Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #129
Rechtsstaat, politische Realitäten und Diskussionskultur
Prolog
Neulich kam ich durch Zufall mit einer Frau ins Gespräch, deren ausgeprägtes Sendungsbewusstsein nur Blinde und Taube bestritten hätten. Kaum hatten wir uns vorgestellt begann sie, mir ihre Ansichten zu den Themen Integration, Inklusion, Geschlechterpolitik und noch vielen anderen artverwandten Themen darzulegen. Um es zusammenzufassen: Ihrer Meinung nach gibt es keines dieser Themen, bei dem sich nicht Grundlegendes ändern muss. Natürlich in die von ihr präferierte Richtung, also nach Links. Manche hätten ihr sicher auch das Prädikat “woke” angeklebt.
Ich fand dieses Gespräch, das eigentlich ein Monolog war, deshalb so interessant, weil es mir mal wieder Einblick in das Denken dieses Milieus gab. Meine Ansichten zu diesen Themen behielt ich weitgehend für mich, weil keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion hatte. Was mir gefiel: Hier setzte sich jemand leidenschaftlich für Dinge ein, die er für richtig hielt. Ich merkte auch, dass sie durch umfangreiche Überlegungen zu ihren Ansichten gelangt war und gute Absichten hatte. Auch wenn ich in vielen Bereichen anderer Meinung war, fand ich sie sehr sympathisch und hörte gern zu.
Dieses Erlebnis hat mir einmal mehr gezeigt, dass man miteinander ins Gespräch kommen muss. Es ist wichtig, weiterhin zu wissen, was andere denken, um nicht zu vergessen, dass es auch abweichende legitime Standpunkte gibt. Zusätzlich erschwert persönlicher Kontakt die Dämonisierung Andersdenkender. In Netzwerken wie Twitter kann man ohnehin nur an der Oberfläche kratzen und selbst das ist aufgrund der extremen Lagerbildung kaum noch möglich. Soziale Medien funktionieren nach den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie. Empörung und Skandalisierung klicken besser als Differenzierung und Abwägung. Politiker und Aktivisten aller Lager lassen sich davon häufig mitreißen. Mich befremdet das zunehmend. Richtig interessante Diskussionen entstehen meiner Erfahrung nach nur offline. Ausnahmen bestätigen die Regel und ich bin froh, dass es immer noch Menschen gibt, die es versuchen.
Ich bekomme regelmäßig Zuschriften von schnappatmenden Absendern aus allen politischen Richtungen, in denen ich dafür gescholten werde, mich an der reinen Lehre versündigt zu haben. D'accord! Der legitime Platz des Liberalen ist zwischen allen Stühlen. Ich bin kein Teil einer Gruppe und das bleibt auch so.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um den Rechtsstaat, politische Realitäten und Diskussionskultur.
Politik und Gesellschaft
Seit geraumer Zeit beobachte ich mit Sorge die Geringschätzung gegenüber zentralen Elementen des Rechtsstaats. Besonders die Unschuldsvermutung mit Leidenschaft unter den Bus geworfen. Dabei zeigt sich immer häufiger, wie wichtig sie ist. Als jüngstes Beispiel kann der Freispruch von Kevin Spacey in allen Anklagepunkten gelten. Seine Kariere ist dennoch ruiniert und es ist unklar, ob er jemals wieder Fuß fasst.
Der US-Schauspieler Kevin Spacey ist im Londoner Strafprozess um sexuelle Übergriffe freigesprochen worden. Nach mehr als zwölfstündigen Beratungen in der britischen Hauptstadt befanden die Geschworenen den zweifachen Oscarpreisträger am Mittwoch in allen Anklagepunkten für nicht schuldig.
In dem etwa vierwöchigen Prozess am Southwark Crown Court hatten vier Männer dem Hollywoodstar vorgeworfen, dass er ihnen in mehreren Fällen in den Schritt gegriffen haben soll. In einem Fall ging es um oralen Geschlechtsverkehr.
Die Anklage hatte den Oscarpreisträger als »sexuellen Bully« bezeichnet, der seine Macht ausgenutzt habe. Spacey stritt die Vorwürfe ab, beziehungsweise gab an, es habe sich um einvernehmlichen Sex gehandelt.
Freispruch für Kevin Spacey - Spiegel
Dazu passt auch die Causa Till Lindemann. Dem Rammstein-Sänger werden seit einiger Zeit strafbare sexuelle Fehltritte vorgeworfen. Ohne dass es dafür bisher Beweise gibt, werden Konzertabsagen und noch weiter reichende Konsequenzen gefordert. Differenzierte Gespräche sind zu dem Thema nahezu unmöglich. Das Erwähnen der Unschuldsvermutung führt, wie meist bei solchen Themen, zum Vorwurf, man bezichtige Vergewaltigungsopfer der Lüge. Das ist natürlich gefährlicher Unfug. Nun gibt es in dieser Sache erste juristische Konsequenzen: Dem “Spiegel” wurden zentrale Vorwürfe seiner Verdachtsberichterstattung untersagt. Für wen Freisprüche in diesen Fällen grundsätzlich der Beleg für die Verschwörungstheorie eines Patriarchats bzw. der unzutreffenden Behauptung einer misogynen Gesellschaft ist, der hat sich nicht nur von Fakten und der Realität verabschiedet, sondern muss sich auch ein rein taktisches Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaat vorwerfen lassen.
Mitte Juni berichtete der Spiegel unter der Überschrift "Götterdämmerung" über Vorwürfe verschiedener Frauen gegenüber Till Lindemann. Dabei wurde auch über den Verdacht berichtet, Lindemann habe Frauen bei Konzerten der Gruppe "Rammstein" mit Alkohol, Drogen oder K.O.-Tropfen betäubt oder betäuben lassen, um ihm zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an den Frauen vornehmen zu können.
