Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #153
Desinformation, staatliche Übergriffigkeit und Haltung
Prolog
Hiermit meldet sich der Newsletter aus der Sommerpause zurück. Es ist immer erholsam, sich eine Weile auszuklinken. Wenn man zurückkehrt, merkt man, dass man nichts verpasst hat. In den sozialen Medien wurde wie immer täglich ein neuer Grund zum Empören gefunden und man fragt sich, woher diese Lust auf die tagesaktuelle Erregung kommt. In der Zeit seit der letzten Ausgabe war ich unter Anderem auch im ländlichen Raum unterwegs. Die Menschen dort bekommen von dem, was man in den großstädtischen Milieus und somit auch auf den üblichen Plattformen für relevant hält, gar nichts mit. Versucht man, ihnen bestimmte Debatten zu erklären, erntet man verständnislose Blicke. Nicht, weil es den Menschen an Intellekt fehlt.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass es keine relevanten Themen gibt. In der Zwischenzeit ist einiges von Bedeutung passiert.
Die sogenannte “letzte Generation” hat mehrfach Rollfelder blockiert. Dass man die Grundstücke deutscher Flughäfen offenbar ungestört stürmen kann, besorgt mich. Ebenso frage ich mich, warum die Justiz so nachsichtig mit der Gruppe umgeht. Nun gab es immerhin auch einmal eine Haftstrafe.
Ein Attentat auf Donald Trump scheiterte nur knapp. Im Nachgang war erschreckend, wie viele Menschen dieses Scheitern bedauerten. Eine solche Verrohung ist das Ergebnis einer jahrelangen Dämonisierung seitens der Medien. Ich habe Trump von Anfang an scharf kritisiert und halte ihn aus vielen Gründen für nicht akzeptabel. Trotzdem ist Hysterie nicht angemessen. Bereits vor seiner erster Amtszeit wussten selbsternannte Experten ganz genau, was er als Präsident anrichten würde. Nichts davon passierte. Jetzt geht das Spiel wieder los: Man überbietet sich gegenseitig im Entwerfen von Horrorszenarien und genießt die Grusel-Erotik. Die Frage, warum Trump nicht bereits in seiner ersten Amtszeit die schrecklichen Dinge getan hat, die er in einer möglichen zweiten Amtszeit nun aber ganz bestimmt tun wird, bleibt regelmäßig unbeantwortet.
Auch die Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele in Paris sorgte für Diskussionen. Diese Veranstaltung als Abschiedsfeier der Zivilisation zu bezeichnen, ist sicher übertrieben. Man darf allerdings vermuten, dass etwas Ähnliches dabei herausgekommen wäre, wenn Leni Riefenstahl bewusstseinserweiternde Substanzen zu sich genommen hätte. Kritikern dieser Show wurde schnell unterstellt, sie seien reaktionär, ewiggestrig oder Schlimmeres. Das ist natürlich Unsinn. Kein aufgeklärter Mensch hat etwas gegen Vielfalt, Lebensfreude und Lachen. Die meisten Menschen möchten allerdings nicht in jedem Lebensbereich ideologisch indoktriniert werden. Solche bizarren Inszenierungen führen nicht zu mehr Toleranz, sondern zum Gegenteil. Dass im Rahmen falsch verstandener Inklusion biologische Frauen von Personen mit den biologischen Vorteilen von Männern im Ring verprügelt werden dürfen, ist ebenfalls kontraproduktiv.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Desinformation, staatliche Übergriffigkeit und Haltung.
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Politik und Gesellschaft
Vom Kern der Anfang des Jahres erschienenen Correctiv-Recherche ist nach massiver Kritik und Klagen nichts mehr übrig. Der Artikel wurde juristisch und journalistisch pulverisiert. Die aus ihm resultierenden Massendemos fanden auf der Basis von Behauptungen und Interpretationen statt.
Weil man das alles nicht mehr bestreiten kann, gibt es nun ein neues Narrativ: Bei Erscheinen noch als Meisterstück bejubelt, soll das Machwerk auf einmal irrelevant sein. Eigentlich gehe es - zum Beispiel nach Aussage des populären Rechtsanwalts Chan-jo Jun um "Die in Büchern, Reden und Kommentaren belegte Wirklichkeit". Das kann man nur noch als Realsatire bezeichnen.
