Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #6
Diese Ausgabe muss ich mit der Bitte um Entschuldigung beginnen. Beim letzten Newsletter haben sich etliche Dopplungen eingeschlichen, die auf Fehler beim automatischen Zwischenspeichern zurückzuführen sind und beim Versenden nicht ersichtlich waren. In der Onlineversion konnte ich sie beheben, bereits verschickte Mails kann man leider nicht nachträglich bearbeiten. Ich hoffe, das wird sich nicht wiederholen.
Diese Woche ist wieder einiges passiert. Die Themen sind unter Anderem neue Aspekte bei der Umbenennung der Mohrenstraße, der Einsatz zahlreicher Intellektueller für eine freie Debatte, Journalismus, das generische Maskulinum und ein unterschätzter Moderator.
Nun aber los.
Politik/Gesellschaft
Zahlreiche Intellektuelle und Kulturschaffende aus allen politischen Richtungen, unter ihnen Anne Applebaum, Margaret Atwood, Noam Chomsky, Francis Fukuyama, Daniel Kehlmann, Steven Pinker, J. K. Rowling, und Salman Rushdie haben in einem Text im “Harper’s Magazine” über den immer enger werdenden Meinungskorridor in der Wissenschaft, den Medien und der Gesellschaft insgesamt ein auch von mir seit Jahren wahrgenommenes Problem benannt. Dieser Text ist zeitgleich in “Le Monde”, “La Repubblica” und der “Zeit” erschienen. Ich bin froh, dass dieses Thema endlich eine breite Öffentlichkeit findet.
Editors are fired for running controversial pieces; books are withdrawn for alleged inauthenticity; journalists are barred from writing on certain topics; professors are investigated for quoting works of literature in class; a researcher is fired for circulating a peer-reviewed academic study; and the heads of organizations are ousted for what are sometimes just clumsy mistakes. Whatever the arguments around each particular incident, the result has been to steadily narrow the boundaries of what can be said without the threat of reprisal.
A Letter on Justice and Open Debate | Harper's Magazine
Einer der Unterzeichner, der Politikwissenschaftler Yascha Mounk, hat im Deutschlandfunk erklärt, wie er die Sache sieht.
Über die Diskussion um die Umbenennung der Mohrenstraße habe ich hier bereits berichtet. Nun sind die Berliner Verkehrsbetriebe vorgeprescht und haben beschlossen, schonmal die Haltestelle umzubenennen. Ihre Entscheidung fiel dabei auf den russischen Komponisten Michail Iwanowitsch Glinka (1804–1857), einen Nationalisten und Antisemiten. Auch diese Geschichte hätten sich Monty Python nicht besser ausdenken können. Vom vermeintlichen Regen in die Traufe. Judith Kessler hat in der “Jüdischen Allgemeinen” aufgeschrieben, warum diese Entscheidung keine Gute ist.
Schlechte Wahl | Jüdische Allgemeine
Warum es keine gute Idee ist, den Berliner U-Bahnhof „Mohrenstraße“ nach Michail Iwanowitsch Glinka zu benennen
Die Diskussion zur Umbenennung wurde durch die Behauptung angestossen, das Wort “Mohr” sei rassistisch. In der letzten Woche hatte ich dazu einen Text von Götz Aly empfohlen. Lesenswert ist auch ein Text von Thomas Schmid dazu, der weitere Perspektiven beleuchtet. Man kann sich nur eine substanzielle Meinung bilden, wenn man sich ergebnisoffen informiert.
Natürlich schwingt, wenn vor Jahrhunderten vom „Mohren“ die Rede war, die Scheu vor dem Fremden mit. Der Mohr war der Andere, der Unbekannte, er war exotisch. War nicht wie wir. Deswegen verstehen wir ihn schwer. Er gehört nicht zu uns. Wir schauen gewissermaßen aus Distanz auf ihn. Was exotisch ist, verstört – und zieht an. Das Wort „Mohr“ enthält gerade deswegen auch Anerkennung. Und das rührt wohl auch daher, dass es seit dem 17. Jahrhundert an deutschen Höfen und später in den Häusern reicher Bürger Mode wurde, Schwarze zu beschäftigen, etwa in der Dienerschaft. Aber auch auszubilden, zu erziehen, zu Persönlichkeiten zu formen, die sich auf deutschem Parkett bewegen konnten. Die sich selbstständig machen und reüssieren konnten. Die Distanz ging dabei wohl nie verloren, es gab aber auch viel Achtung, viel Anerkennung. Denn man begann zu ahnen, dass ein Schwarzer in einer weißen Gesellschaft bedeutet, dass die weiße Welt nicht die ganze Welt ist.