Nun verbot das Landgericht Hamburg (LG) mit einstweiliger Verfügung die Verbreitung dieses Verdachts. Das LG begründet dies mit einem fehlenden sogenannten "Mindestbestand an Beweistatsachen". Dabei handelt es sich um eine Voraussetzung für zulässige Verdachtsberichterstattung. Nach Auffassung des LG stützen die eidesstattlichen Versicherungen der im Beitrag zu Wort kommenden Frauen schon den Verdacht nicht, dass Lindemann Frauen zum Zwecke anschließender sexueller Handlungen betäubt habe.
Lindemann geht erfolgreich gegen Spiegel-Bericht vor - Legal Tribune Online
Einer der Anwälte Lindemanns, Simon Bergmann, äußert sich in einem Interview zu diesem Fall, aber auch zu Verdachtsberichterstattung im Allgemeinen.
Es gibt Vorwürfe, es gibt Indizien oder Zeugen oder auch nicht. Der Betroffene bestreitet es oder äußert sich nicht. Ob derjenige das getan hat, was jemand behauptet, das weiß man nicht. Das muss das Ermittlungsverfahren klären oder ein Gericht oder es klärt sich von selbst auf. Nur: Solange das eben nicht geklärt ist, hat der Beschuldigte als unschuldig zu gelten. Deswegen gibt es diese strengen Vorgaben vom Bundesgerichtshof über das Bundesverfassungsgericht bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Oder wie beim kanadisch-italienischen Moderator, Schauspieler und Komiker Luke Mockridge, ein anderer Fall, den ich betreut habe: Ein Ermittlungsverfahren ist sogar schon eingestellt worden von der Staatsanwaltschaft mangels hinreichenden Tatverdachts. Es gab eine Anzeige seiner Ex-Freundin, er habe versucht, sie zu vergewaltigen, und daraufhin hat die Staatsanwaltschaft über ein Jahr lang ermittelt.
Es hat mich schon gewundert, dass in dieser Zeit noch nichts erschien, denn meistens ist es so, dass die Presse von solchen Vorgängen doch Kenntnis erlangt. Manchmal gibt es Leaks bei den Behörden, denn so eine Akte geht durch viele Hände, manchmal sind es auch die Anzeigeerstatter selbst, die Journalisten einen Tipp geben, damit etwas in ihrem Sinne passiert.
Bei Mockridge kamen die Ermittler zum Ergebnis: Da ist nichts dran. Widersprüchliche Aussagen, Fremdsuggestion, Eifersucht, sie hat die Wohnung zerstört und ihn dann Monate später angezeigt. Trotzdem hat der Spiegel nach Einstellung der Ermittlungen „berichtet“. Und das hat ihm das Hanseatische Oberlandesgericht in zwei Instanzen mit Urteil vom 20. Juni 2023 untersagt. Umso mehr müsste nämlich in solchen Fällen die Unschuldsvermutung gelten.
Sexuelle Nötigung, sexueller Missbrauch oder gar Vergewaltigung, noch dazu unter Einsatz von K.O.-Tropfen, sind schwerwiegende Vorwürfe, die der Beschuldigte nie wieder los wird, selbst wenn er in einem Strafverfahren freigesprochen werden würde. Dementsprechend stark müssen die Indizien sein, um berichten zu können.
Ist das Voyeurismus, der da instrumentalisiert und umsatzmäßig ausgeschlachtet wird? Zumal man vom Privatleben der Band Rammstein so gut wie nichts weiß. Die schotten sich ab und erlauben keine Einblicke, schon gar keine Homestories; was erst recht neugierig macht.
Definitiv. Das ist ja auch mein Kritikpunkt. Die vermeintlichen Täter gehen mit ihrem Privatleben nicht hausieren. Bei Luke Mockridge war das Ermittlungsverfahren eingestellt, als die Berichte begannen, bei Rammstein wurden Verdachtsberichte zum Anlass eines Ermittlungsverfahrens genommen, beim Galeristen Johann König gab es überhaupt kein Ermittlungsverfahren, bis heute nicht, was Die Zeit nicht hinderte, gegen ihn loszulegen.
Die Zeit konnte schreiben, was sie will, aber die Staatsanwaltschaft hat das völlig kalt gelassen?
Richtig. So ist es. Die haben das alles kalt geschrieben. Im Fall Johann König gab es überhaupt nichts. Was aber die Zeit nicht daran gehindert hat, immer weiter zu machen. Und da haben wir auch im Fall Lindemann ein Problem. Ich kann natürlich verstehen, und es ist grundsätzlich zulässig, dass die Presse auch ohne ein begleitendes Ermittlungsverfahren über Verdachtsmomente berichtet, denn die Presse hat eine „Wachhund-Funktion“. Aber so leichtfertig, wie das inzwischen häufig geschieht, ist das hochproblematisch und wird zu Recht in vielen Fällen von den Gerichten untersagt.
Da kommt erstaunlich wenig, bedenkt man, was in den Artikeln und Schlagzeilen angekündigt wurde. Der Spiegel steht da exemplarisch für eine Vorgehensweise, die ich in zahlreichen MeToo-Berichterstattungen der jüngsten Zeit beobachte: Wenn es in dem Artikel heißt: Wir haben mit rund zwei Dutzend Frauen gesprochen und daraus ergibt sich ein bestimmtes Muster, ein System. Ein Mann, der Grenzen überschreitet. Ein Mann, der den Willen von Frauen nicht respektiert. Man liest den Artikel und denkt sich: Naja, zwei Dutzend Frauen – das hört sich aber doch ziemlich schlimm an. Da muss etwas dran sein. Und je höher die Zahl der Zeuginnen ist, um so mehr glaubt man, dass das stimmt.