Stefan Niggemeier hat bei “Übermedien” den wohl finalen Artikel zu der Causa geschrieben. Wer nach der Lektüre immer noch an den Falschdarstellungen festhält, der tut dies wider besseres Wissen.
Und das beginnt angesichts des „Leuchtturm“-Preises und weiterer zu erwartender Auszeichnungen mit der Feststellung, wie schwach er journalistisch ist. Er unterstellt, statt zu belegen, er raunt, statt zu erklären, er interpretiert, statt zu dokumentieren.
Richtig ist: Der Text ist misslungen, das Verhalten von Correctiv nach der Veröffentlichung fragwürdig und die Berichterstattung vieler Medien eine Katastrophe.
Und das Schlimmste: Correctiv erzeugt eine systematische Unsicherheit über das, was eigentlich die Aussage des Artikels ist und worin der Skandal von Potsdam besteht.
Die Recherche zeigte unbestritten, dass rechte Ideen von Bürgerlichen diskutiert werden. Zum Beispiel wie „Anpassungsdruck” deutsche Staatsbürger, die als nicht deutsch genug gelten, nötigen soll, das Land zu verlassen.
Aber die Erzählung von Correctiv ging weit darüber hinaus. Sie suggerierte, dass in Potsdam gemeinsam die Vertreibung von Millionen Menschen nach rassistischen Kriterien inklusive der Ausweisung auch deutscher Staatsbürger geplant wurde. Das will Correctiv aber gar nicht gemeint haben, wie das Recherchekollektiv inzwischen sogar vor Gericht zu Protokoll gegeben hat.
Angeblich stellt Sellner, so Correctiv, „das Gesamtkonzept“, „den Masterplan“ vor, wie Millionen von Menschen aus Deutschland zu vertreiben seien und wie der Angriff auf Staat, Bürger und Grundgesetz abzulaufen habe. Aber alles, was Correctiv daraus zu zitieren vermag, sind drei Satzfetzchen. Selten besaß eine investigative Recherche einen so hingehuschten Kern.
Correctiv lässt den Bericht trotzdem wie folgt enden: „Es bleiben zurück: (…) ein ‚Masterplan‘ zur Ausweisung von deutschen Staatsbürgern, also ein Plan, um die Artikel 3, Artikel 16 und Artikel 21 des Grundgesetzes zu unterlaufen.“ (Ursprünglich hatte es hier sogar noch geheißen „aufgrund ihrer ‚Ethnie’“; diese Wörter hat Correctiv am Tag der Veröffentlichung ohne jede Erklärung gelöscht – zunächst ohne die Änderung kenntlich zu machen.)
Die Recherche fasst also im Ergebnis etwas zusammen, was von den vorherigen Ausführungen nicht getragen ist.
Und es wird noch verrückter: In einem der zahlreichen Gerichtsverfahren hat Correctiv sogar klargestellt, dass es „zutreffend“ sei, dass „die Teilnehmer nicht über eine rechts-, insbesondere grundgesetzwidrige Verbringung oder Deportation deutscher Staatsbürger gesprochen haben“.
Wer von den vielen Leuten, die alarmiert durch die Berichterstattung auf die Straße gegangen sind, weiß, dass Correctiv gar nicht über „Deportationspläne“ berichtet haben will? Wer von ihnen weiß, dass Correctiv vor Gericht sogar ausdrücklich festgestellt hat, solche Pläne seien nicht besprochen worden?
Wie die „Tagesschau“ haben viele Medien und Menschen die Legende von der in Potsdam geplanten Massendeportation auch von Deutschen verbreitet. Ausgerechnet das rechte „Nius“, das selbst regelmäßig Unwahres groß in den Raum stellt, um es im Kleingedruckten zu relativieren, hat in einem Artikel ausführlich dokumentiert, wie diese Geschichte in Politik und Medien kolportiert wurde – teilweise dramatisiert zu Formulierungen wie der „Planung einer Terrorherrschaft“.
Correctiv hat vergeblich versucht, mehrere Passagen in diesem „Nius”-Artikel verbieten zu lassen, unter anderem folgenden Satz über „die Geburt der Deportationslüge“: „Nach der Correctiv-Recherche wurde immer wieder die unwahre Behauptung von angeblich besprochenen Deportationsplänen verbreitet.“
Hier zeigt sich ein Muster: Correctiv geht nicht gegen die Fehlinterpretation anderer Medien seiner Berichterstattung vor, wenn sie dem Kampf gegen die AfD und ihre konservativen und rechtsextremen Verbündeten dienen. Aber Correctiv zieht vor Gericht, wenn ein rechtes Medium (zutreffend) auf die Diskrepanz zwischen der Correctiv-Recherche und ihrer falschen Weitererzählung hinweist.
