Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #7
Ich freue mich sehr, dass der Newsletter soviel Anklang findet. Einige haben mich bereits deshalb kontaktiert. Auch Einreichungen von interessanten Artikeln sind immer gern gesehen. Ob ich diese dann verwende, kann ich natürlich nicht versprechen. Diese Woche geht es unter Anderem um angebliche Stammbaumforschung, ein gekipptes Paritätsgesetz, ein Plädoyer für Kernkraft und mal wieder um die freie Debatte.
Nun aber los.
Politik/Gesellschaft
Eines der Hauptthemen der Woche war die Frage, ob der Stuttgarter Polizeipräsident die Abfragen der Ermittler zu den Staatsangehörigkeiten der Eltern einiger Verdächtiger (im Zuge der Ermittlungen zu den Krawallen Ende Juni) bei den Standesämtern als „Stammbaumrecherchen“ bezeichnet hatte. Dies hatte die “Stuttgarter Zeitung” berichtet und die Polizei sofort dementiert. Nach Auswertung des Tonprotokolls stellte sich heraus, dass es sich tatsächlich um eine Falschmeldung handelte. Daraufhin drehte sich die Diskussion und es hiess auf einmal, der Begriff sei gar nicht das Problem, das Vorgehen sei es. Abgesehen davon, dass das natürlich nicht stimmt, ist diese Praxis, die für die Prävention sehr wichtig ist, von der Strafprozessordnung gedeckt und wird nicht nur bei Migranten angewendet. Den besten Text zu der Angelegenheit hat wieder einmal Thomas Fischer im “Spiegel” geschrieben.
Jetzt kommen ganz große Linien: “Stammbaumforschung” ist Racial Profiling ist “belastet” ist furchtbar. Man könnte, bevor man den Empörungsturbo einschaltet, mal kurz fragen, was Stammbaum und Profiling überhaupt miteinander zu tun haben könnten. Denn es war ja - siehe oben - so, dass bei Menschen, deren “Hintergrund” nicht bekannt war, geprüft werden soll, ob er “migrantisch” ist. Das ist, wenn man sich’s genau überlegt, das Gegenteil eines “Racial” Profiling, da ja die nationale oder ethnische Herkunft gar nicht Anlass einer Kontrolle, sondern eine Ermittlungsfrage im Anschluss an einen ganz neutralen Anlass ist. Darauf kommt es aber nicht an, wenn die Erkenntniskraft des puren Willens ans Werk geht.
Stuttgart und die "Stammbaumforschung": Der Stammbaum - Kolumne - DER SPIEGEL
In Stuttgart, so wurde berichtet, werde von der Polizei rassistische “Stammbaumforschung” betrieben. Ein erstaunlicher Vorwurf zwischen sachferner Hyperventilation und rührender Selbstentlarvung.
Die Diskussion um freie Debatte und die sogenannten “cancel culture” ist endlich auch in Deutschland in vollem Gange. Wesentlich dazu beigetragen hat ein Brief zahlreicher Intellektueller, über den ich in der letzten Ausgabe berichtete. Worum es hier in der Vergangenheit ebenfalls ging, war die Kündigung des Leiters des Meinungsressorts der “New York Times”, weil er den Gastbeitrag eines republikanischen Senators gedruckt hatte, in dem dieser den Einsatz des Militärs gegen gewalttätige Plünderer (Nein, nicht gegen friedliche Demonstranten.) im Rahmen der “Black Lives Matter”-Märsche forderte. Nun hat die Zeitung einen weiteren Abgang in der “Opinion”-Redaktion zu verzeichnen: Bari Weiss, die den oben erwähnten Aufruf ebenfalls unterzeichnete und ursprünglich dafür eingestellt worden war, um das Meinungsspektrum des Blattes zu erweitern, hat ihren Hut genommen. Ihre Gründe, die sie in einem langen und brilliant formulierten Kündigungsschreiben an Verleger A. G. Sulzberger dargelegt hat, werfen kein gutes Licht auf die Zeitung.
But the lessons that ought to have followed the election—lessons about the importance of understanding other Americans, the necessity of resisting tribalism, and the centrality of the free exchange of ideas to a democratic society—have not been learned. Instead, a new consensus has emerged in the press, but perhaps especially at this paper: that truth isn’t a process of collective discovery, but an orthodoxy already known to an enlightened few whose job is to inform everyone else.