Es geht im Text um das „Casting-System“, aber eben auch um den Vorwurf, Lindemann habe K.O.-Tropfen eingesetzt oder einsetzen lassen, um Frauen gefügig zu machen. Und nur diesen letzteren, diesen wirklich schwerwiegenden Vorwurf greifen wir auch an, weil das „Casting-System“ mehr eine Frage der moralischen Bewertung ist. Sie können fragen: Muss man heute noch mit Groupies ins Bett gehen, muss man eine „Auswahl“ vornehmen nach optischen Kriterien? Das kann man alles kritisch bewerten und den moralischen Zeigefinger erheben. Ich finde diese gespielte Empörung völlig überzogen. Für mich ist das eine puritanische Hypermoral, die da an den Tag gelegt wird.
Aber: Wenn es zu Straftaten gekommen sein sollte, dann möchte ich das nicht verteidigen. Ich kann es nur im Moment überhaupt nicht erkennen, jedenfalls nicht im Hinblick auf ein „Casting-System“. Und was die K.O.-Tropfen angeht, da habe ich nichts Relevantes in den vom Spiegel vorgelegten Unterlagen und Beweismitteln gefunden. Das hat mittlerweile auch das Landgericht Hamburg so bewertet.
Das Argument von Pressevertretern und Aktivistinnen, sie müssten es öffentlich machen, weil strafrechtlich ja eh nichts herauskomme und die Täter immer ungeschoren davonkämen, trifft nicht zu. Das ist natürlich eine fatale Tendenz, eine fatale Bewegung. Damit kann man jede Berichterstattung irgendwie rechtfertigen. Das wäre ein Dammbruch, wenn die Gerichte darauf eingingen. Dann würde ein Vorwurf ausreichen, darüber zu berichten, so wie jetzt auch im Fall Lindemann teilweise unter detaillierter Darstellung intimster Sexualpraktiken vorgegangen wird.
Eigentlich ist das Intimsphäre pur, ein geschützter Bereich, der die Öffentlichkeit überhaupt nichts angeht. Das hat in einer Berichterstattung nichts zu suchen. Man rechtfertigt es hier damit, dass es darum gehe, dieses „Casting-System“ und dessen vermeintliche Perversion zu dokumentieren. Und man will nahelegen, dass die Frauen angeblich mit K.O.-Tropfen in einen Zustand der Bewusstlosigkeit versetzt wurden, weil sie sich nicht mehr an alles erinnern.
Das Bild der selbstbestimmten Frau, die Sex mit Lindemann aus welchen Gründen auch immer gezielt sucht, findet nicht einmal als theoretische Möglichkeit statt.
Im Prinzip werden alle Frauen zu Opfern gemacht, die mit einem Prominenten ins Bett gehen.
Die beiden Fälle werden gleichgestellt. Da steht immer ein Foto von Weinstein dabei, meist vor Gericht, sehr heuchlerisch nach dem Motto „Mit Weinstein begann alles und auch dort begann alles mit einer einzelnen Frau…“ – es wird also suggeriert, so könnte auch Till Lindemann enden. Wegen schwerer Sexualstraftaten, was nach aktuellem Sachstand nicht ansatzweise in Betracht kommt und übrigens nicht einmal von den Vorwürfen, die der Spiegel erhebt, gedeckt ist: Zu den K.O.-Tropfen habe ich in der Akte nichts gefunden an Beweismitteln. Der Spiegel rudert an dieser Stelle auch schon zurück und sagt, diesen Verdacht habe er gar nicht erhoben, sondern er sei in erster Linie auf dieses „Casting-System“ zu sprechen gekommen und eben auf Machtmissbrauch.
Also es musste erst der Spiegel kommen und mit seinen 13 Autoren das ganze Bild erstellen und erst aus diesem ergab sich dann der Vorwurf des Machtmissbrauchs – das ist die redaktionelle Linie und Beweisführung?
Es hat auch keine der Frauen selbst Strafanzeige erstattet oder selbst Schritte eingeleitet, bis heute nicht. Das ist ja auch ein Indiz dafür, dass sie die Vorgänge selbst als freiwillig angesehen haben. Was bleibt, ist die Darstellung von zwei Frauen, sie könnten sich vorstellen, dass ihnen etwas ins Getränk getan wurde. Das sagen sie nicht ausdrücklich – sie sprechen von Erinnerungslücken. An andere Sachen erinnern sie sich wiederum sehr detailliert. Es gibt nach ihren Aussagen Flashbacks, es gibt Aussetzer.
„Schlimmer als ,Bild‘“ - Cicero
Viel Wirbel gab es um die Aussagen von Friedrich Merz zu der Frage einer “Zusammenarbeit” mit der AfD auf kommunaler Ebene. Ihm wurde unterstellt, er risse damit die Brandmauer nieder und öffne die CDU nach Rechts. Das übliche Gekreische derer, die sich mit Fakten nur dann befassen, wenn sie in ihr Weltbild passen. Merz beschrieb nämlich nichts anderes als das, was zum Beispiel SPD und Grüne auf kommunaler Ebene seit Jahren tun. Es ist längst politische Realität, weil es gar nicht anders geht. Es ist richtig, dass er eine echte Zusammenarbeit auf bundespolitischer Ebene oder in Gesetzgebungsverfahren ausschließt. Die in letzter Zeit laut gewordene Kritik beweist einfach nur die Unkenntnis gegenüber der Lokalpolitik. Ein Beispiel: Die CDU stellt einen Antrag, die AfD ist dafür. Soll die CDU diesen dann zurückziehen, weil AfD-Stimmen eine “Zusammenarbeit” wären. Das ist an Realitätsferne nicht zu übertreffen und gibt der AfD eine Macht, die sie nicht haben sollte. Wolfgang Bosbach hat zu diesem Thema das Richtige gesagt. Politiker mit Rückrat wie ihn, gibt es immer noch in allen Parteien. Sie gelangen leider kaum noch in die erste Reihe.
