Prolog
Dass die Zeiten sich ändern, merkt man auch daran, dass Selbstverständlichkeiten keine mehr sind. In Debatten belächelte man sogenannte Binsenweisheiten, also Dinge, die ohnehin jedem Teilnehmer bekannt waren, als überflüssig. Heute macht man immer wieder die Erfahrung, dass Allgemeinwissen und gesellschaftliche Übereinkünfte eben nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Dazu gehört grundlegende politische Bildung, inklusive eines Verständnisses der Funktionsweise des Staates.
Jüngere Menschen beziehen ihre Informationen oft ausschließlich über polemische Kacheln in Onlinenetzwerken, die einem Thema nie gerecht werden. Nicht nur, weil die meisten Themen nicht in wenigen Sätzen in den Griff zu bekommen sind. Oft geht es den Verfassern in erster Linie um schnelle Bestätigung durch Klicks, Likes und zustimmende Kommentare. Dem seriösen Diskurs, in dem zunehmend Lautstärke und Überspitzung dominieren, ist das nicht zuträglich. So wird die gesellschaftliche Spaltung vorangetrieben. Deshalb ist so etwas abzulehnen, egal aus welcher Richtung es kommt.
Noch dramatischer, als um sich greifende Ahnungslosigkeit, ist die Ablehnung demokratisch-rechtsstaatlicher Standards, sofern sie mit dem eigenen Weltbild kollidieren. Wenn es - wie so oft in den letzten Jahren - um Meinungsäußerungsfreiheit geht, entsteht der zum Beispiel Eindruck, dass inzwischen jede Position unter Verdacht gerät und skandalisiert wird, die sich nicht dezidiert links der Mitte befindet. Dass dies der Meinung der Mehrheit der Bevölkerung nicht entspricht und es selbstverständlich auch rechts der Mitte legitime Positionen gibt, wird dabei entweder nicht gesehen oder bewusst abgelehnt.
Auch nachweislich unzutreffende Behauptungen wie die, es gebe keinen Sexismus gegenüber Männern oder keinen Rassismus gegenüber Weißen, die früher mit lautem Gelächter , aber ganz bestimmt nicht mit einer näheren Befassung quittiert worden wären, können immer häufiger unwidersprochen geäußert werden. Die lautesten Meinungs-Ultras verfügen bezüglich der Themen, zu denen sie sich äußern, oft nicht einmal über Basiswissen. Man fragt sich, ob es bei diesen Personen auch manchmal Momente des Innehaltens gibt, in denen sie sich die Frage stellen, ob diese Art des Zündelns wirklich eine gute Idee ist.
Wer unvoreingenommen seinen Alltag absolviert weiss, dass die Welt nicht so ist, wie in linken und rechten Parallelwelten behauptet wird. Gespräche mit Menschen, die völlig anders denken und leben als man selbst, verhindern ein Verlernen differenzierten Denkens.
In diesen Themenbereich gehört auch die Selbstinszenierung mancher Journalisten in den sozialen Medien. Jahrzehntelang herrschte Einigkeit darüber, dass der Journalist hinter das Thema zurücktritt. Heute stellen sich viele nicht nur in Reportagen in den Vordergrund, sondern präsentieren sich auf ihren Accounts wie Influencer. Dazu würde mich Ihre Meinung interessieren.
Zur letzten Umfrage: Die Mehrheit der Leser wünscht sich die Rubrik “Coverversion der Woche” zurück. Das freut mich zu lesen. Ab heute wird sie wieder Teil des Newsletters sein.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Aktivismus, Bürokratie und Konsens.
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Politik und Gesellschaft
Das Selfie-Boot, mit dem eine Gruppe Aktivisten - inklusive Greta Thunberg - fotogen gen Gaza schipperte, wurde am frühen Morgen von der israelischen Marine gestoppt, die boat people mit Wasser und Sandwiches versorgt. Wenn der Magen knurrt, sieht man das mit dem Israel-Boykott nicht mehr so eng. Entschuldigen Sie die Polemik, aber diese Aktion, an der auch bekannte Antisemiten beteiligt waren, ist Realsatire. Dazu passt auch das engagierte Twittern von Luisa Neubauer, die sich im Herbst noch von israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen bei Fridays for Future distanziert hatte. Schon damals war mir klar, dass dieser Schritt hauptsächlich taktisch motiviert war. An Tweets, in denen sie ebenso engagiert die Freilassung der in der Gewalt der Hamas befindlichen israelischen Geiseln, welche den Krieg sofort beenden würde, kann ich mich nicht erinnern. Ebensowenig an einen diesbezüglichen offenen Brief von Prominenten, die kürzlich eine Umkehr in der deutschen Israel-Politik forderten.