Man kann über all das streiten, aber genau das müsste man dann auch tun: streiten. Stattdessen findet zumindest im links-liberalen Milieu kaum eine Debatte über die Güte der Correctiv-Berichterstattung statt. (Konservative Medien wie „Cicero“ und die „Welt“ haben allerdings früh sehr kritisch berichtet.)
Dafür kann es mehrere Gründe geben. Einer ist die Nähe zu Correctiv. Viele Redaktionen arbeiten mit Correctiv zusammen, zu dessen Grundverständnis es gehört, seine Rechercheergebnisse mit anderen zu teilen. Das ist eine feine Idee, und Correctiv leistet oft gute, wichtige Arbeit. Es führt aber natürlich auch zu Abhängigkeiten und Beißhemmungen – und zu fehlender Distanz.
Auch dafür war die Preisverleihung am vorletzten Wochenende ein anschauliches Beispiel. Daniel Drepper, der den Rechercheverbund von NDR, WDR und SZ leitet, würdigte Correctiv als „Bereicherung für den investigativen Journalismus“. Drepper hat Correctiv 2014 mitbegründet und war dort drei Jahre lang „Senior Reporter“. Heute ist er Vorsitzender des Netzwerks Recherche, wählte in dieser Funktion Correctiv als Preisträger mit aus und lobte öffentlich Correctiv, ohne auch nur in einer Fußnote zu erwähnen, dass er das Unternehmen mitbegründet hat. Das ist eine Interessensvermischung, die die Beteiligten bei anderen sicher scharf kritisieren würden.
Immer häufiger gehen staatliche Stellen gegen Journalismus vor. Zwei der jüngsten Beispiele: Innenministerin Nancy Faeser lies mit Hilfe eines juristischen Tricks das rechtsextreme Magazin “Compact” verbieten und die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, unterlag erneut vor Gericht mit dem Versuch, dem Portal “Nius” Aussagen verbieten zu lassen. Das ist - unabhängig davon, was man von diesen Medien hält - in einer Demokratie keine gute Entwicklung. Im Fall von “Compact” kann man sogar von einem Bärendienst für das Engagement gegen Rechtsextremismus sprechen, weil das Verbot wahrscheinlich wieder einkassiert wird. Ich hielt übrigens auch schon das Verbot von “Indymedia”, bei dem man sich ähnlicher Kniffe bediente, für falsch. Ataman kommentierte ihre Niederlage mit den Worten
"Wir werden die Entscheidung prüfen und sind von unserer Rechtsposition weiterhin überzeugt"[...]"
Dass diese Dame, die meiner Meinung nach ein rein taktisches Verhältnis zum Rechtsstaat hat, sogar mit Hilfe der FDP in ein Staatsamt gelangte, ist ohnehin kaum zu fassen.
Deniz Yücel kommentiert am Beispiel des Compact-Verbots und erläutert auch viel Allgemeines. Dass immer häufiger auf rechtsstaatliche Standards hingewiesen werden muss, belegt Fehlentwicklungen.
Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Klingt nach einer Bauernweisheit, ist aber ein Grundrecht namens „allgemeine Handlungsfreiheit“, die auch die Ausübung anderer Grundrechte, etwa der Meinungs- und Pressefreiheit, regelt: Was nicht verboten ist, Volksverhetzung etwa oder Beleidigung, ist erlaubt.
Doch in der Bundesregierung hadert man immer häufiger mit diesem Prinzip: „Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen“ erklärten Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) Anfang des Jahres in Manier autoritärer Herrscher. Man wolle auch, so die Ministerinnen, „dem Umstand Rechnung tragen, dass Hass im Netz auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ vorkomme.
Eine Begründung, die für diese Bundesregierung zur Handschrift wird: Ob das Forschungsministerium versucht, missliebige Universitätsprofessoren zu bestrafen oder das Innenministerium „unsäglich“ für eine hinreichende Verbotsbegründung hält – es ist derselbe Mechanismus: Eine Exekutive, die keinen Unterschied mehr zwischen Recht und Moral kennt und deren leitendes Personal derart beseelt ist von der Richtigkeit des eigenen Tuns (gegen „Hass“, Rechtsextremismus, Antisemitismus etc.), dass es rechtsstaatlichen Prinzipien so viel Beachtung schenkt wie dem Kleingedruckten auf einem Beipackzettel.