Die Technische Universität Dresden hat eine Studie durchgeführt, in der etwas herauskam, was ich persönlich aus meinem bisherigen Erleben seit der Jugend bestätigen kann. Menschen links der Mitte tragen zwar meist den Wert der Toleranz wie eine Monstranz vor sich her, leben ihn aber nur selten. Toleranz wird in diesen Kreisen häufig nur gegenüber Meinungen aufgebracht, die dort ohnehin geteilt werden. Echte Toleranz zeigt sich eben erst, wenn es ungemütlich wird.
Aber nimmt dieses Phänomen in Deutschland tatsächlich zu? Eine Studie des Mercator Forums für Migration und Demokratie an der Technischen Universität Dresden ist dieser Frage nachgegangen. Die Forscher haben dabei aber nicht nur die deutsche Gesellschaft untersucht, sondern auch neun andere europäische Länder.
Im Herbst 2022 befragten sie in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut YouGov dazu etwa 20.000 Menschen aus Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Polen, Schweden, Spanien, der Tschechischen Republik und Ungarn nach ihrer eigenen politischen Haltung und ihrer Wahrnehmung des politischen Gegenübers.
So fanden die Forscher heraus, dass Wähler linker und grüner Parteien Menschen mit anderen Ansichten stärker ablehnen als Menschen, die sich eher im rechten politischen Spektrum verorten, besonders bei Themen wie dem Klimawandel und dem Umgang mit Pandemien. Einzig in Deutschland liegen Anhänger der AfD beim Grad der Polarisierung knapp vor den Grün-Wählern. Allerdings sind die Unterschiede nicht statistisch signifikant – links und rechts liegen in etwa gleichauf. Die geringste Ablehnung gegenüber Menschen mit anderen Positionen sah die Studie bei FDP-Wählern, gefolgt von Christdemokraten und Nicht-Wählern.
Worin genau dieses Phänomen seinen Ursprung findet, da sind sich die Forscher noch uneins. Als mögliche Gründe führen sie mediale Diskurse, politische Konfrontationen oder schlicht eine sehr überzeugte politische Gesinnung auf. Sie betonen, dass gesellschaftliche Diskurse grundsätzlich zu begrüßen sind. Gefährlich werde es aber, wenn die politische Meinung, wie beim Phänomen der affektiven Polarisierung, zu einem Teil der Identität werde.
Linke lehnen die Meinungen anderer stärker ab - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Wahl von Ferda Ataman zur Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung hielt ich aus mehreren Gründen für einen Fehler. Nun wurde ich in meiner Meinung bestärkt. Ataman möchte nämlich die Beweislast bei Diskriminierungsfällen umkehren. Eine behauptete Diskriminierung soll der vermeintlich Diskriminierte in Zukunft nicht mehr beweisen müssen. Das Erfordernis, eine Benachteiligung und Indizien nachzuweisen, solle auf die Glaubhaftmachung herabgesenkt werden. Das löste berechtigte Kritik vor allem seitens der FDP aus. Für mich ist das Ganze keine Überraschung, Atamans Mindset war bekannt. Hätte die FDP sie verhindert, müsste sie jetzt nicht empört sein. Es ist ein großes Problem, dass Aktivisten und Lobbyisten in der Bundesregierung sitzen, oder anderweitig für sie tätig sind. Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßlerhält dieses Vorhaben sogar für grundgesetzwidrig.
Wenn die Forderung von Ferda Ataman umgesetzt würde, wäre das eine starke Gefährdung der Freiheit. Man könnte ganz einfach eine Behauptung aufstellen, um jemanden vor Gericht zu bringen. Wir erleben das ja im Augenblick, wie mit einer unheimlich großen Wirkung in der Öffentlichkeit oder auf Social Media schnell Behauptungen aufgestellt werden. Am Ende stellt sich oft heraus, dass eigentlich kaum was dran war. Diese Beweislastumkehr würde auch den Missbrauch von Diskriminierungsklagen sehr erleichtern.
Wenn ich den Vorschlag der Antidiskriminierungsbeauftragten richtig verstehe, will sie aber eine generelle Beweislastumkehr und nicht nur bei einzelnen Aspekten.
Richtig, und das verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip. Nach diesem Vorschlag können Sie eine Klage auf eine bloße Behauptung stützen. Das passt nicht zum Rechtsstaat. Sie können nicht wie im Mittelalter bloße Behauptungen aufstellen, die dann zu einem Prozess führen. Es geht nicht, dass jemand sagt: „Die Frau hat sich komisch benommen, das ist eine Hexe!“ Und dann fängt der Hexenprozess der Inquisition an. Das hat nichts mit dem Rechtsstaatsprinzip zu tun. Wir haben Jahrhunderte dafür gekämpft, dass wir einen Rechtsstaat haben. Der ist wertvoll.
Dann gibt es noch die Forderung nach einem „altruistischen Klagerecht“. Was bedeutet das?
Altruistisches Klagerecht heißt, dass Frau Ataman sich alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft anschauen könnte, und wenn sie irgendwo das Gefühl hat, dass Diskriminierung stattfindet, könnte sie Klage erheben. Und das unabhängig davon, ob die Menschen, die – vielleicht – diskriminiert sind, eine Klage wollen oder nicht. Sie will Überwachungskompetenzen haben und die Überwachung ausweiten. Das heißt, jedes Unternehmen würde sich von ihr überwacht fühlen. Wenn ein Gerücht auftauchen würde, dass jemand – vielleicht – diskriminiert wird, dann bestünde die Gefahr, dass Frau Ataman eingreift und Klage erhebt. Das fördert eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens.
