Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #43
Die Spargelsaison ist eröffnet und ich freue mich schon auf meine Lieblingskombination mit Kartoffeln, geräuchertem Schinken und zerlassener Butter, die ich bereits als Kind liebte. Erst spät wurde ich der Tatsache gewahr, dass es tatsächlich Menschen gibt, die den wunderbaren Eigengeschmack des Spargels mit Sauce Hollandaise übertünchen und dazu ein paniertes Schweineschnitzel essen. Das hat meine liberalen Überzeugungen auf eine harte Probe gestellt und ich kam zu dem Ergebnis, dass Intoleranz in diesem Fall nicht nur völlig in Ordnung, sondern sogar geboten ist. In Anbetracht dessen, dass seit einiger Zeit manche FDP-Mitglieder eindeutig illiberale Positionen als liberal zu framen versuchen, ist das allerdings harmlos. Man kann nur hoffen, dass diese Splittergruppen weiterhin solche bleiben. Beim Thema Spargel fällt mir natürlich auch sofort die Geschichte ein, dass Iggy Pop einmal mit Florian Schneider-Esleben und Ralf Hütter, also Kraftwerk, auf dem Markt Spargel kaufte. Einer der Gründe, warum eine Zeitmaschine manchmal wirklich praktisch wäre.
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Nun aber los.
Heute geht es unter Anderem um Populismus, die freie Gesellschaft und Generationenkonflikte.
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Politik und Gesellschaft
Michael Esfeld hat in einem Artikel anhand des Philosophen Karl Popper und seiner Thesen einen Zusammenhang mit derzeitigen Bedrohungen für die freie Gesellschaft aufgezeigt.
Die heutigen Feinde der offenen Gesellschaft tun dies genauso wie diejenigen, die Popper kritisiert: Man setzt bestimmte Werte absolut, wie Gesundheitsschutz oder Klimaschutz. Eine Allianz aus Experten und Politikern nimmt für sich in Anspruch, das Wissen zu haben, wie man das gesellschaftliche bis hin zum familiären und individuellen Leben steuern muss, um diese Werte zu sichern. Wiederum geht es um ein höheres gesellschaftliches Gut – Gesundheitsschutz, Lebensbedingungen zukünftiger Generationen –, hinter dem individuelle Menschenwürde und Grundrechte ihre Gültigkeit verlieren.
Die Weichenstellung, vor der wir stehen, ist somit die zwischen einer offenen Gesellschaft, die jeden bedingungslos als Person anerkennt, und einer geschlossenen Gesellschaft, zu deren sozialem Leben man Zutritt erhält durch ein Zertifikat, dessen Bedingungen bestimmte Experten definieren, wie einst die Philosophenkönige Platons. Genau wie Letztgenannte, deren Wissensansprüche von Popper entlarvt wurden, haben auch ihre heutigen Nachfahren kein Wissen, das sie in die Position versetzen würde, solche Bedingungen ohne Willkür festzusetzen.
Dagegen kann man nur mit einem substanziellen Menschenbild angehen, das auf Freiheit, Menschenwürde und Grundrechten basiert, die bedingungslos gelten. Das ist das Fundament der offenen Gesellschaft im Sinne Poppers. Von diesem Fundament aus kann man Externalitäten eingrenzen in Form konkreter und signifikanter Schädigungen der Freiheit anderer, welche dann in der Tat äussere Eingriffe in die Lebensführung von Personen rechtfertigen. Verlässt man diese Grundlage hingegen, wird grosser Schaden für die allermeisten angerichtet und Nutzen nur für die Elite derjenigen, welche von den Bedingungen profitieren, die den Zutritt zur geschlossenen Gesellschaft regeln.
