Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #71
Prolog
Nach Wochen des Wartens und der Spekulationen wurde gestern der Koalitionsvertrag vorgestellt. Einen solchen Umfang an Inszenierung und medialer Begleitung habe habe ich bisher nicht erlebt. Wenn diese Eventisierung dazu führt, dass sich mehr Menschen für Politik zu interessieren, kann man das allerdings nur gutheißen.
Aus dem Vertrag geht unter anderem hervor, dass die Grünen das Außenministerium bekommen haben. Auch wenn die Parteien, wie es Tradition ist, die Namen der Ressortleiter selbst bekanntgeben, sind bereits einige im Umlauf. Es sieht so aus, als würde Annalena Baerbock Außenministerin werden. Auch wenn Alexander Kissler in der Phoenix-Runde sagte, dass es nach Heiko Maas eigentlich nur besser werden könne, sehe ich diese Personalie äußerst kritisch.
Eine Person, die bisher nicht durch souverän-entschiedenes Auftreten aufgefallen ist, wäre schon falsch genug auf dieser Position. Im Gespräch mit Putin, Erdogan oder Xi Jinping kann ich sie mir beim besten Willen nicht vorstellen. Sie hat aber auch ihre Vita zusammengelogen, sich als nicht Förderberechtigte für ein Stipendium beworben und ein Buch voller Plagiate geschrieben. Ihr Umgang mit diesen Sachverhalten spricht in negativer Hinsicht Bände. Dass sie nach diesen Lügen und Betrügereien (wahrscheinlich) Außenministerin wird, ist peinlich für Deutschland und ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die sich ihre berufliche Karriere mit Fleiß, Ehrlichkeit und Einsatz erarbeitet haben.
Bei Twitter stieß ich auf einen skurrilen Artikel mit dem Titel ”Frauen of Color, wollt ihr einen Alman daten?”. Untertitel:”Sind weiße deutsche Männer für euch eine brauchbare Option oder befürchtet ihr, dass eure Lebensrealitäten einfach zu verschieden wären?”. Um im Jargon zu bleiben: Als Alman-Mann of Color, der bisher hauptsächlich weiße Alman-Frauen gedatet hat, kann ich nicht eines der im Artikel skizzierten Probleme bestätigen und kenne auch niemanden, der so etwas je erlebt hat. Das ist konstruierter, spaltender, identitärer Unsinn.
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Nun aber los.
Heute geht es unter anderem um den akademischen Betrieb, Diskursverschiebung und Sensibilität.
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Politik und Gesellschaft
In der letzten Ausgabe beschäftigte ich mich mit dem Fall der Professorin Kathleen Stock, die aus ihrer Universität gemobbt wurde. Nun hat sich eine Gruppe von Wissenschaftlern in der “Zeit” zu Wort gemeldet und beklagt die vermeintlich einseitige Berichterstattung in den deutschen Medien und greift das “Netzwerk Wissenschaftsfreiheit” an. Leider ist das alles nicht besonders seriös.
Irritierenderweise lassen die Autoren selbst wenig Solidarität mit der ebenso bedrohten Stock und ihren genderkritischen Kolleginnen erkennen. Stattdessen unterstellen sie Stock „abwertendes und diffamierendes Verhalten gegenüber Transpersonen, . . . das Studierende seit langer Zeit dokumentiert haben“, und den Versuch, „dessen Thematisierung in einer Studierendenzeitschrift zu verhindern.“ Es sind die Autoren, die hier diffamieren, denn sie begnügen sich mit dem vagen Hinweis, „diese Vorgänge“ habe „Grace Lavery, Professorin in Berkeley, rekonstruiert“. Die Autoren offerieren nicht einmal einen Link zu dieser „Rekonstruktion“, die lediglich in einem Tweet besteht, in dem nicht weiter belegte Behauptungen aufgestellt werden.