Nachdenken über ein neues Unwort - Thomas Schmid
Seit vielen Jahren lese ich gern die Bücher von Asfa-Wossen Asserate, dem Grossneffen von Haile Selassie, weil ein klug-analytischer Blick wie der seine in Deutschland eine Rarität ist. Zudem ist er nie vebissen, sondern bewahrt sich immer seinen Humor. Nun hat er sich in einem Interview zu Wort gemeldet und seine Meinung zu den im Moment vieldiskutierten Themen, welche sich aus dem Fall Floyd ergaben, kundgetan. Auch er beklagt zum Beispiel den Bildungsmangel der aktuellen von Furor Getriebenen. Eine erfrischende Perspektive.
Wissen Sie, wie Integration gelingt? Indem wir die Fehler von 2015 nicht wiederholen. Jeden, der ins Land kommt, müssen wir vom ersten Tag an belehren: Ihr seid willkommen, aber nur unter folgenden Bedingungen. Erstens, wir sind ein demokratischer Staat, in dem Männer und Frauen gleiche Rechte haben. Zweitens, wir haben Meinungs- und vor allem Religionsfreiheit. Drittens, dieses Land ist jüdisch-christlich geprägt; Antisemitismus steht bei uns unter Strafe. Viertens, gebt euch Mühe, unsere Sitten und Bräuche kennenzulernen. Fünftens, lernt unsere Sprache. Das bedeutet natürlich im Umkehrschluss, dass wir nicht nur anerkannten Flüchtlingen kostenlose Sprachkurse anbieten müssen; die muss es vom ersten Tag an in jeder Asylunterkunft geben. Für die anerkannten Flüchtlinge müssen wir ausserdem den Arbeits- und den Wohnungsmarkt schneller zugänglich machen, damit es nicht zur Entstehung einer Parallelgesellschaft kommt.
«Die meisten afrikanischen Länder wären froh und dankbar, wenn sie die deutsche Polizei hätten»
Wie erlebt ein Schwarzer aus der Oberschicht die Debatte über Rassismus? Asfa-Wossen Asserate, Grossneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, spricht im Interview über «Biodeutsche» auf Demos, Migranten, die ihr Gastland verachten, und den Bildungsmangel der neuen Bilderstürmer.
Auch der Historiker Andreas Rödder äussert sich sehr differenziert zum derzeitigen Bildersturm.
Die Auslöschung der Erinnerung, von Widersprüchlichkeit und Komplexität der Geschichte sei die Vorstellung, dass man eine neue, ganz reine Welt schaffen könne. „Das ist im Kern totalitär“, sagt Rödder. „Wir müssen ein vernünftiges Maß und eine vernünftige Mitte dazwischen finden.“
Geschichtsdebatten - Komplexität auszublenden ist totalitär
Geschichtsdebatten dienten heute oft vor allem der Selbstverständigung, kritisiert der Historiker Andreas Rödder. Er plädiert dafür, ein vernünftiges Maß im Umgang mit dem historischen Erbe zu finden. Das könne auch heißen, es anzunehmen.
Den diese Woche leider wieder etwas dominierenden Themenkomplex “Rassismus” möchte ich mit einem Essay des immer fein abgewogen argumentierenden Ahmad Mansour beenden.
Im Namen der Toleranz kann eine Menge Intoleranz entstehen – gegenüber anderen Meinungen, anderen Gruppen, selbst wenn diese vom eigenen moralischen Kompass nur wenige Millimeter abweichen und heilige Figuren der Szene kritisch berühren. Die Gefahr für den freien Diskurs besteht dann, wenn Minderheiten für sich eine Form von „Artenschutz“ reklamieren, der selber wieder biologistische Züge trägt. „Weil ich schwarz bin, können Weiße mich nicht verstehen! Also haben Weiße auch nichts dazu zu sagen!“
„Black Lives Matter“-Debatte: Rassismus ist keine Einbahnstraße! - taz.de
Der aktuelle Rassismus-Diskurs führt teils zu „Othering“ – dem gutgemeinten, aber nicht zielführenden Andersmachen von anderen.
