufmerksam zu machen, die nach übereinstimmender Meinung sämtlicher Beobachter Menschenleben massiv in Gefahr brachte: Während der Fußball-Europameisterschaft im Juni flog ein Greenpeace-„Aktivist“ mit einem Motorgleitschirm über die Münchener Allianz-Arena, in die er aus luftiger Höhe einen mit Parolen beschrifteten Latex-Ball abwerfen wollte. Er verfing sich jedoch im Blitzableiter, verlor die Kontrolle und wäre um Haaresbreite auf die Tribüne gestürzt. Zwei Menschen wurden verletzt, der damalige Sprecher der Bundesregierung zeigte sich entsetzt über „eine unverantwortliche Aktion, die Menschen in große Gefahr gebracht hat“ – und es entbrannte eine Debatte darüber, ob Greenpeace die Gemeinnützigkeit entzogen werden solle.
Doch statt eines Entzugs der Gemeinnützigkeit darf Greenpeace nun mit seinem Spitzenpersonal direkt ins Auswärtige Amt einmarschieren und wohl bald auch am Kabinettstisch Platz nehmen. Da sage noch jemand, Gewalt führe nicht weiter und mit krimineller Energie erreiche man seine Ziele nicht. In Deutschland ist mittlerweile alles möglich, und wo der Staat sich wehrhaft zeigen müsste, bietet er sich als Beihelfer an. Was das für das Rechtsempfinden der Bevölkerung bedeutet, darüber braucht gar nicht groß spekuliert zu werden. Von heute an gilt: Solange Straftaten und Ordnungswidrigkeiten mit hehren moralischen oder ökologischen Zielen verbrämt werden können, ist alles erlaubt.
Der Rechtsstaat geht vor die Hunde - Cicero
Einen wunderbaren Essay über Lagerdenken, das ich seit der ersten Ausgabe kritisiere, hat Sven Hillenkamp in der “Zeit” geschrieben.
Wir meinen, rational und souverän zu urteilen, zu den Themen Einwanderung, Abtreibung, Vermögenssteuer, Kohleausstieg und zu hunderten anderen. Und dann stellen wir fest, dass fast alle unserer Urteile wie durch ein Wunder mit den Positionen unserer sozialen Umwelt, unserer ideologischen Gruppe übereinstimmen.
Meist stellen wir die eigene Gruppenzugehörigkeit nicht nur nicht infrage, wir halten sie sogar für das Glanzstück unserer Rationalität. "Weil mein überlegenes Urteilsvermögen mich in all diesen verschiedenen politischen Angelegenheiten zu all diesen Schlüssen hat kommen lassen, bin ich jetzt liberal/ konservativ/ links."
Wenn ich von mir sage: "Ich habe immer recht, ich täusche mich nie, ich verdränge nichts", wird man mich mit Recht für einen Psychopathen oder einen Schwachsinnigen halten. Dennoch ist der gleiche Mangel an Selbstreflexion noch immer selbstverständlich, wenn ich vom politischen Lager spreche, dem ich angehöre: "Meine Gruppe liegt überall richtig." Anstatt davon auszugehen, dass auch die Wortführer meiner Gruppe sich in manchen Fällen irren, von Vorurteilen behaftet sind, von Tabus beschränkt in Wahrnehmung und Denken, dass sie das eine übertreiben und das andere verleugnen, dass auch ihnen Verantwortungslosigkeiten nicht fremd sind.
Ein faszinierendes Paradox: Wie glücklich man sein kann, während man irrt. Wie widersprüchlich und wirklichkeitsfern eine Ideologie auch sein mag, sie ist in der Lage, wirkliche menschliche Bande zu erzeugen, ein sehr wirkliches Glück. In dem Paradox steckt die halbe Menschheitsgeschichte: Aus Religionen sind Lebensformen und Weltreiche entstanden; der Antisemitismus der Nazis – neben vielem anderen auch ein Irrtum, eine Unfähigkeit, das Zutreffende zu erkennen, das Irrige zu falsifizieren – hatte die weitgehende Vernichtung der europäischen Juden zur Folge. Halten viele etwas für wirklich, verändert sich die Wirklichkeit. Glaube versetzt nicht Berge, er erschafft sie.
Als ich der radikalen Linken den Rücken kehrte, glaubte ich, dass die Diskurse unserer "autonomen Infoläden" mit dem Abschluss des Jahrtausends verklingen würden. Nie hätte ich gedacht, dass es diese Ideen fünfundzwanzig Jahre später in Kanada und den USA auf die große Bühne der Kolumnen von New York Times und Washington Post, der Kommentare des neuen – streng nach ideologischen Gruppen sortierten – Meinungsfernsehens von CNN, MSNBC und Fox News sowie unzähliger Podcasts und YouTube-Kanäle mit Millionen von Zuschauern schaffen würden. Und von dort schließlich ein zweites Mal nach Europa, jetzt im großen Stil.