Mit moralischem Rigorismus und hemdsärmeliger Auslegung von Grundrechten kann man Twitterdebatten führen, aber kein Ministerium. Wer dies versucht, schadet der Demokratie mehr, als es das „Compact“-Magazin und dessen schillernder Chefredakteur Jürgen Elsässer je könnten.
Moralischer Rigorismus und hemdsärmelige Auslegung von Grundrechten - Welt
Die FAZ hat das Buch “Moralspektakel” von Philipp Hübl, welcher bereits einige Male in diesem Newsletter Erwähnung fand, rezensiert.
Philipp Hübl würde das, was hier passiert, als „Moralspektakel“ bezeichnen. Ein solches liege immer dann vor, „wenn es in der moralischen Auseinandersetzung nicht um die Sache, sondern vorrangig um Selbstdarstellung geht“. Der Philosoph und Publizist glaubt, dass dies in den vergangenen Jahren immer häufiger der Fall gewesen ist, möchte Erklärungen dafür bieten und die Nachteile dieser Entwicklung aufzeigen.
Hübls Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass auch Moral, wie etwa Bildung oder Besitz, zum gesellschaftlichen Status eines Menschen beitragen kann. Welches Ansehen ich genieße, hängt nicht nur davon ab, was ich weiß oder wie wohlhabend ich bin, sondern auch davon, ob ich als moralisch gut gelte.
Hübls erster Kunstgriff besteht dann auch darin, für diese Funktion der Moral den Begriff des „moralischen Kapitals“ einzuführen, in Anlehnung an die Soziologie Pierre Bourdieus und dessen Rede vom „ökonomischen“ oder „kulturellen“ Kapital. Denn wie in die eigene Bildung könne man auch in seine moralische Darstellung Zeit und Mühe investieren, etwa indem man sich politisch korrekte Sprache aneigne; man könne sein moralisches Kapital durch öffentliche Auszeichnungen erhöhen und es schließlich auch in andere Kapitalformen umwandeln: Ein gegen Rassismus engagierter Pianist erhalte mehr Auftritte als ein ähnlich begabter, aber unpolitischer Konkurrent. Das ist ein bestechender Gedanke, der eine gängige Erfahrung für soziologische Status-Diskurse nutzbar macht.
Gegen Ende erkennt man dann, dass diese Art der Argumentation für Hübl nicht nur Methode, sondern auch Teil der Lösung ist. Denn seine Antwort auf Moralspektakel lautet kurz gesagt: „Fakten“. Um Überbietungswettkämpfe zu verhindern, möchte er den moralischen Diskurs wieder stärker auf wissenschaftliche Evidenzen zurückführen. Anstatt irgendwelche „Zeichen“ setzen zu wollen, sollten wir Vorschläge und Kritik danach beurteilen, welcher Nutzen oder Schaden durch eine Handlung tatsächlich entsteht. So könnten Morallabels nach objektiven Kriterien das „Greenwashing“ von Unternehmen unterbinden und Diversitätstrainings durch nachweislich effektivere Mentoringprogramme ersetzt werden.
Die korrekte Haltung will gezeigt werden - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Eine weitere differenzierte Stimme ist Jens Balzer. Auch er hat ein empfehlenswertes neues Buch vorgelegt. Dazu hat ihn das “Philosophie Magazin” interviewt. Erfreut habe ich zur Kenntnis genommen, dass in diesem Gespräch der Begriff “selektiver Humanismus” verwendet wird, denn ich bereits seit Jahren zur Beschreibung bestimmter Phänomene nutze. Nicht allem, was Balzer meint, stimme ich zu. Trotzdem halte ich seine Positionen für wichtig, weil sie wohl überlegt sind.
Den Umgang mit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober beschreiben Sie als „moralischen Bankrott“ der Linken und Beginn dieser Abkehrung von der Wokeness. Weshalb?