Es ist diese entlarvende Einseitigkeit, die mich an der gesamten Debatte stört. Eine differenzierte Diskussion zu diesem Thema war schon immer schwierig, weil die Positionen auf beiden Seiten verhärtet sind, Maximalforderungen überwiegen. Solche Projekte tragen nicht zu einer Lösung bei und sind dafür auch gar nicht gedacht. Den Akteuren geht es einzig und allein darum, ihre Haltung als die einzig Akzeptable darzustellen. Es ist ein Kampf um Deutungshoheit, der mit allen Mitteln geführt wird. Bei den Segelnden handelt es sich um Fanatiker. Das wird klar, wenn man die Beteiligten recherchiert.
Über diese Einseitigkeit bezüglich Thunberg hat die “Zeit” einen lesenswerten Artikel veröffentlicht.
Die heutige Pro-Palästina-Aktivistin in Richtung der einstigen Klimaaktivistin aufzuwerten, dafür war, ist und bleibt ihr Engagement in dieser Richtung zu krude und eben zu einseitig. Als man sich nach dem Hamas-Terror am 7. Oktober 2023 noch fragte, ob das Schweigen vieler Linker nun dem Entsetzen über den Terror oder eben doch Ressentiments gegen Israel geschuldet war, postete Thunberg bereits harsche Kritik, aber an Israel, und widmete ihren Klimastreik der "Solidarität mit Gaza" – sehr zum Missfallen großer Teile der Klimabewegung. In den Jahren darauf demonstrierte sie – unter anderem in Deutschland – immer wieder ohne erkennbare Berührungsängste mit Israelhassern, und auch in der aktuellen Situation ist sie weiß Gott nicht diejenige, die in ihrem Aktivismus irgendeine Form von humanistischer Umsicht walten lässt, die auch Israel und seine Bevölkerung einbezieht.
Nur Thunberg versteigt sich in ihrem kurzen Statement zu etwas, was nach Verschwörungserzählung klingt: Die "gleichen Mächte", die gerade Gaza auslöschen, seien demnach auch dabei, die Luft zu verschmutzen, die Erde auszubeuten und die Menschheit ihrer Zukunft zu berauben. Kurz: Israel und seine Alliierten vernichten ihrer Meinung nach nicht nur die Palästinenser, sondern gleich den ganzen Planeten.
Die entscheidende Frage hier ist aber: Wie egal können einem Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus sein, um den Staat Israel rhetorisch in Zusammenhang zu bringen mit nicht näher apostrophierten "Mächten", die die Welt vernichten wollen?
Überhaupt taugt Greta Thunberg seit 2023 nicht mehr als Vorbild in Kinderbüchern und auch sonst kaum als Idol, (bitte) nicht einmal in der palästinasolidarischen Szene. Sie taugt aber als Orientierungspunkt, wenn es nun wieder verstärkt und unter in Teilen veränderten Vorzeichen darum geht, wann genau berechtigte Kritik am Staat Israel in plumpen Antisemitismus umkippt.
Wenn die IHRA-Definition einräumt, dass "Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden" kann, dann hat sich Thunberg wenig Mühe gegeben, das Kriterium zu treffen. Seit anderthalb Jahren kritisiert sie geopolitisch schließlich mit größter Ausschließlichkeit: Israel.
Nur, weil man kein Antisemit ist, heißt das demnach noch lange nicht, keinen unlauteren intellektuellen Methoden zu fröhnen. Sich "doppelter Standards" zu bedienen, einerseits in Bezug auf israelische und palästinensische Opfer des Konflikts, aber auch in Bezug auf Israel und andere Aggressoren in der Welt, bleibt schließlich auch nach dieser Definition "unvernünftig". Die Rehabilitation von Greta Thunberg, deren Engagement für das Klima einst so verzweifelt wie vernünftig war, misslingt also nach beiden Erklärungen.