Noch immer entscheidet die Gruppenzugehörigkeit darüber, was wir zur Kenntnis oder nicht zur Kenntnis nehmen. Unter den Menschen, die sich wahrhaftig für die ökologische Krise interessieren, in dieses Wissen "eintauchen" und auf die Zerstörung der Ökosysteme und den Klimawandel auf eine Weise emotional reagieren, die für Handeln unabdingbar ist (wie man auf die Verfolgung der Juden und das Verfolgen der "Häretiker" im Kommunismus hätte reagieren müssen), sind so gut wie keine Konservativen und Liberalen. Auch nur wenige Sozialdemokraten. Und unter den Menschen, die die Probleme nicht kleinreden, die mit der Einwanderung verbunden sind – darunter existenzielle Gefahren für die liberale, säkulare Demokratie –, sind fast keine Linken. Für alle, Konservative, Liberale, Linke, gilt der Sperber-Satz: "Sie wussten ganz genau, was zu wissen sie entschieden ablehnten."
Ich behaupte nicht, in allen diesen Fragen die Antworten (oder die politischen Lösungen) zu kennen. Ich beobachte nur, dass die meisten Menschen gar nicht erst gründlich untersuchen, was ihrer Gruppenidentität gefährlich werden könnte. Niemand, so scheint es, soll über sie sagen können, sie gehörten zur anderen Seite, seien keine echten Linken, sondern "rassistisch" oder "rechts", keine echten Konservativen oder Liberalen, sondern "links" oder "grün".
Das zweite Axiom der politischen Praxis sollte lauten: Trau niemandem, der nicht auch die eigene Seite kritisiert. Und damit meine ich nicht Kritik an der fehlenden Konsequenz und Radikalität der eigenen Seite. Ich meine eine Kritik an den spezifischen Überschreitungen und Blindheiten der eigenen Seite, jene Kritik, die gewöhnlich nur von der anderen Seite geäußert wird.
Aller Irrsinn unserer Zeit rührt daher, dass Konservative sich nicht Konservativen in den Weg stellen, Linke nicht Linken, Liberale nicht Liberalen, wo Bedrohungen der Zivilisation nicht zur Kenntnis genommen werden, wo Illiberalismen die Meinungsfreiheit und die Demokratie gefährden, wo man sich für ein Wissen, das einem nicht nutzt, nicht interessiert.
Alle Lager liegen falsch - Zeit
Zum Ende der Rubrik diesmal Hörenswertes.
Über die Impfpflicht und andere Begrenzungen durch die Corona-Pandemie wird in Deutschland mitunter heftig diskutiert. In dieser siebten Folge des Weltethos-Podcast spricht daher Dr. Christopher Gohl vom Weltethos-Institut mit den beiden Philosophen Prof. Sabine Doering und Prof. Claus Dierksmeier über Freiheit, Verantwortungen und Zumutungen – und die Frage, ob Freiheit eigentlich Glück oder eben Mühsal verheißt.
Freiheit – Mühsal und zugleich Glück! - Weltethos Podcast
Er schreibt Romane und urteilt über "Schlappschwanzliteratur". Im unendlichen Podcast spricht Maxim Biller über Polemik, sein verbotenes Buch "Esra" und die FDP.
Maxim Biller, warum suchen Sie Streit? - Alles Gesagt
Kultur
Die Leipziger Buchmesse wird zum dritten Mal in Folge nicht stattfinden. Das teilten die Veranstalter gestern mit.
Jetzt sprach Oliver Zille von personellen Engpässen bei vielen Ausstellern, bedingt durch „die volatile pandemische Lage“. Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, nennt die Absage einen schweren Schlag für die Branche: „Die Messe wäre für das Buch und alle, die dafür und davon leben, sehr wichtig gewesen.“ Aufgrund der kurzen Vorlaufzeit kann nach Angaben der Messe Leipzig in diesem Jahr kein digitales Alternativprogramm umgesetzt werden.
Zum Beginn der Corona-Pandemie 2020 war die Leipziger Buchmesse eine der ersten großen Messen in Deutschland gewesen, die abgesagt worden war. Voriges Jahr hatten sie die Veranstalter in den wärmeren Mai verlegen wollen, doch auch dieser Termin ließ sich nicht halten. Die Leipziger Buchmesse 2023 ist für die Zeit vom 23. bis 26. März geplant.
Ein schwerer Schlag für die Buchbranche - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Coverversion der Woche: Lynn Taitt & The Jets - Soul Food
Vor drei Tagen hatte King Curtis Geburtstag. Seine Songs wurden vielfach neu interpretiert. Im vorliegenden Stück wird der Sound des Labels Stax Records in Form eines Kochrezepts beschrieben, wobei jedes Instrument von Curtis vorgestellt wird. Dazu gehören "fette Trommeln", "eine Prise Orgel" und "ein halbes Pint Hörner". Die ursprüngliche Studioversion wurde 1967 als Single bei Atco Records veröffentlicht und wurde zu einem Top-50-Hit. Die Live-Version, welche 1971 kurz vor Curtis Tod im Fillmore West aufgenommen wurde, wurde auf dem Live-Album “Live at Fillmore West” veröffentlicht. Lynn Taitt hat dieses Konzept 1968 in einer Ska/Rock Steady-Version verarbeitet.
Epilog
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