Das Buch After Woke entspringt meiner tiefen Verstörung angesichts des Verhaltens der woken, postkolonialen, queer-feministischen Community nach den Ereignissen am 7. Oktober: Zuerst das völlige Beschweigen der Massaker der Hamas, insbesondere auch der sexualisierten Gewalt, und dann die Feier der islamo-faschistischen Terrorgruppe Hamas als „dekoloniale Befreiungsagentur“. Eine völlige Empathielosigkeit griff um sich, die wesentlich von Leuten ausgedrückt wurde, die bis dahin sehr viel Wert auf Empathie, Awareness, Achtsamkeit und Wachsamkeit – nichts anderes heißt „Wokeness“ ja erst einmal: Wachsamkeit gegenüber Diskriminierung jeglicher Art –, gelegt haben. Hier hat man gesehen, dass die hochgehaltene Awareness und Wokeness für jüdische Menschen nicht gilt. Das hat die moralische Integrität der woken Bewegung nachhaltig beschädigt.
Wie erklären Sie sich diese selektive Empathie?
Dieses Phänomen des „selektiven Humanismus“ ist ein großes Rätsel. Es lässt sich auf die Formeln „Me too except you are a jew“ oder „Jews don’t count“ bringen. In meinem Buch habe ich versucht zu rekonstruieren, inwieweit das Woke-Denken, das eigentlich ja einmal sehr geprägt war von Offenheit, Sensibilität, Solidarität … wie dieses Denken in der jüngeren Vergangenheit durch bestimmte Einflechtungen des Schwarz-Weiß-Denkens und der Freund-Feind-Opposition beschädigt wurde. In diesen Narrativen erscheinen jüdische Menschen als weiße Menschen, die anders denn als Täter gar nicht denkbar sind. Alle anderen, in diesem Fall die palästinensischen Menschen, erscheinen wiederum durchweg als unschuldige Opfer. Das wird den historischen Komplexitäten in keiner Weise gerecht.
Ein großes Konfliktfeld der aktuellen Wokeness ist also ihr „selektiver Humanismus“. Gibt es noch andere Probleme, die Sie momentan in der Debatte sehen?
Es scheint mir so zu sein, dass sich in dem, was wir heute Wokeness nennen, Formen eines identitären und segregierenden Denkens eingeschlichen haben. Man definiert sich wieder stark über Identität, Herkunft, geschlechtliche Orientierung etc., was mit einer Entsolidarisierung in Bezug auf andere marginalisierte Gruppen einhergeht, wie ich das gerade am Beispiel jüdischer Menschen beschrieben habe. Das dichotome Freund-Feind-Denken ist ein weiterer Problempunkt: Viele postkoloniale Aktivisten teilen die Gesellschaft in zwei Seiten: Weiß und Schwarz, Unterdrücker und Unterdrückte. Man sieht sich selbst in einer gehobenen moralischen Perspektive, von der aus man anderen Anweisungen darüber erteilt, wie sie sich zu verhalten haben. Hier sind der Postkolonialismus und der Antirassismus zu einem Wahrheitsregime geworden, in dem Sinn, in dem Michel Foucault diesen Begriff in seinen späten Vorlesungen entwickelt.
Was kommt also nun nach der Wokeness?
Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Meine Hoffnung ist, dass die Teile der progressiven Linken, von denen ich selber mal dachte, dass ich darin eine Gemeinschaft politisch-intellektueller Gleichgesinnter, oder sagen wir ruhig: eine Heimat gefunden hätte – das denke ich nach dem 7. Oktober nämlich nicht mehr –, dass diese Teile der progressiven Linken mehr Selbstkritik üben und sich überlegen: Wie essentialistisch ist unser eigenes Identitätsdenken tatsächlich geworden? Und sind wir nicht den Rechten ähnlicher, als wir uns eingestehen möchten? Die progressiven Kräfte sollten sich so versammeln, dass ihre eigene Theorie und ihr Aktivismus wieder zu einem sinnvollen Gegenpart gegen die neue Rechte, den Rechtspopulismus und dessen identitäres Denken werden, gegen all das, was uns gerade von allen Seiten zu überrollen droht.
Zum Ende der Rubrik wieder Hörens- und Sehenswertes. Helmut Markwort spricht im Rahmen der “Montagsgesellschaft” über die Bundesrepublik.
Helmut Markwort spricht über Deutschland der letzten 80 Jahre - er kennt es als 87-Jähriger, hat Krieg und Kriegsende miterlebt, den Aufbau des Landes als Journalist mitgestaltet, in den letzten fünf Jahren die Politik als Landtagsabgeordneter. Die Gegenwart beobachtet und bewertet Helmut Markwort mit Interesse und Sorge zugleich: wo bleiben Mut und Optimismus, freiheitliches und selbständiges Denken? Wo bleibt eine wirksame Wirtschaftspolitik? Ein allzeit kritischer engagierter Mann mit einem unfassbar breiten Wissen und Lebenswerk und noch lange nicht im Ruhestand.