Pauschales EU-Bashing ist abzulehnen, die oft übergriffige EU-Gesetzgebung und undemokratische Strukturen müssen dagegen sogar kritisiert werden. Grundsätzlich ist gegen einen Blick von aussen nichts einzuwenden. Oft ist er klarer, die Einschätzungen treffender. Die sowohl überbordende als auch in Teilen dysfunktionale Bürokratie in Deutschland ist ein wachsendes Problem, auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland an sich. Hinweise darauf werden hierzulande von interessierten Kreisen gern als übertrieben oder sogar problematisch diskreditiert. Nun hat das “Wall Street Journal” dem Thema einen Artikel gewidmet.
Germany’s economy has barely grown for the past five years. The new government wants to change that by spending one trillion euros on defense and infrastructure in the next decade. But economists warn the stimulus could be wasted without a crucial step that costs nothing: Rid the economy of the red tape that is smothering growth and discouraging investment.
“We urgently need to decide where obstructive, paralyzing rules should be abolished and which need amending,” said Veronika Grimm, one of five economists who advise the government on economic policy. The group flagged bureaucracy as a key hindrance to growth in their yearly report in May. “That’s a very labor-intensive task that I don’t think the government has on its radar yet.”
Countries such as France and Denmark have made strides recently to cut red tape, largely by digitizing administrative procedures. Germany, however, stands out as a rare nation where the burden has increased over time—despite parliament passing several anti-bureaucracy laws. Employees in Germany spent 1.02 billion work hours fulfilling state-mandated bureaucratic tasks last year, according to the Federal Statistics Office, a steady increase over the past decade.
Bureaucracy—from documenting adherence to social, data privacy, environmental, health or safety rules to applying for permits and undergoing mandatory inspections—costs German businesses €146 billion a year, according to a recent estimate by the Ifo Institute, with smaller companies bearing an overproportional share of the burden.
Rules tend to accumulate, with new ones arising faster than older ones are abolished. Using a commercial legal database, Stefan Wagner, professor of technology and innovation management at Vienna University, found that the volume of economic, financial and tax legislation had roughly doubled in Germany since 2009. His study, developed in cooperation with the European School of Management and Technology in Berlin, showed laws have also become longer and more detailed.
A survey released in May showed nearly 90% of German executives thought that reducing bureaucracy was far more urgent than cutting taxes or energy prices. Only 10% said Germany was welcoming for business, far behind the U.S., China, France, India and Vietnam, according to the poll by the Forsa polling group.
A group of large institutional Swedish investors who visited Berlin this week said Germany had become an unappealing target for acquisitions and direct investment from Sweden because it is perceived as being too expensive and overregulated.
The Soul-Sapping Grind of Doing Business in Bureaucratic Germany - The Wall Street Journal
Bis heute gibt es in Deutschland keinen antitotalitären Konsens. Das ist immer wieder zu beobachten, wenn wieder einmal - wider alle Fakten - versucht wird, Rechtsextremismus als die größte und einzige Gefahr für die Demokratie zu rahmen. Geht es um Linksextremismus, hört und liest man immer noch regelmäßig die zigfach widerlegte Behauptung, linke Gewalt richte sich nur gegen Sachen und sei deshalb weniger schlimm. Millionen Tote durch linke Ideologien werden dabei einfach ignoriert. Selbst die 33 (Nach anderer Zählweise 34.) Todesopfer der RAF werden regelmäßig verschwiegen. Nun spielt sich seit einiger Zeit eine Posse besonderer Art ab, die fassungslos macht. In einer Zeit, in der Gudrun Ensslin vom Bundespräsidenten zu einer großen Person der Zeitgeschichte verklärt wird, dürfte das eigentlich nicht wundern.
Obwohl die (längst nicht mehr flugfähige) ehemalige „Landshut“ (Seriennummer 20254) im Mai 2017 für den Schrottwert von gerade einmal 20.000 Euro gekauft und vier Monate später nach Deutschland zurückgebracht werden konnte, gibt es bis heute keine Präsentation. Zwar wurde die Gründung eines „Lernortes ,Landshut‘“ in Friedrichshafen versprochen – doch rund zwei Jahre vor dem 50. Jahrestag der Entführung ist davon noch nichts zu sehen. Schlimmer noch: Offensichtlich unwillig, nämlich erst nach neun Wochen Bearbeitungszeit gegebene Auskünfte zeigen, wie schlecht es um das Projekt steht.