Stories are chosen and told in a way to satisfy the narrowest of audiences, rather than to allow a curious public to read about the world and then draw their own conclusions.
But the truth is that intellectual curiosity—let alone risk-taking—is now a liability at The Times. Why edit something challenging to our readers, or write something bold only to go through the numbing process of making it ideologically kosher, when we can assure ourselves of job security (and clicks) by publishing our 4000th op-ed arguing that Donald Trump is a unique danger to the country and the world? And so self-censorship has become the norm.
What rules that remain at The Times are applied with extreme selectivity. If a person’s ideology is in keeping with the new orthodoxy, they and their work remain unscrutinized. Everyone else lives in fear of the digital thunderdome. Online venom is excused so long as it is directed at the proper targets.
The paper of record is, more and more, the record of those living in a distant galaxy, one whose concerns are profoundly removed from the lives of most people.
Natürlich könnte man es sich einfach machen und diese Anmerkungen als Einzelmeinung einer enttäuschten Ex abtun. Leider decken sich diese aber mit erschreckend mit den jüngsten Vorgängen und entsprechen auch dem, wie ich die “New York Times” in den letzten Jahren wahrnehme. Meinungsvielfalt ist dort schon lange kein Wert mehr. Es lohnt sich, den Text in Gänze zu lesen. Wie natürlich auch alle anderen hier empfohlenen Texte.
Resignation Letter — Bari Weiss
Neben dem Irrglauben, dass in der Geschlechterfrage Gleichstellung und nicht Gleichberechtigung erstrebenswert sei, macht auch immer mehr der Begriff “Parität” die Runde. Nun hat das Thüringer Verfassungsgericht ein Gesetz gekippt, welches Parteien in die paritätische Besetzung ihrer Wahllisten mit Frauen und Männern vorschreibt. Gerichtspräsident Stefan Kaufmann stellte klar, dass die Gesetzesänderung der rot-rot-grünen Landesregierung vom vergangenen Sommer der Landesverfassung und dem Bundesverfassungsrecht widerspreche. Mit der Verpflichtung zu einer paritätischen Besetzung von Wahllisten werde „ohne Rechtfertigung in Verfassungsrechte eingegriffen“, sagte Kaufmann. Das Gesetz beeinträchtige die Freiheit und Gleichheit der Wahl sowie die Rechte der Parteien auf Betätigungsfreiheit, Programmfreiheit und Chancengleichheit und damit zugleich auch das aktive und passive Wahlrecht. Wähler seien nicht mehr frei zu wählen, ob im Landtag mehr Männer oder mehr Frauen sitzen sollten; zudem sei es Parteimitgliedern nicht mehr möglich, einen Bewerber für einen bestimmten Listenplatz unabhängig von seinem Geschlecht zu wählen. „Ihnen wird die Freiheit genommen, selbst zu entscheiden, wie viele weibliche und männliche Kandidaten aufgestellt werden sollen“, betonte Kaufmann. Das dem Paritätsgesetz zugrunde liegende Reißverschlussprinzip, nachdem auf einen mit einem Mann besetzten Listenplatz zwingend einer mit einer Frau und umgekehrt folgen müsse, widerspreche der Freiheit jedes Einzelnen, sich auf einen bestimmten Listenplatz zu bewerben.
Die nötige Demut bei den Abgewatschten blieb aber, wie erwartet, aus. Stattdessen wurde darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung schon dadurch falsch sei, weil die AfD gegen das Gesetz geklagt hatte und man ihr damit Recht gegeben hätte. Eine interessante Auffassung, die bezüglich des Demokratieverständnisses der sie Vertretenden tief blicken lässt. Das eigentlich Ärgerliche ist nämlich, dass man es der AfD überlassen hat, ein verfassungswidriges Gesetz zu kippen, die sich nun als Hüter der Verfassung aufspielen kann. Ich hatte bereits in der Vergangenheit angemerkt, wie tragisch es ist, dass es dieser Partei so einfach gemacht wird.