Die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci spricht mit Cicero-Redakteur Clemens Traub.
Güner Balcı ist die Integrationsbeauftragte von Neukölln, als Kind von türkischen Gastarbeitern selbst in Neukölln aufgewachsen und kennt den Berliner Bezirk daher wie kaum eine andere. Das bekannte Problemviertel gilt deutschlandweit als Synonym für Kriminalität und gescheiterte Integration. Doch warum gibt es gerade in arabischen Communities so viel Antisemitismus? Warum geraten junge Menschen in die Fänge des politischen Islams? Und wie erleben sie die politische Korrektheit in unserem Land? Darüber spricht Cicero-Volontär mit Güner Balcı im Cicero Podcast Gesellschaft.
Ijoma Mangold und Lars Weisbrod sprechen in ihrem Podcast “Die sogenannte Gegenwart” mit Diedrich Diederichsen.
Wir müssen reden. Und zwar über Pop, denn mit dem stimmt irgendwas nicht. Pop schien lange ein linkes Projekt, vom Rock 'n' Roll bis zum Rap, von Mode bis Slang: Populärkultur war im 20. Jahrhundert angetreten, um progressive Projekte voranzutreiben. Der Pop, das war die Sprache der sexuellen Befreiung, die Sprache für die Antikriegsdemos, er war die Stimme der Minderheit, die um Emanzipation rang. Heute hingegen kann man den Eindruck gewinnen: Gegenkultur, Provokation, Anarchie, das sind die Werkzeuge der Rechten geworden. Links betet man währenddessen fromme Identitätspolitik nach. Was ist also geworden aus dem Pop und der Kraft der Subversion? Sind Rechte die neuen Poplinken? Warum kommt im Pop alles immer wieder zurück, obwohl er doch mal ein Versprechen auf das Neue war? Oder kommt der Pop heute sowieso an sein Ende? Und wenn ja, was kommt danach?
Diese Fragen und viele mehr stellen wir in einer Sonderausgabe unseres Feuilletonpodcasts einem Mann, von dem wir uns Antworten erhoffen. Denn er ist der vielleicht klügste Gegenwartsbeobachter dieses Landes: der Poptheoretiker und Kritiker Diedrich Diederichsen. Vor Kurzem erschien sein über 1.000 Seiten dickes Buch Das 21. Jahrhundert, darin versammelt sind Essays, Texte, Feuilletons, die er seit dem Jahr 2000 geschrieben hat. Genug Stoff also, den die beiden Hosts Ijoma Mangold und Lars Weisbrod streitlustig diskutieren wollen, zusammen mit ihrem Gast, in der neuen Folge von Die sogenannte Gegenwart.
Ist Pop heute rechts? - Die Zeit
Oliver Luksic spricht mit Prof. Dr. Jan Schnellenbach.
In der aktuellen Episode von "Luks und Liberal" spreche ich mit Prof. Dr. Jan Schnellenbach, Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Mikroökonomie an der Brandenburgischen TU Cottbus.
Unser Gespräch beleuchtet strukturelle Probleme Deutschlands wie die hohe Steuer- und Abgabenlast sowie die umfangreiche Regulierungsdichte. Obwohl diese Faktoren derzeit keinen unmittelbaren Wohlstandsverlust bedeuten, unterstreichen wir die Notwendigkeit einer Neugestaltung des Investitionsumfelds in Deutschland. Insbesondere diskutieren wir die Bedeutung der Schuldenbremse, die Herr Schnellenbach überzeugend als wichtiges Instrument zur Begrenzung unnötiger Ausgaben darlegt. Er hebt hervor, dass bei einer Verschuldung von fast 100 Milliarden Euro nicht von Austerität gesprochen werden kann, da die Schuldenbremse keineswegs Investitionen behindert.
Obwohl er viele der 49 neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen lobt, wie den Bürokratieabbau und die Unterstützung von Langzeitarbeitslosen, sieht er noch Verbesserungsbedarf. Wir sollten uns von der aktuellen Industriepolitik mit ihren selektiven Subventionen lösen, um nicht in eine ähnliche wirtschaftliche Lage wie Frankreich oder die USA zu geraten. Vielmehr plädiert Herr Schnellenbach für einen stärkeren Fokus auf Investitionen, die dem deutschen Wirtschaftskonzept entsprechen, sowie für eine weniger belastende und bürokratische Steuerpolitik.