Populismus gibt es nicht nur von Rechts. Das hat erneut der Youtuber Rezo bewiesen, den man vor Allem wegen der vielen Fehler in seiner angeblichen “Zerstörung der CDU” kennt. Nun hat er sich in seinem üblichen Stil aus Jugend-/ und Gossensprache in einem neuen Video mit der Coronapolitik auseinandergesetzt. Der Applaus seiner Fans war ihm sicher. Mich erinnerte das Filmchen und die Begeisterung darüber an meine Schulzeit. Es gab immer einen Schüler, der am Ende der Stunde noch einmal alle bisherigen Erkenntnisse wiederholte und dafür ohne eigene Denkleistung eine Eins bekam. Aber auch andere wunderten sich über den tosenden Applaus. Zu diesen gehörte auch Florian Sädler, der sich in einem Artikel mit diesem neuen Machwerk auseinandersetzte.
Zuerst geht es Horst Seehofer an den Kragen: Dessen irritierende Begründung fürs Keine-Impfung-Wollen, er lasse sich „nicht bevormunden“, ist für Rezo schlicht „menschenfeindlich“. So weit, so gut. Aber dann fragt er seine Zuschauer, ob Seehofer vielleicht „beschissen im Kopf“ ist, bevor er den CSU-Innenminister persönlich anschreit: „Bist du scheiße im Kopf?“ Solche Sätze gelten anderswo im Internet als „Hatespeech“. Allerdings offenbar nicht bei Rezo, denn der, wie ein Zuschauer in den Kommentaren mit „Respekt“ anmerkt, zeige ja „uns jungen Kids“, was „da oben abgeht“.
Wenn sich junge Menschen so ihre Meinung bilden lassen, statt sich eine Meinung zu bilden, ist das ein Problem. Denn auch Rezos neuestes Video wird durch die Hintertür mit jeder Minute mehr zu dem, was auch seine bisherigen Kassenschlager – „Die Zerstörung der CDU“ und „Die Zerstörung der Presse“ – schon waren: einem tendenziösen, teils faktenfremden Verriss von allem, was nicht links, grün, woke und bei drei auf den Bäumen ist.
Ginge es Rezo wirklich um die knallharte Eindämmung der Infektionszahlen, böte auch der Grüne Boris Palmer mit seinem Tübinger Öffnungs-Modellprojekt Angriffsfläche. Ginge es ihm darum, dass Politiker nicht auf Wissenschaft hören, hätte er auch den linken Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow brandmarken müssen, der im Herbst trotz Warnungen selbsterklärtermaßen von der zweiten Infektionswelle überrascht wurde. In Niedersachsen hat SPD-Mann Stephan Weil Öffnungspläne verteidigt.
Eingeschlagen wird aber nur auf Politiker der Union. Die hat sich manche Häme zwar verdient – Rezos Einseitigkeit lässt aber vermuten, dass er die Fehlgriffe instrumentalisiert, um damit eine allgemeinere politische Agenda zu pushen.
Schwer vorstellbar, dass Rezo oder jene Zuschauer, die „die da oben“ in den Kommentaren als „respektlose Dreckssäcke“, „alle unfähig“ oder „Sexisten“ beleidigen, den Job besser machen würden. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, was in der Corona-Krise alles falsch läuft. Das auf Kosten der Diskussionskultur mit Instrumentalisierung und Stimmungsmache gegen missliebige Parteien zu tun, befeuert nur andere Missstände.
Rezo kann den Populismus nicht lassen - Welt
Konstantin Kuhle, mit dem ich oft nicht übereinstimme, hat auf dem “Verfassungsblog”, den ich aufgrund seiner suggerierten, aber tatsächlich nicht vorhandenen politischen Neutralität kritisch sehe, eine Abhandlung über das Verhältnis von Verfassungsrechtswissenschaft und Politik geschrieben, die einige bedenkenswerte Punkte enthält.