Desweiteren wurde die Besetzung des Gerichts kritisiert. Weil die Männer in der Überzahl seien könne das Urteil nur so ausgefallen sein. Was für ein Wahnsinn. Wer diese Entscheidung dadurch zu delegitimieren versucht, dass er auf angeborene Merkmale der Richter abstellt, versucht das Recht und den Rechtsstaat insgesamt zu delegitimieren. Wer der Meinung ist, dass Männer als demokratisch gewählte Richter nicht unvoreingenommen über Parität urteilen können, strebt eine Identitätsjustiz an, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Dieser grotesken Argumentation liegt der Irrtum zugrunde, überall müsse ein repräsentativer Querschnitt der Gesellschaft sitzen. Es sind aber nicht weniger Frauen im Parlament, weil sie Frauen sind, sondern weil sie seltener in Parteien eintreten. Dafür gibt es Gründe. Wer fordert, dass eine Gruppe, die nur zu ca. 24 Prozent in Parteien vertreten ist, zu 50 Prozent in Parlamenten abgebildet ist, will keine Gleichberechtigung, sondern Bevorzugung.
Ich hoffe, dass diese Entscheidung auch auf das im Brandenburgischen Landtag beschlossene Paritätsgesetz auswirkt.
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In der letzten Ausgabe hatte ich einen Artikel der “Jüdischen Allgemeine” verlinkt, in dem es um die Idee der BVG ging, die Haltestelle Mohrenstraße in Glinkastraße umzubenennen. Zu den Vorwürfen gegen Glinka hat sich in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” nun Jan Brachmann zu Wort gemeldet, der die Sache in Teilen anders sieht und auch einen Fehler aufzeigt.
Sicher gibt es in seinen Briefen antisemitische Äußerungen, genau wie es sie in den Briefen Beethovens und Schumanns gibt. Auch Felix Mendelssohn Bartholdy, aus jüdischer Familie stammend, verwendet in seinen Urteilen über Giacomo Meyerbeer, ebenfalls aus jüdischer Familie stammend, die gleichen antisemitischen Stereotypen (Kälte, Ehrgeiz, Mangel an Innerlichkeit) wie der dafür notorische Richard Wagner. Dass Glinka, der Meyerbeer immer nur „liebenswürdig“ nennt, sich wie Wagner oder Mussorgski jemals den Tod oder die Vertreibung von Juden gewünscht hätte, ist nicht bekannt.
Ein kürzlich publizierter Kommentar in der „Jüdischen Allgemeinen“, der den Senat offenbar zum Einknicken bewogen hat, enthält gar die Behauptung, Glinka habe Anton Rubinsteins Russische Musikalische Gesellschaft als „Zhid-Verein“ (Judenverein) und das Petersburger Konservatorium als „Piano-Synagoge“ diffamiert. Wie, bitte, soll Glinka das getan haben? Die Gesellschaft wurde 1859, das Konservatorium 1862 gegründet. Da war Glinka längst tot.
Der Streit um die Umbenennung der Berliner U-BahnStation Mohrenstraße in Glinkastraße – von den Berliner Verkehrsbetrieben vorgeschlagen, vom Senat…
Relevant für die Debatte um Redefreiheit ist auch die Tatsache, dass die negativen Seiten von Identitätspolitik und Intersektionalität immer mehr in der öffentlichen Diskussion landen. Das ist gut, denn inzwischen konnte sich ungestört eine ganze Branche entwickeln, die frei von Bewertung und Kritik - oft mit üppiger staatlicher Finanzierung - bestimmte Opfernarrative propagiert.
Solche Kollektividentitäten haben nach Einschätzung der Soziologin Sandra Kostner zwei Ziele: Empowerment von Opfergruppen einerseits und moralische Anklage von Schuldgruppen andererseits. Diskriminierungsolympiaden führen zur Isolierung von Opfergruppen und münden am Ende in die Stammesgesellschaft. Die Welt teilt sich strikt in Gute und Böse, in Täter und Opfer. Dass Menschen häufig Opfer und Täter zugleich sind, diese irrlichternde Erfahrung ist nicht vorgesehen.
Dass es wichtiger ist, wer etwas sagt, als was einer sagt, ist ein Rückfall hinter die Aufklärung, die jedermann und -frau dazu ermutigt, sich seines/ihres Verstandes zu bedienen. Dabei braucht gar nicht geleugnet zu werden, dass Opfer sensibler sind für Diskriminierung als Täter und dass Argumente standpunktabhängig sind. Daraus ein Sprechverbot für Nichtbetroffene abzuleiten würde aber einen neuen Rassismus etablieren, meint der Bonner Philosoph Markus Gabriel.