Luks und Liberal. mit Prof. Dr. Jan Schnellenbach
Kultur
Coverversion der Woche: The Chords - She Said She Said
Heute im Jahr 1966 erschien “Revolver” eines der wichtigsten Alben der Beatles. Es läutete sozusagen offiziell ihre Hinwendung zum Psychedelischen ein. Inoffiziell war längst bekannt, dass die Gruppe nicht nur musikalisch herumexperimentierte. Lennon bezeichnete die Platte einmal als “the acid album”, wohingegen er den Vorgänger als “pot album” deklarierte.
Das Lied “She Said She Said” wird Lennon-McCartney zugeschrieben, wurde allerdings auch mit Unterstützung von George Harrison geschrieben. Lennon beschrieb es als „acid song” dessen Text von Kommentaren des Schauspielers Peter Fonda während eines LSD-Trips im August 1965 mit Mitgliedern der Beatles und der Byrds inspiriert war. Es war der letzte für Revolver aufgenommene Titel. Aufgrund eines Streits über die musikalische Ausrichtung des Liedes verließ Paul McCartney während der Aufnahme des Liedes das Studio.
Die Cover-Version der Modrevival-Band The Chords ist aus dem Jahr 1980. Sie geht meiner Meinung nach etwas am Kern des Songs vorbei. Das ist in diesem Fall allerdings allerdings nicht negativ.
Zum Interview von Jens Balzer und seinem Begriff woke[ness]:
Ich halte seinen starken Bezug auf die 1930er-Jahre und die damalige Definition für verfehlt, auch wenn da vielleicht "Urheberrechte" entstanden sind, weil der Begriff woke damals zum ersten Male geprägt wurde. Seither, nach rund 3 Generationen, haben sich aber so viele Randbedingungen und Kontexte geändert, daß von der ursprünglichen Bedeutung so wenig übrig ist, daß sie eher ablenkt.
Selbst die vielgescholtene Wikipedia bringt die inzwischen überwiegende negative Bedeutung besser auf den Punkt.
Balzer definiert an einer Stelle:
'sehr viel Wert auf Empathie, Awareness, Achtsamkeit und Wachsamkeit - nichts anderes heißt "Wokeness"'
Wokeness als Charaktermerkmal einer woken Person. Wokeness ist aber längst ein ideologisches, politisches Konzept geworden, das ist etwas kategoriell anderes: die Sorgen bestimmter (willkürlich ausgewählter) Minderheiten werden als die zentralen sozialen Probleme positioniert, diese Minderheiten erhalten ein Anrecht auf bevorzugte Behandlung. Der Übergang vom erwünschten Charaktermerkmal zum politischen Konzept verläuft graduell, ist m.E. aber unvermeidbar. D.h. die spalterische Opferstatusideologie ist m.E. untrennbar mit dem Wokeness-Konzept verbunden.
Weiter sagt Balzer:
'nichts anderes heißt "Wokeness" ja erst einmal: Wachsamkeit gegenüber Diskriminierung jeglicher Art'
Balzer wird sicher Neonazis, Hooligans und diverse weitere unerfreuliche Gruppen so gut es geht an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit hindern, also diskriminieren wollen. Außerdem findet man vermutlich hunderte soziale Gruppen, die in irgendeiner Weise "unvorteilhaft" behandelt werden. Selbst ein gutwilliger Woker wäre völlig überfordert. Balzer greift auf den Begriff "Diskriminierung" zurück, der ist leider ausgesprochen unscharf und umstritten. Die selektive Empathie ist zwangsläufige Folge.
'Auf der Suche nach einer gleichberechtigten Welt ist es notwendig, sich selbst zu reflektieren.'
Balzer möchte ziemlich explizit "Konservative" daran hindern, "eine an die diverse Gesellschaft verloren geglaubte Machtposition wieder zurückzugewinnen". Demnach sind diese alten weißen Männer nicht gleichberechtigt. Insofern nehme ich ihm nicht so recht ab, er sei auf der Suche nach einer gleichberechtigten Welt. "Sich selbst zu reflektieren" halte ich jedenfalls für eine gute Idee.