Über die Corona-Pandemie hinaus sollte sich das Parlament allerdings fragen, ob die Art, wie formelle Anhörungen durchgeführt werden, das Potential an Qualitätsverbesserungen, das im Dialog mit der Wissenschaft steckt, wirklich ausschöpft. Es ist schade, wenn die Fragen zwischen Parlamentariern und Wissenschaftlern während einer Expertenanhörung bis ins letzte Detail abgesprochen sind. Auch die Unart, ausschließlich die eigenen Sachverständigen zu befragen, ohne auf die Argumente der anderen Gäste einzugehen, lässt den politischen Betrieb nicht als offen für wissenschaftliche Expertise erscheinen. Die steifen Regeln zu Anzahl und Dauer der Fragen tun ihr Übriges. Eine offenere und lebhaftere Debatte würde den Anhörungen gut zu Gesicht stehen. Sie sollte auch über die formelle Einbindung der Wissenschaft hinaus das Ziel sein.
Findet zwischen Politik und Verfassungsrechtswissenschaft eine solche offene und lebhafte Debatte statt, so nähern sich zwangsläufig auch die kommunikativen Codes beider Welten an. Eine breite rechts- oder verfassungspolitische Debatte an der Schnittstelle von Politik und Verfassungsrechtswissenschaft ist niemals rein politisch und niemals rein wissenschaftlich. Deswegen müssen politische Akteure es schlichtweg ertragen, wenn ihnen aus den Reihen der Verfassungsrechtswissenschaft unsauberes Arbeiten vorgeworfen wird. Wenn Parlamentarier einzelne Wissenschaftlerinnen in die Nähe des parlamentarischen Rechtspopulismus rücken, weil diese im Zusammenhang mit einer Novelle des Infektionsschutzgesetzes auf die Unzulänglichkeiten des Koalitionsentwurfs hinweisen, ist das kein guter Stil.
Umgekehrt muss es die Verfassungsrechtswissenschaft aber auch ertragen, wenn sich die Politik bewusst gegen eine wissenschaftliche Expertise entscheidet und dass jeder einzelne Parlamentarier nicht nur einer Handvoll ausgesuchter Experten gegenüber rechenschaftspflichtig ist, sondern auch einer Vielzahl anderer Akteure – von Menschen aus dem eigenen Wahlkreis, über die Fraktion und die Parteibasis bis hin zur medialen Öffentlichkeit. Wenn im Wahljahr 2021 mitunter davor gewarnt wird, der Wahlkampf erschwere die gesellschaftliche Debatte über den richtigen Weg zur Bekämpfung der Pandemie, kann die Politik Schützenhilfe aus der Verfassungsrechtswissenschaft gut gebrauchen. Sie könnte die besondere Rolle des Parlaments als Schnittstelle zwischen der Bevölkerung und der Staatssphäre und als Quelle demokratischer Legitimation staatlicher Maßnahmen herausstellen.
Die zurückliegenden Äußerungen von Wolfgang Thierse und die Diskussion um das Interview von Meghan Markle und Prinz Harry haben mehr miteinander zu tun, als es den Anschein macht. Julien Reitzenstein erklärt, warum.
Jeder weiß, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was jemand mit einer Äußerung meint und dem, wie es von anderen empfunden werden kann. Insofern scheint das Interview in weiten Strecken banal. Ebenso ist klar, dass Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt freiwillig in bestimmte soziale Strukturen verlegen, nicht erwarten können, dass sich diese Strukturen ihretwegen radikal verändern werden. Vielmehr wird in diesen Strukturen die Anpassung der neu Hinzugekommenen erwartet.
Wer beispielsweise in eine bekannte Mafia-Familie heiratet, wird andere Regeln des Zusammenlebens erwarten müssen als in einer Sozialpädagogenfamilie. Ein Einheiraten in eine strenggläubige Mullah-Familie Irans zieht ein anderes Familienleben nach sich, als in eine liberale Nudistenfamilie. Kurzum: Es ist wenig glaubhaft, dass jemand vor der Einheirat in die bekannteste Familie der Welt nie von den dortigen Protokollerfordernissen und Pflichten gehört hat. Der Herzog wäre ein Schuft, hätte er seiner Braut erst nach der Hochzeit davon berichtet.