Am 11. März 2025 hat er die seit 2020 verantwortliche Bundeszentrale für politische Bildung (bpb, unterstellt dem Bundesministerium des Inneren) gebeten, entsprechend dem Informationsfreiheitsgesetz mehrere einfache Fragen zu beantworten. Die Auskünfte kamen nach mehreren Erinnerungen erst am 15. Mai – und fielen einigermaßen erschütternd aus. Inzwischen sind sie veröffentlicht worden.
Demnach weigert sich die bpb standhaft, die „Landshut“ in einen für interessierte Besucher aussagekräftigen Zustand zu versetzen. Rupps hatte gefragt: „Worin liegt der museumspädagogische Nutzen, die Maschine (...) in ihren Zustand von 1997 zurückzuversetzen?“ und hinzugefügt: „Wer will die ,Landshut’, die 1977 Weltgeschichte schrieb, im Zustand von 1997 besuchen?“
Die Antwort des „Lernortes ,Landshut’“ offenbart das ganze Unverständnis der Verantwortlichen für das Projekt, das sie betreuen: „Die ehemalige Lufthansa-Maschine wird in keinen vorherigen Zustand zurückversetzt. Der Zeitpunkt ihrer Musealisierung war 2017 – dieser Zustand wird erhalten.“ Anders sei das „historische Objekt“ nicht zu bewahren. Doch „historisch“ bedeutsam ist allein die „Landshut“ im Zustand von 1977 – alles andere ist nur ein altes, heruntergekommenes Flugzeug eines Typs, von dem tausende Exemplare gebaut wurden.
Der Rest der Antwort besteht aus Worthülsen, die zeigen, dass die Verantwortlichen nicht wissen, was sie mit der „Landshut“ tun wollen (und sollen). […] Die „Ereignisse von 1977“ seien als zentraler „Ausgangspunkt zu nehmen, um davon ausgehend auch ihre Nachgeschichte zugänglich zu machen und offen über heutige und künftige Herausforderungen einer demokratischen Gesellschaft zu sprechen“.
Bei der Ausstellung der „Landshut“ geht es aber nicht um „heutige und künftige Herausforderungen“ der Demokratie. Sondern um den (letztlich trotz vieler unschuldiger Opfer) erfolgreichen Kampf der wehrhaften Demokratie gegen linke Extremisten, deutsche wie palästinensische.
Angesichts solchen Unfugs ist nicht erstaunlich, dass kürzlich mit Wolfgang Kraushaar einer von nur zwei dezidierten Linksterrorismus-Experten im Wissenschaftlichen Beirat des Projektes seine Mitarbeit aufgekündigt hat. Damit bleibt als Fachfrau nur Petra Terhoeven, Historikerin in Göttingen und aktuelle Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Sie hat immerhin eine voluminöse Studie über Linksterrorismus „als transnationales Phänomen“ und ein (128 Seiten dünnes) Taschenbuch über die RAF veröffentlicht.
Warum ist das so? Naheliegend wäre, den Grund in der (einzig angemessenen) Stoßrichtung des Projektes gegen den linken Extremismus in der Bundesrepublik anzunehmen. Für die Kulturstaatsministerin der Ampel-Koalition Claudia Roth gibt es dafür sogar Belege: In ihrem desaströsen Entwurf für ein neues Gedenkstättenkonzept des Bundes Anfang 2024 war die Rede von „sich als ,links‘ verstehenden terroristischen Gruppen wie der RAF oder der Bewegung 2. Juni“. Doch die Terroristen „verstanden“ sich nicht als links, sie waren links – wie ihr Bekenntnis zum Anarchismus und zum „Volkskrieg“ (so Andreas Baader im Januar 1972) ebenso beweist wie die im linken Establishment verbreitete Sympathie für die RAF. Das blendeten Roth und die Autoren des Papiers offensichtlich aus.