Bekäme sie damit nicht Kompetenzen, die eigentlich der Staatsanwaltschaft obliegen?
Ja, so ähnlich, und das ist auch nicht die Aufgabe der Antidiskriminierungsstelle. Die soll aufklären, beraten, forschen und Öffentlichkeitsarbeit machen und keine Kontroll-, Aufsichts-, und Überwachungsfunktion übernehmen. Ataman würde aus ihrer Beratungsstelle eine staatliche Überwachungsbehörde machen. Und das geht nicht. Selbst wenn der Bundestag das unbedingt will und das politisch durchgesetzt würde, bleibt immer noch die Frage, ob so eine Behörde mit so weitreichenden Befugnissen überhaupt noch verhältnismäßig wäre.
Eine freiwillige Schlichtung ist natürlich kein Problem. Aber hier wird gefordert, dass die Schlichtung verpflichtend ist. Wenn ein Betroffener Sie beschuldigt, dann könnten Sie von der Schlichtungsstelle der Antidiskriminierungsbeauftragten gezwungen werden, teilzunehmen. Wenn ich das richtig lese, würde Ihnen sogar die Möglichkeit abgeschnitten werden, dann vor Gericht zu gehen. Dieser Vorschlag kann gar nicht umgesetzt werden; er ist verfassungswidrig. Jeder muss Möglichkeiten haben, Rechtsschutz anzurufen, das ist dem Grundgesetz wichtig.
Die Antidiskriminierungsbeauftragte will also zuerst die Beweislast umkehren, dann will sie sich in ihrer Funktion als Bundesbeauftragte zum Kläger erheben und dann selbst noch Schlichtungsverfahren führen. Richtig?
Alles in einer Hand sozusagen. Aber sie gehört zur Exekutive, also zur ausführenden Staatsgewalt, und will jetzt auch rechtsprechende Aufgaben übernehmen. Das geht gar nicht. Da vermischt sie zwei Staatsgewalten. Das verletzt den Rechtsstaatsgrundsatz in Form des Gewaltenteilungsprinzips. Das wäre verfassungswidrig.
Frau Ataman kommt aus der Aktivistenszene. Ihre Funktion jetzt ist aber eine ganz andere. Jetzt hat sie eine staatliche Funktion als unabhängige Beauftragte und muss das Allgemeinwohl stärker im Blick haben. Meines Erachtens schafft sie diesen Rollenwechsel nicht. Jedenfalls nicht mit diesem Dokument. Es ist aus der Aktivistenperspektive geschrieben. Es geht ausschließlich und einseitig um die – natürlich wichtige – Vermeidung von Diskriminierungen. Aber als Staatsvertreterin müsste sie auch das große Ganze – und vor allem auch die Verfassung – im Blick haben. Und das hat sie nicht.
„Eine Verletzung der Gewaltenteilung“ - Cicero
Die Cancel Culture, die es gar nicht gibt, hat ein weiteres Opfer gefordert: den Althistoriker Egon Flaig.
Vor zwei Wochen war der Althistoriker Egon Flaig an die Universität Erlangen eingeladen, um mit einem Abendvortrag ein Symposium zum Thema „Freiheit“ zu eröffnen.
Flaig ist einer der wenigen Vertreter seines Fachs, die auch außerhalb der Fachwelt bekannt sind. Bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Rostock inne, noch immer ist er regelmäßig in großen Zeitungen mit Aufsätzen vertreten.
Vor wenigen Monaten erst erschien von ihm ein viel beachteter Text, mit dem er sich in die Postkolonialismus-Debatte einmischte. Flaig wies in dem Artikel darauf hin, dass der Sklavenhandel nicht nur weiße, sondern auch schwarze Täter kannte – und auch weiße Opfer.
Eine Million Europäer haben die Araber in die Sklaverei geführt, eine Zahl, die zeigt, dass der Wunsch nach historischer Wiedergutmachung nicht so leicht zu erfüllen ist, wie manche meinen.
Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.
Eine Woche vor dem geplanten Auftritt in Erlangen erreichte Flaig ein Schreiben des Professors, der ihn eingeladen hatte, des Archäologen Andreas Grüner. Mit dem größten Bedauern sehe er sich gezwungen, die Einladung zurückzuziehen, schrieb Grüner.
Was war geschehen? Das fragte sich auch Flaig und bat um Rückruf. Am Telefon darauf: Ein zerknirschter Kollege, der beteuerte, wie leid ihm alles tue. Man habe sich schon sehr auf den Vortrag gefreut, aber dann habe sich der Dekan der Universität eingeschaltet, ob man wirklich einem wie Flaig eine Plattform bieten wolle?
Auf Flaigs Hinweis, als Professor stehe Grüner doch frei zu entscheiden, wen er einlade und wen nicht, bat dieser noch einmal um Entschuldigung. Er müsse an die jungen Leute denken.
Würde er bei seiner Einladung bleiben, würde das möglicherweise Kreise ziehen und die wissenschaftlichen Mitarbeiter Repressalien aussetzen. Es täte ihm furchtbar, furchtbar leid, aber ihm bleibe keine andere Wahl.
Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit. Der Fall Flaig ist dabei so interessant, weil er die Grenze verschiebt, von der offenen Auseinandersetzung ins Heimliche und Verdeckte.
Bis heute ist unklar, woher die Initiative zur Ausladung kam. War es der AStA, der sich beschwerte? Oder ein Kollege, der fand, dass jemand, der daran erinnert, dass der Sklavenhandel auch schwarze Nutznießer hatte, nicht nach Erlangen passt?