Eine Frau namens Marlies Krämer hat bereits im Jahr 2018 ihre Sparkasse verklagt und zog danach vor den Bundesgerichtshof, weil sie sich daran störte, dass auf Formularen “Kunde” und “Kontoinhaber” stand. Wäre man frech, würde man darauf hinweisen, dass es um die Gleichberechtigung sehr gut bestellt sein muss, wenn das zu den drängendsten Problemen gehört. Aber frech ist man ja nicht. Wie auch immer: Sie ist damit bisher in allen Instanzen gescheitert. Der Bundesgerichtshof entschied, dass das generische Maskulinum im Sprachgebrauch üblich sei und keine Geringschätzung gegenüber Menschen anderen Geschlechts zum Ausdruck bringe. Die Form werde auch in vielen Gesetzen und selbst im Grundgesetz verwendet. Soweit so gut. Das reichte Frau Krämer nicht. Nun ist auch ihre Verfassungsbeschwerde abgewiesen worden, weil die Begründung unzureichend war. Sehr interessant ist allerdings ein Teil der Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts.
Wäre über die Verfassungsbeschwerde in der Sache zu entscheiden, führte dies zu ungeklärten Fragen der Grundrechtsrelevanz der tradierten Verwendung des generischen Maskulinums sowie zu Fragen der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung von Gleichstellungsgesetzen, die die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache vorschreiben.
Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal. Es bleibt spannend. Ich fürchte allerdings, dass Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht von Ideologen nicht als verbindlich angesehen werden.
Sparkasse darf Kundin vorerst als Kunde anreden - DER SPIEGEL - Wirtschaft
Klage wegen Mängeln in der Begründung abgewiesen: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass eine Sparkasse Marlies Krämer weiter Kunde nennen darf. Ein Neuanlauf könnte sich aber lohnen.
Der Verfassungsschutzbericht 2019 wurde vorgestellt. Er ist wie immer auch in Gänze lesenswert. Die alljährlichen folkloristischen Diskussionen in den sozialen Medien darüber, welcher der gefährlichere Extremismus sei, kann man sich getrost sparen. Was mich seit Jahren stört, ist der Versuch mancher Kreise, Rechtsextremismus in den Köpfen der Bürger als die einzige (!) Gefahr für die Demokratie zu etablieren. Die Fakten sprechen nämlich eine andere Sprache.
Die Zahl der Rechtsextremisten ist 2019 um 30 Prozent auf rund 32.000 gestiegen, auch weil der Verfassungsschutz Mitglieder des „Flügels“ der AfD und der Jugendorganisation hinzuzählt. Die Zahl rechtsextremer Gewalttaten ist parallel um 15 Prozent gesunken.
Die Zahl der Linksextremisten ist höher, 33.500. Als gewaltbereit gelten 9200. Links ist auch der höhere Zuwachs an Straftaten zu verzeichnen, plus 40 Prozent. Bei den 2019 begangenen Gewalttaten liegen die Linksextremisten (1052) ebenfalls vor den Rechtsextremisten (925). Bei beiden sind es freilich etwas weniger schwere Gewalttaten als 2018.
Gefahr durch linke und rechte Extremisten: Die rote und die braune Brille - Politik - Tagesspiegel
Wer bedroht Sicherheit und Demokratie? Der Verfassungsschutz hat beide Augen offen. Für die öffentliche Debatte gilt das nicht immer. Ein Kommentar.
Ein Buch zum Zustand der Medien könnte interessant werden und steht bereits auf meiner Leseliste. Der Journalist Birk Meinhardt schreibt in “Wie ich meine Zeitung verlor” darüber, warum er bei der “Süddeutschen Zeitung” aufhörte. Besonders in einer Zeit, in der die Medien von Extremisten verstärkt kritisiert werden, sollten sie darüber nachdenken, welchen Anteil sie selbst daran haben.