Auch beim seit fast 25 Jahren amtierenden bpb-Chef Thomas Krüger, einem linken Sozialdemokraten und ehemaligen DDR-Bürgerrechtler, sind Zweifel am ernsthaften Interesse zumindest nicht von der Hand zu weisen: Er unterstützte Ende 2020 öffentlich die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, die kaum kaschiert israelfeindlich auftrat und die eindeutig antisemitische Bewegung BDS unterstützte. Dazu passt ein Projekt zur Erinnerung an die „Landshut“-Entführung mit palästinensischen Tätern tatsächlich schwerlich.
Scheitert die Ausstellung zur „Landshut“ am Widerwillen der Verantwortlichen? - Welt
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes. Ulf Poschardt hat auf den Wiener Festwochen eine viel beachtete Rede gehalten, in der er dem dem Kulturbetrieb den Spiegel vorhielt. Das führte zu vorhersehbar ablehnenden Reaktionen und stärkte die Erkenntnis, dass man in manchen Milieus unter Meinungsvielfalt ausschließlich die eigenen Meinungen versteht. Wer das akzeptierte Spektrum verlässt, wird entweder niedergebrüllt (Eine Zuhörerin beschimpfte den Redner als “genozidales Schwein”.) oder man verlässt den Raum. Weil die Rede aufgrund der begrenzten Zeit und auch Improvisation nicht vollständig gehalten wurde, empfehle ich neben dem Video auch die Volltextversion. Im Video beginnt die Rede ab 01:26:07.
Kultur
Kulturstaatsminister Wolfram Weimar hat einen Gastbeitrag in der “Süddeutschen Zeitung” für die Freiheit in der Kultur geschrieben. Wie zu erwarten war, wurde auch dieser mit Geschrei, Diffamierung und Unterstellungen quittiert. Meiner Meinung nach darf man das allerdings nicht zu ernst nehmen. Die neue Bundesregierung tut, indem sie den politischen Linksschwenk der letzten Jahre zurück in Richtung Mitte korrigiert, genau das Richtige. Was wir im Moment erleben, sind Rückzugsgefechte. Bestimmte Milieus fürchten den Verlust der Macht, an die sie sich inzwischen gewöhnt haben.
Europa gerät in diesem globalen Kulturkampf in einen „defining moment“ seiner geistigen Integrität. Deutschland ist mittendrin. Bleiben wir die Hochburg der Aufklärung? Oder verfallen auch wir der identitätsideologischen Freiheitsfeindlichkeit von rechts und von links? Auch bei uns gibt es mittlerweile Übergriffe und bevormundende Identitätskämpfe von den Rändern des politischen Spektrums. Demgegenüber verliert die Mitte an Terrain. Und damit das kulturelle Kapital einer aufgeklärten Gesellschaft, deren geistiges Selbstverständnis traditionell von Offenheit, Vernunft und Toleranz geprägt war.
Die freiheitsfeindliche Übergriffigkeit der Linken hat in der Cancel-Culture ihr aggressives Gesicht. Jüngstes Beispiel ist die Verbannung einer Venus-Bronze aus einer Berliner Behörde. Der Vorwurf: Frauenfeindlichkeit. Es ist nicht übertrieben, von einem Akt kulturferner Ignoranz zu sprechen, denn die Göttin der Liebe unbekleidet abzubilden, zählt immerhin zu den tradierten Topoi abendländischer Kunstgeschichte. Demgegenüber wirkt die simple Gleichung, weibliche Nacktheit sei per se sexistisch und habe in der Öffentlichkeit nichts zu suchen, wie das Credo eines jakobinischen Bildersturms. Sein modernes Pendant, der Shitstorm, gehört mittlerweile zum festen Inventar radikal-feministischer, postkolonialer, öko-sozialistischer Empörungskultur. Differenzierung ist keine Option mehr. Stigmatisierung umso mehr.
Aber auch die rechten und rechtsradikalen bis rechtsextremen Kulturkampfreflexe lassen nichts an Engstirnigkeit vermissen. Ihren Tilgungsfuror kann man zurzeit in der zweiten Trump-Ära besichtigen: Eine Lehrerin, die ihren Schülern den unbekleideten David von Michelangelo gezeigt hatte, wurde von Polizisten abgeführt und anschließend gefeuert. Der groteske Vorwurf: Sie habe ihren Schülern Pornografisches aufgedrängt. An Floridas Schulen landeten bereits im vergangenen Jahr fast 4000 Bücher auf dem Index, weil sie angeblich unzumutbare Darstellungen von Gewalt und sexuellen Inhalten enthielten. Selbst Weltliteratur wie Tolstois „Anna Karenina“ kam in den Giftschrank.