Man darf sich nicht vertun: Eine Ausladung wie die in Erlangen hat Folgen. Andere Fakultäten werden sich gut überlegen, ob sie noch eine Einladung aussprechen. Es braucht nicht viel, um sich das Gespräch vorzustellen.„Ach, muss es der XY sein? Der ist doch so umstritten. Lass uns jemand anderes nehmen.“
Die Zeit, als umstritten zu sein, noch ein Grund war, jemanden erst recht zu bitten, ist lange vorbei. Heute ist das ein Todesurteil.
Das ist das Gemeine: Wenn man gar nicht erst eingeladen wird, braucht es anschließend keine Ausladung mehr. Dann ist man gecancelt, ohne beweisen zu können, dass man gecancelt wurde. Genauso ist es auch bezweckt.
Die Geschichte eines Sprechverbots: An der Uni wird wieder der bestraft, der anders denkt - Focus
Ronya Othmann hat einen gelungenen Artikel über falsch verstandene Diversität und darüber geschrieben, was sie teilweise erlebt.
Aber diese Diversity-Geschichten hört man nicht nur, wenn es um Personalentscheidungen, die Deutsche-Bahn-Werbung oder den Cast von Germany’s Next Topmodel geht. Geistert man als freie Autorin mit sogenanntem Migrationshintergrund durch die Republik, kommt einem allerlei Merkwürdiges unter. Mal heißt es: „Sorry, wir haben jetzt doch schon eine Autorin mit Migrationshintergrund auf dem Podium, wir brauchen keine zweite.“ Mal erzählt einem ein Kollege, er habe es so viel schwerer als man selbst, schließlich sei er ein weißer heterosexueller Mann und gehöre auch sonst keiner Minderheit an.
Man überlegt kurz, ob man sich bei ihm dafür entschuldigen oder gleich einen Streit anfangen soll – und entscheidet sich dafür, sich eine Zigarette anzuzünden, obwohl es zum Rauchen eigentlich zu heiß ist. Dann sitzt man mit anderen Kollegen mit sogenanntem Migrations- oder Minderheits-Hintergrund (Bindestrich-Bäh) auf einem Podium. Alle haben in großen Publikumsverlagen publiziert, sind mit Preisen dekoriert und sprechen trotzdem darüber, wie marginalisiert sie seien.
Es ist ja auch nicht alles schlecht. Angesichts der um sich greifenden Betroffenheits- und Sprecherpositions-Diskussionen – wer darf über was sprechen? – kann man zumindest manchmal etwas sagen. Zu Islamismus zum Beispiel, da hört man ja von anderen Dinge wie (O-Ton eines Journalisten-Kollegen): „Ich würde ja auch gerne was dazu machen, aber als weißer Mann wirft man mir sofort Rassismus vor.“ Lieber Markus, mach dir keine Sorgen, auch Leuten wie mir wirft man Rassismus vor, wenn wir über Islamismus sprechen. Und noch dazu Tokenism – auch so ein schönes Wort –, was so viel heißt wie: Man sage bestimmte Dinge nur, um Fleißsternchen bei der weißen Mehrheitsgesellschaft (ohne Bindestrich, aber trotzdem Bäh) zu sammeln. Allgemein ist man ziemlich ratlos und merkt, wie sich dieses Sprecher-Positionen-Betroffenheitsding gegen und für einen dreht und wendet, je nachdem, wie der Wind gerade geht.
Hintergrund mit Bindestrich - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes. Anna Schneider und Richard David Prescht diskutieren zivilisiert miteinander. Ein weiteres Beispiel dafür, dass es auch zwischen Menschen mit großen weltanschaulichen Unterschieden Gemeinsamkeiten gibt.
In der Runde mit Carsten Linnemann diskutieren die beiden Top-Gäste über die Polarisierung der Gesellschaft, über das Verhältnis von Bürger und Staat, die Balance von Pflicht und Freiheit und darüber, wie der Ruck aussehen sollte, der durch unser Land gehen muss. Anna Schneider (32) beschreibt sich selbst als „brutalliberal“ – und so lebt und arbeitet sie auch. Ob bei Twitter, in Talkshows, in Artikeln und Kommentaren in der Welt oder in ihrem Buch „Freiheit beginnt beim Ich“: Anna Schneider spitzt zu, rüttelt auf, eckt auch gerne an und sucht ganz bewusst die Auseinandersetzung mit dem aus ihrer Sicht linken Mainstream. Richard David Precht (58) ist einer der meistgelesenen Philosophen unserer Zeit. In fast allen Gegenwarts- und Zukunftsfragen hat seine Stimme Gewicht. Und auch er nimmt kein Blatt vor den Mund, traut sich, die Dinge beim Namen zu nennen – auch wenn es dafür Gegenwind geben sollte.
Ein Vortrag von Prof. em. Dr. Ulrich Herbert über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der alten und neuen Rechten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es verschiedene Versuche einer Wiederbelebung des nationalsozialistischen Gedankenguts. Sie mündeten schließlich 1964 in die Gründung der NPD, die noch deutlich von den alten Kadern der NSDAP dominiert wurde. Seit den 1970er Jahren waren hingegen neue Impulse bemerkbar, insbesondere in den verschiedenen Gruppierungen der „Neonazis", die zu den alten Nazigrößen nur noch indirekt in Verbindung standen und habituell doch eher als neues, spezifisch bundesrepublikanisches Phänomen zu erkennen waren. Nach der Wiedervereinigung entstand in der Verbindung von westdeutschen Neonazis und der bis 1990 unterdrückten ostdeutschen rechtsradikalen Jugendbewegung eine neue Melange aus Alter und Neuer Rechter. Zugleich bildete sich ein Netzwerk intellektueller Rechter heraus, die etwa mit den „Identitären" einen Zusammenhang schufen und mit der alten, auf die NS-Zeit orientierten rechten Szene nur noch den Bezug auf einige ideologische Grundannahmen teilen. Ob es gelingt, diese Tendenzen in der AfD zu vereinen, ist offen. Hierbei sind auch die internationalen und transnationalen Bezüge aufschlussreich.