Entscheidend ist, was einer sagt, ob es ein gutes, zustimmungsfähiges Argument ist. Einerlei ist, wer es sagt: ob jung, alt, gebildet, schwul, männlich oder schwarz. Solche Diversität braucht keine Opfer-Quoten. Denn das wäre bloß eine neue Form von Diskriminierung.
Rassismus und Diskriminierung: Wettlauf der Opfer
Entscheidend ist, was einer sagt, ob es ein gutes Argument ist. Einerlei ist, wer es sagt: ob jung, alt, gebildet, schwul, männlich oder…
Damit einher geht der Trend, sich zum Opfer zu stilisieren. Darüber haben Ekin Ok, Yi Qian, Brendan Strejcek, und Karl Aquino von “University of British Columbia” im Journal of Personality and Social Psychology mit dem Titel “Signaling Virtuous Victimhood as Indicators of Dark Triad Personalities ” veröffentlicht. Sie kommen zu dem Schluss, dass besonders psychopathische, manipulative und narrzistische Menschen zu dieser Taktik greifen. Nicht nur führt sie zu Respekt und Entgegenkommen, sondern hilft auch bei Fragen von Job und Geld weiter. Außerdem werden Verhaltensweisen geduldet, die sonst niemals durchgingen. Die gesamte Studie ist lesenswert.
Link:
https://scottbarrykaufman.com/wp-content/uploads/2020/07/Ok-et-al.-2020.pdf
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Anna Veronika Wendland und Rainer Moormann vertreten die Position, dass für eine erfolgreiche Klimapolitik an der Atomkraft festgehalten werden muss. Ihre Argumente lesen sich sehr plausibel.
Im Grunde hat Deutschland es mit einem Doppelnotstand zu tun. Wir kämpfen mit dem Klimanotstand, doch es droht zugleich ein Versorgungsnotstand unserer Industrielandschaft, der schlicht der Saft ausgehen könnte – jedenfalls wenn dieser nahezu CO₂-neutral erzeugt werden soll.
Der Atomausstieg muss deshalb gestoppt werden, und die verbliebenen Kernkraftwerke sollten noch etwa zehn Jahre weiterlaufen dürfen. Das ist sowohl sicherheitstechnisch als auch mit Blick auf das geringe zusätzliche Atommüllvolumen verantwortbar. Notfalls muss dies in Staatsregie geschehen, da die Betreiberkonzerne dazu nach dem jahrelangen Hin und Her um die Laufzeitverlängerung nicht mehr bereit sein dürften. Und auch wenn der politische Kraftakt des Kohlekompromisses gerade hinter uns liegt: Parallel zur Atomverlängerung würde es Verhandlungen über einen rascheren Kohleausstieg brauchen.
Natürlich sollten die Erneuerbaren gleichzeitig weiter ausgebaut und es sollte in die Entwicklung von Stromspeichern investiert werden. Doch wenn bis 2030 die erforderlichen wesentlichen Fortschritte auf dem Weg zu Großspeichern nicht gemacht wären, müsste auch über einen Neubau von Kernkraftwerken nachgedacht werden. Es geht bei alldem jedoch nicht um eine groß angelegte Neuauflage der Atomkraft. Es geht darum, sie als klimafreundliche Technologie zu nutzen, bis das Land eine wirklich sichere Alternativversorgung aufgebaut hat.
Warum wir die deutschen Kernkraftwerke jetzt noch brauchen | SaveGER6
Die Kernkraftbefürworterin Dr. Anna Veronika Wendland und der Atomkraftgegner Dr. Rainer Moormann fordern den Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke.
Kultur
In den frühen 80er Jahren reiste der dänische Filmemacher Jørgen Leth nach Amerika, um das Leben dort unmittelbar einzufangen. Daraus wurde der Film “66 Scenes from America”. Die längste und wahrscheinlich amerikanischste Szene zeigt Andy Warhol beim Essen eines Hamburgers. Kurz nachdem er damit fertig ist, verkündet er das, was vorher niemand wusste:“My name is Andy Warhol, and I just finished eating a hamburger.”.
Warhol eating a Hamburger
Einige Jahre später sprach Jørgen Leth über diese Erfahrung.
Coverversion der Woche: Blondie - The Tide Is High
Das wunderbare Original wurde von John Holt im Jahr 1967 für seine damalige Band The Paragons geschrieben. Die Coverversion von Blondie halte ich für mindestens ebenbürtig. Grund dafür ist vor Allem die besondere Kombination aus schiefen Bläsern und Streichern.