Dass Prüderie in den Beispielen mitschwingt, ist kein Zufall. Wenn politische Pädagogik qua künstlerischer Kontrolle betrieben wird, hat das immer auch eine moralische Dimension: Ideologien inszenieren sich gern als ethische Instanzen. Da wird zwischen Gut und Böse unterschieden, idealisiert und dämonisiert. Wer allerdings ästhetische Kategorien mit moralischen Postulaten verwechselt und alles Abweichende verbietet, muss sich vorwerfen lassen, das Tafelsilber abendländischer Aufklärung wegzuschließen: die Freiheit.
Die jüngsten rigiden Eingriffe in die Sichtbarkeit künstlerischen Schaffens lassen daher nur einen Schluss zu: Sowohl linke als auch rechte Eiferer trauen weder der Freiheit der Kultur noch der Kompetenz des Bürgers, sich in aller Freiheit ein eigenes Urteil zu bilden.
Eine fatale Unterstellung. Linke wie Rechte wollen die Kunst politisieren, haben sich aber ein denkbar ungeeignetes Objekt ausgesucht. Es liegt gerade im Wesen der Kunst, Freiheit zu atmen und gerne vieldeutig zu bleiben. Wer die Kultur als eine Art NGO für politische Belehrung oder als Agent politischer Botschaften nutzen will, wandelt nahe am Missbräuchlichen entlang. Es war Susan Sontag, die mit ihrem Essay „Against interpretation“ ein flammendes Plädoyer für die Bedeutungsoffenheit von Kunst verfasste. Diese müsse keineswegs eindeutige Inhalte und Botschaften transportieren; vielmehr sei es das Privileg künstlerischen Schaffens, auf dechiffrierbare Bedeutungen zu verzichten.
Und wer Kunst ihre Ambiguität nimmt, dem Anspruch zu improvisieren, macht sie flügellahm und hat die Kunstfreiheit nicht begriffen.
Demgegenüber erscheint es anmaßend, dass nun ausgerechnet staatliche Institutionen wie Behörden und Universitäten über die Legitimität einzelner Werke entscheiden. Wenn die Künste im Namen eines neuen Tugendterrors kanonisiert werden, gängelt man ja nicht nur die Künstler, vor allem bevormundet man die Adressaten. Mündige Bürger, so sollte man meinen, sind in der Lage, künstlerische Artefakte historisch zu kontextualisieren oder schlicht als individuelle ästhetische Ausdrucksformen wahrzunehmen. Wird den Bürgern diese Fähigkeit abgesprochen, indem man ihnen den Zugang verwehrt, handelt es sich um Entmündigung, wenn nicht Enteignung: Man stigmatisiert und eliminiert, was das Urteilsvermögen vermeintlich überfordert.
Das neue Faible für Reinheitsgebote übersieht jedoch etwas Wesentliches: Es macht weder die Kunst besser noch die Menschen. Verlage können noch so viele Sensivity Reader beschäftigen, die unveröffentlichte Manuskripte nach shitstormverdächtigen Wörtern und Inhalten durchforsten, Museen können noch so viele Werke in vorauseilendem Zeitgeistgehorsam aus den öffentlichen Bereichen entfernen – die Dialektik von Aufklärung und Gegenaufklärung wird immer zu Pendelausschlägen in die entgegengesetzte Richtung führen. Das flächendeckend politisch erwünschte Mindset mag eine gutgemeinte Erlösungsfantasie sein, mit der Realität gesellschaftlicher Dynamiken hat sie wenig zu tun.