Eine interessante Diskussion zum Thema:„‘Rechts‘? Zur Abgrenzung des politisch Legitimen“.
Vor zwei Jahren veröffentlichte das Institut für Demoskopie Allensbach eine Umfrage zur Meinungsfreiheit in Deutschland: Weniger als die Hälfte der Befragten vertrat demzufolge die Auffassung, die eigene Meinung frei äußern zu können. Vor allem über „heikle Themen“ könne nicht offen gesprochen werden: Islam und Migration ebenso wie gegenderte Sprache, die schon im Juni 2021 auf breite Ablehnung stieß. Die Allensbach-Umfrage war ein Alarmsignal für die politische Öffentlichkeit, Debattenräume zu erweitern, und für die demokratischen Parteien, Positionen zu adressieren, die von einem medial vorherrschenden grün-linken Narrativ abweichen. Das ist jedoch nicht geschehen. Stattdessen werden Meinungen schnell als „rechts“ etikettiert, um sie zu delegitimieren und aus der öffentlichen Debatte auszuschließen. Demokratische Integration erfordert die öffentliche Artikulation und die politische Repräsentation aller demokratisch legitimen Positionen. Daher fragt die Denkfabrik R21: Was sind legitime rechte Positionen, denen die Debattenräume wieder geöffnet werden müssen – und wo verlaufen die „roten Linien“ zu einer illegitimen und undemokratischen Rechten?
Kultur
Bereits im Februar wurde an der Universität Flensburg auf Bestreben des “Gleichstellungs- und Diversitätsausschusses” die Statue “Primavera” des Bildhauers Fritz During entfernt. Sie zeigt den stilisierten Körper einer offenbar nackten Frau mit hinter dem Kopf verschränkten Armen. Sie stand seit Jahren im Foyer der Universität. Martina Spirgatis, Gleichstellungsbeauftragte der Universität, störte sich am ihrer Meinung nach überkommenen Frauenbild. Offensichtlich haben sich auch Studenten unwohl gefühlt. Es beweist die Bildungsdefizite in der heutigen Aktivistengeneration, dass das Werk eines Künstlers unter dubiosen Umständen entfernt wird, welcher Schüler von Ludwig Gies, einem von den Nationalsozialisten als “entartet” eingestuften Künstlers war. Sonst werden gern historische Kontinuitäten bemüht, hier sieht man sie nicht.
Nun kann man niemandem vorschreiben, was sie zu empfinden hat, wenn sie Kunst betrachtet. Und ein jeder ist aufgerufen, einem anderem mit Empathie zu begegnen und zu versuchen, das negative Empfinden zu verstehen.
Man kann aber davon ausgehen, dass solche Befindlichkeiten so divers sind wie unsere Gesellschaft. Diese kann wiederum nicht auf jedes Partialgefühl reagieren und die Umwelt entsprechend einrichten. Es wäre auch schade um Michelangelos David oder Rembrandts feiste Frauen.
Stattdessen kann man von einer stadt- und weltoffenen sowie wertegeleiteten wissenschaftlichen Einrichtung wie einer Universität erwarten, dass ihre Besucher die Toleranz für ihre Umwelt mitbringen, die sie auch von anderen fordern.
Der von mir sehr geschätzte Bernhard Roetzel hat bereit 2017 ein interessantes Interview zum Thema Stil gegeben, welches mir vor ein paar Tagen wieder in die Hände fiel. Es hat nichts an Aktualität eingebüßt.
Herr Roetzel, in diesem Jahr war zuletzt viel die Rede von Abgehängten der Gesellschaft. Wer ist für Sie modisch abgehängt?
Wer sich stillos kleidet, hängt sich selbst ab. Und das machen leider inzwischen auch viele gebildete oder wohlhabende Leute. Einige bewusst, um eine Haltung zu demonstrieren. Andere aus Unwissenheit. Ignoranz ist allerdings keine Entschuldigung für unpassende Kleidung.
Woran liegt es, dass – obwohl Kleidung so günstig geworden ist – immer noch relativ wenige Menschen sich dem Anlass gemäß anziehen?
Es geht nicht darum, dass sich noch zu wenige Menschen anlassgerecht kleiden, vielmehr dass es immer weniger Menschen tun. Wolfgang Koeppen beschreibt in seinem Roman „Der Tod in Rom“, der Anfang der Fünfziger spielt, wie ein Komponist nach der Aufführung seiner Symphonie nicht auf der Bühne vor das Publikum treten will, weil er keinen Frack trägt. Selbst in den Siebzigern war es noch relativ üblich, dass man sich bei feierlichen oder ernsten Anlässen angemessen gekleidet hat. Natürlich gab es damals schon sogenannte Nonkonformisten, die Krawatten wegließen oder im Theater in Sandalen erschienen. Die fielen damals aber noch auf. Heute fällt man auf, wenn man im Theater einen dunklen Anzug trägt.
Zwischen den verschiedenen Schichten gibt es auch modisch Unterschiede. Welche haben Sie identifiziert?