Die Empörung der Herzogin wirkt ehrlich und auch richtig. Jedenfalls wenn man in Betracht zieht, dass sie ein Kind ihrer Generation in einer westlichen Gesellschaft ist. Denn zweifelsfrei ist sie kein Kind der Generation ihres Schwiegervaters, des Fürsten von Wales und der von Wolfgang Thierse. Deren Generation wurde erzogen von Menschen, die ein anderes Verständnis von Gemeinwohl hatten. Pflichtgefühl, Selbstaufopferung und Zurückstellen individueller Bedürfnisse waren in jener und den vorgehenden Generationen nicht nur common sense. Sie waren überlebenswichtig.
Denn immer mehr Menschen lernen – und werden zunehmend fleißig belehrt – dass ihre individuellen Wohlfühlbedürfnisse der einzige relevante Bewertungsmaßstab sind. Zusammenhänge, Antizipation, Toleranz und Verständnis sind bei dieser Lebensphilosophie nur hinderlich. Förderlich für das Wohlbefinden ist hingegen die Empörung über die zu ertragenden Zumutungen für sich selbst oder jene Gruppen, die man patronisiert.
Viele identitätspolitische Aktivisten fordern awareness und Sensibilität für sich und für die von ihnen patronisierten Gruppen ein. Das ist berechtigt. Doch es gehört zum Anstand, dies auch für andere aufzubringen – sogar, wenn sie die eigene Meinung nicht teilen. Zudem gehört es zum demokratischen Prozess – und nichts anderes ist das Neuverhandeln von Macht- und Aufmerksamkeitspositionen - durch Austausch von Argumenten Situationen zu verändern. Dazu gehören aber die Fähigkeit zuzuhören, zu antizipieren und auch nachgeben zu können. Und das Zurückstellen von Individualbedürfnissen, wenn es um den Erhalt des Verbindenden geht.
Die Generation der Herzogin von Sussex ist die zukünftige Mitte der Gesellschaft. Ihr kommt es zu, überkommene Privilegien zu kritisieren, Neuerungen zu fordern und sich über Ungerechtigkeiten zu empören. Aber dazu bedarf es der Empathie mit der Generation Pflichterfüllung und ihren Erfahrungswerten, die eben nicht allein Verteidiger von Privilegien sind. Das gelingt nur, wenn die Generation Meghan bereit ist, eigenes Handeln zu hinterfragen – im Dialog mit der Generation Thierse. Die Einigkeit über die bereichernde Vielfalt eines jeden und die Gleichheit vor dem Gesetz verbinden.
Was Herzogin Meghan und Wolfgang Thierse trennt - Cicero
Gern möchte ich noch auf zwei Highlights hinweisen. Da wäre einmal das Gespräch von Richard David Precht mit Wolfgang Kubicki unter dem Titel “Was darf der Staat? Grenzen der Freiheit”.
Desweiteren hörenswert ist ein Interview mit der Philosophin Maria-Sibylla Lotter im Deutschlandfunk über die Stolpersteine in moralisch aufgeladenen Debatten.
Philosophin: „Es haben sich ganz neue moralische Codes ergeben“ - Deutschlandfunk
Kultur
Coverversion der Woche: The Brand New Heavies - Midnight At The Oasis
Das Stück wurde 1973 von David Nichtern geschrieben und erschien 1974 auf dem selbstbetitelten Album von Maria Muldaur. Die Coverversion der Brand New Heavies ist deutlich cluborientierter und grooviger als ätherische Orginalversion. Mir gefallen beide und seit ich mich kürzlich wieder über die Brand New Heavies unterhielt, höre ich verstärkt Acid Jazz und Artverwandtes. Das ist auch ein Flashback in die Jugend, denn damals begann meine bis heute andauernde Leidenschaft für solche Musik.