Meinhardt macht es deutlich an einem unscheinbaren Satz, der einmal in der Süddeutschen gestanden hat: “Da hieß es: Wir sollten schon mit den Ausgescherten, also mit den Populisten, den Wütenden, all denen, zu denen wir nicht mehr dringen, reden, auch wenn es fast sicher ist, dass wir sie nicht werden überzeugen können. Das ist ein scheinbar banaler Satz. Wenn man ihn aber einmal hin- und herwendet, dann ist eine ungeheure Anmaßung darin enthalten: die Anmaßung, wir, die Journalisten, könnten und müssten die Leute von etwas überzeugen, auch wenn uns das nicht gelingen wird. Und was auch darin steckt: Wir müssen nicht überzeugt werden. Wir wollen von der Gegenseite gar nichts empfangen.”
Der preisgekrönte Reporter und Romancier Birk Meinhardt schildert in seinem neuen Buch, warum er der Süddeutschen Zeitung den Rücken kehrte.
Einer der besten Texte in dieser Woche ist das Portrait über Markus Lanz von Peter Unfried. Auch ich bin der Meinung, dass die Sendung inzwischen die Einzige ihrer Art ist, in der wirklich noch Diskussionen aufkommen und nicht nur nach Drehbuch herumgeschrien wird.
Mir selbst wurde das bei der Analyse früherer Reaktionen klar, die unterschiedlich ausfielen, je nach Gast. Bei einer mir unsympathischen linkskonservativen Politikerin war ich begeistert, wie scharf Lanz fragte, und dachte: Sooo muss man es machen. Bei einer mir sympathischen Klimapolitikaktivistin war ich empört, wie scharf Lanz fragte, und dachte: Sooo geht es ja gar nicht. Der Ideologe war also ich.
Moderator Markus Lanz: Er will’s wirklich wissen - taz.de
Markus Lanz gilt als schleimig und neoliberal, für manche gar als Hassfigur. Andere finden, er macht den besten Polit-Talk des Landes. Was stimmt?
Kultur
Im Museum Ludwig läuft eine Ausstellung amerikanischer Kunst der Sechziger und Siebziger, mit dem Titel “Mapping The Collection”.
Zwar balanciert der heutige Kunstbetrieb auf einem schmalen Grat zwischen Re-Ethnisierung und Re-Identitarisierung einerseits, Sichtbarmachen, Inklusion und Würdigen von Differenz andererseits. Aber grundsätzlich gilt: Je mehr wir kennen, je breiter die empirische Grundlage für unsere Urteile, desto besser. Wer kann schon aus dem Stand ein paar indigene Vertreter der amerikanischen Hard-Edge-Malerei aufzählen? Eben. Gefahr besteht derzeit eher darin, dass Sichtbarmachung zum tokenizing verkommt, zum Sich-Schmücken mit mutmaßlichen Unterprivilegierten, um auf karrieristische Weise die eigene Fortschrittlichkeit zu demonstrieren. Die Philosophin Nancy Fraser hat das als “Progressiven Neoliberalismus” bezeichnet. Aber Mapping the Collection hat damit wenig zu tun.
https://www.zeit.de/2020/28/mapping-the-collection-ausstellung-museum-ludwig-koeln
Der Wissenschaftsrat empfiehlt die Auflösung der “Stiftung Preussischer Kulturbesitz”. Das letzte Wort scheint das aber noch nicht zu sein.
Am Dienstag dämpfte sie - ohne im Einzelnen auf den Bericht einzugehen - schon die Erwartungen und schien sich von den Vorschlägen der Gutachter sanft zu distanzieren: “Möglicherweise werden nicht alle Empfehlungen 1:1 umgesetzt werden können”, erklärte sie, “aber ich sehe bei allen Beteiligten eine große Offenheit und Bereitschaft, sich gut begründeten, auch weitreichenden Veränderungen zu stellen.”
Stiftung Preußischer Kulturbesitz vor Auflösung? - Kultur - SZ.de
Insektenbefall, leckende Dächer, Mehltau: Der Wissenschaftsrat empfiehlt die Auflösung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Coverversion der Woche: Stevie Wonder - We Can Work It Out