Ich habe manchmal das Gefühl, dass es diese Unterschiede nicht mehr gibt. Wenn wir die Schichtzugehörigkeit am Bildungsgrad festmachen, sind sie kaum noch zu erkennen. Heute tragen viele Akademiker praktisch die gleiche Kleidung wie Hilfsarbeiter ohne Schulabschluss. Selbst wenn wir die Schicht am Einkommen oder Vermögen festmachen, sind Unterschiede nur noch minimal. Gucken Sie sich die sogenannte Prominenz an. Nur noch ganz selten trifft man Vertreter verschiedener Schichten an, die sich noch so kleiden, wie es vor vierzig oder sechzig Jahren üblich war. Also den Reeder aus Hamburg mit Villa im Elbvorort, der eine alte Tweedjacke von der Savile Row trägt, alte, aber gepflegte Brogues, einen uralten Gabardinemantel. Das sind Exoten, die man nur noch in Reservaten trifft, wie in bestimmten Teilen von München oder auch in Wien.
Welche Gemeinsamkeiten gibt es etwa im Allgemeinen zwischen einem Hartz-IV-Empfänger, dem Durchschnittsverdiener und dem Chefarzt?
Erstaunlich viele. Alle drei kaufen heute in der Mehrheit möglichst billige Kleidung, sie lieben es bequem und pflegeleicht, und alle drei haben oftmals eine Vorliebe für die sogenannte Funktionskleidung. Natürlich ist der Einkauf im Discounter für den Hartz-IV-Empfänger oftmals eine Notwendigkeit, beim Reichen dagegen Koketterie, manchmal geradezu eine Obszönität.
Ich kenne übrigens auch Hartz-IV-Empfänger, die ihr Geld nicht zu den Billigtextilketten tragen und stattdessen von den Beständen aus besseren Zeiten zehren, die ihre Kleidung hegen und pflegen, sie stopfen, flicken und ausbessern. Diese Art von Sparsamkeit trifft man heute außer bei Grünen der alten Schule nur bei Adeligen und Leuten aus Familien mit altem Geld.
Ist Stil abhängig vom Elternhaus und vom Geldbeutel?
Nicht zwingend. Sehr viele Kinder haben nichts mit dem Stil ihrer Eltern gemeinsam. Und sehr viele reiche Leute haben sehr wenig Stil. Aber man beobachtet schon häufig, dass Kinder aus Familien, in denen von der Einrichtung des Hauses bis zur Kleidung alles klassisch, gediegen, geschmackvoll und fein ist, sich nach ein paar Jugendtorheiten in ähnlicher Weise einrichten und kleiden. Aber es geht natürlich auch anders.
Warum sollte man sich an Konventionen halten? Etwa den Smoking nur abends tragen und mit schwarzen Schuhen, sowieso braune Schuhe nie abends im Konzert . . .
Konventionen sind Spielregeln. Nicht mehr und nicht weniger. Wer sich nicht daran hält, begeht kein Verbrechen, da gibt es wirklich Schlimmeres. Aber er ist ein Spielverderber. Natürlich sollten die Regeln bekannt sein. Als Veranstalter bin ich insofern selbst schuld, wenn ich keine Spielregeln aufstelle. In den oft als stillos geltenden Vereinigten Staaten gibt es durchaus noch einige Orte, an denen ein strenger Dresscode vorgeschrieben ist. Wer sich daran stört, kann woanders hingehen. Das trauen wir uns in Deutschland aber nicht mehr oder noch nicht wieder.
„Wer sich stillos kleidet, hängt sich selbst ab“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Jane Birkin ist gestorben. Zum ersten Mal sah ich sie in einer Nebenrolle in meinem Lieblingsfilm „Blow Up“. Als wichtiger Teil des popkulturellen Kanons hat sie mich den Großteil meines Lebens begleitet. Eine tolle Frau, deren Tod mich wirklich berührt hat. Ihr zu Ehren gibt es in dieser Woche keine Coverversion, sondern eine sehenswerte Dokumentation. Ruhe in Frieden.
Epilog
Wurde Ihnen diese Publikation weitergeleitet? Melden Sie sich für “Marcellus Maximus meint.” an, um den Newsletter in Zukunft bequem über Ihr Emailpostfach zu empfangen.
Wenn Ihnen diese Ausgabe gefallen hat, leiten Sie sie gern an Freunde und Bekannte weiter. Danke im Voraus! Natürlich freue ich mich auch über Ihre Kommentare.
Folgen Sie mir bei Interesse gern in den sozialen Medien. Bei Twitter können Sie zusätzlich die #FreeBlackTwitterGermany-Liste für schwarze Meinungsvielfalt im deutschsprachigen Raum abonnieren.
Anmerkung zum Interview mit Volker Boehme-Nessler: Die Verfassungsfeindlichkeit der Pläne von Frau Ataman selbst für juristische Laien offensichtlich, aber gut, daß Herr Boehme-Nessler es noch einmal klar formuliert. Nicht einverstanden bin ich mit seiner Bewertung:
"Frau Ataman kommt aus der Aktivistenszene. Ihre Funktion jetzt ist aber eine ganz andere. Jetzt hat sie eine staatliche Funktion als unabhängige Beauftragte und muss das Allgemeinwohl stärker im Blick haben."
Das Allgemeinwohl nicht im Blick zu haben, also irgendwie nicht altruistisch genug zu agieren, ist etwas anderes als elementare Konzepte unserer Verfassung außer Kraft setzen zu wollen und als geistiger Brandstifter für Verfassungsfeinde zu agieren. Wo ist da noch ein Unterschied zur Verfassungsfeindlichkeit von Reichsbürgern, die ebenfalls glauben, sie könnten "Alles in einer Hand" selber übernehmen?
Allein der Satz "Der legitime Platz des Liberalen ist zwischen allen Stühlen." rechtfertigt die Anschaffung eines Poesiealbums. Danke dafür