Die liberale Antwort auf diese Entwicklung lautet, keinen politischen Einfluss zu nehmen, sondern, ganz im Gegenteil, die Freiheit der Kunst zu verteidigen. Die Korridore des Sagbaren, Erkundbaren und Darstellbaren möglichst weiten, anstatt sie zu verengen. Glücklicherweise hat die Kunst eine defensive Kraft. Nach wie vor entsteht Kunst auf dem Resonanzboden einer vielfältigen Gesellschaft mit unzähligen mentalen Strömungen und schert sich nicht um Vorgaben, Vereinnahmungen oder Verbote. Gerade deshalb muss sie gefördert werden. Aber eben nicht als politische Echokammer oder Bootcamp des vermeintlich besseren Bewusstseins. Egal, ob von links oder rechts. Der Staat kann daher als Mäzen auftreten, sollte sich aber inhaltlicher Einmischung enthalten. Er degradiert ansonsten die Künste zur Platzanweiserin der jeweiligen politischen Korrektheit.
Verteidigt die Freiheit - Süddeutsche Zeitung
Irgendwie bin ich froh, dass meine Leser sich die Rubrik “Coverversion der Woche” zurückgewünscht haben. Nun löse ich auch mein Versprechen ein, zu schildern, wie ich darauf kam. Ungefähr zeitgleich mit dem Start des Newsletters behauptete eine reichweiten- und meinungsstarke Twitter-Nutzerin, es gebe keine guten Coverversionen. Das ist nachweislich unzutreffend. Deshalb fühlte ich mich verpflichtet, diese Nachweise zu liefern. Ob die betreffende Nutzerin diese Rubrik kennt, weiss ich nicht. Wie es bei Twitter so ist, vertragen viele keine - egal wie sachlich vorgetragene - Gegenrede. Als ich ihre Beteiligung an der Hetzkampagne gegen einen bekannten Autor und Blogger kritisierte, endete unser virtueller Ritt in den Sonnenuntergang. Aber: We’ll always have the Coverversion der Woche. Tusch!
Coverversion der Woche: Saint Etienne - Only Love Can Break Your Heart
Eine meiner Lieblingsbands, Saint Etienne, hat bekanntgeben, dass das im September erscheinende Album ihr Letztes sein wird. Das finde ich sehr schade, denn ihre Musik begleitet mich seit ihrer Gründung im Jahr 1990. Das erste Lied, das ich je von der Band hörte, war “Only Love Can Break Your Heart”.
Der Song ist der dritte Titel auf Neil Youngs Album „After the Gold Rush“. Er wurde angeblich für Graham Nash geschrieben, nachdem dieser sich von Joni Mitchell getrennt hatte. Bob Giuliana, ein Filmemacher, behauptete, der Song handele von ihm: „Neil Young schrieb einen Song namens “Only Love Can Break Your Heart”. Neil Young und ich hatten einen gemeinsamen besten Freund, und dieser Freund, Larry Johnson, erzählte mir, dass Neil den Song über mich geschrieben hatte. Ich hatte ihn nie gehört, weil ich kein Neil-Young-Fan war. Die Leute denken, es geht um eine Liebesgeschichte, aber das stimmt nicht. Larry erzählte Neil die ganze Geschichte von meinem Ausstieg aus der Paradigm Film Company, was mir keinen Spaß machte – es war herzzerreißend – und dann schrieb er den Song darüber.“
Das Lied erschien im Oktober 1970 als Single und wurde Youngs erster Top-40-Hit als Solokünstler. In den USA erreichte es Platz 33.
1990 nahm die Band Saint Etienne eine Coverversion von auf, welche auf ihrem Debütalbum “Foxbase Alpha” von 1991 enthalten ist. Den Gesang übernahm Moira Lambert. Sarah Cracknell war damals noch nicht Mitglied. Die Band nahm den Song im Schlafzimmer von Produzent Ian Catt in Pollards Hill auf. Die Aufnahme, die in weniger als zwei Stunden entstand, verschaffte ihnen einen Plattenvertrag, ihre erste Single und ihren ersten Hit. Andrew Weatherall remixte den Song später und betonte dabei die Dub-Bassline noch weiter: Dieser Remix mit dem Untertitel „A Mix of Two Halves“ war sowohl auf der Single-Veröffentlichung als auch auf der Compilation “Casino Classics” zu hören. Die US- und europäischen Veröffentlichungen enthielten einen anderen Extended Mix von Flowered Up der in Großbritannien lediglich auf einer Flexidisc erschien, obwohl er fälschlicherweise als „Mix of Two Halves“ aufgeführt wurde. Weatherall war an diesem Mix nicht beteiligt.
Epilog
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