Tatsächlich ist Stocks Definition wissenschaftlich und folgerichtig darauf ausgerichtet, Wissen zu produzieren, nicht Befindlichkeiten zu befriedigen. Ihr zufolge ist das Geschlecht biologisch gegeben und kann nicht durch bloße Selbstidentifikation gewechselt werden (die Artzugehörigkeit kann ja auch nicht derart gewechselt werden). Dies ist kein Angriff auf die Existenz von Personen, sondern die Zurückweisung einer These. Selbst wenn ein Seminarteilnehmer diese These für wahr hält und auf sich anwendet, hat er kein Recht darauf, dass andere ihm nicht widersprechen. In wissenschaftlichen Seminaren sind Thesen und Theorien kritisch zu diskutieren, nicht Selbstbilder zu bestätigen. Solcher Widerspruch schließt im Übrigen die gleichberechtigte Teilnahme am Seminar nicht aus. Wer aber umgekehrt solchen Widerspruch nicht aushalten kann oder Studenten nicht zumuten will, ist an einer Universität fehl am Platze.
So haben sie zwar durchaus recht, wenn sie erklären, Wissenschaftsfreiheit meine nicht „die Freiheit, die eigenen Forschungsergebnisse als letzte Wahrheiten präsentieren zu dürfen, ohne mit Kritik rechnen zu müssen”, oder „unliebsame Positionen aus der Wissenschaft ausbürgern zu dürfen, um die eigene Deutungshoheit zu sichern“. Allerdings ist genau dies ihre eigene sowie die Vorgehensweise von „kritischer Rassismusforschung und Genderstudies“. Kritik an einem nichtbiologischen Geschlechtsverständnis wollen sie offensichtlich sehr wohl aus der Wissenschaft ausbürgern, und zwar aus unwissenschaftlichen Gründen. Denn derweil sie dem Netzwerk fälschlich vorwerfen, „die Tatsache, dass bestimmte Positionen kritisiert werden, als Angriff auf die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit” zu werten, dramatisieren sie die Kritik an einer These der Genderstudies als Angriff auf die Existenz von Menschen. Kritische Rassismusforschung und Genderstudies wiederum setzen dogmatisch ein „weißes Patriarchat“ einfach voraus, ohne für dessen Existenz die geringsten empirischen Belege anzuführen. Der bequeme Verweis darauf, dass bestimmte Personengruppen in bestimmten Berufen oder Positionen „unterrepräsentiert“ seien, ist unzureichend, denn diese „Unterrepräsentation“ könnte statt durch Diskriminierung ja auch durch mangelnde Qualifikation oder mangelndes Interesse erklärt werden. Welches die richtige Erklärung ist, kann nur durch empirische Studien gezeigt werde. Solche Studien gibt es, und sie widerlegen die These.
Die Objektivität einer wissenschaftlichen Theorie bemisst sich nicht an der paritätischen Besetzung des Forscherteams, das sie formuliert hat, sondern an ihrem methodisch prüfbaren Erklärungswert. In diese Methodik darf nicht politisch, moralistisch oder ideologisch eingegriffen werden, um für gewisse Kreise womöglich unangenehme Ergebnisse auszuschließen und angenehme zu präjudizieren.
Was man nicht kritisieren darf - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Für heftige Diskussionen sorgte in dieser Woche der Freispruch von Kyle Rittenhouse. Der Amerikaner hatte aus Notwehr zwei Menschen getötet und einen verletzt. Dieses Urteil dient nun dazu, weiter das Narrativ des rassistischen Justizsystems in den USA zu verbreiten, was hochgradig absurd ist, wenn man sich den Fall genauer anschaut.
Präsident Joe Biden räumte zwar ein, dass das amerikanische Justizsystem funktioniere und das Urteil der Jury zu respektieren sei. Er erklärte aber auch, dass er «wütend» und «besorgt» sei. Biden hatte Rittenhouse bereits 2020 in einem Wahlkampfvideo als «weissen Suprematisten» vorverurteilt. Dabei geht es um einen rechtlichen Grundsatz, den jeder Bürger einer freien Gesellschaft in Anspruch nehmen darf: im Zweifel für den Angeklagten.
Doch dieser rechtsstaatliche Grundsatz ist nicht nur im Weissen Haus aus der Mode gekommen. Denn im Fall Rittenhouse wurden von Beginn an die Tatsachen verzerrt. Demokratische Politiker, «Black Lives Matter»-Aktivisten, aber auch als seriös geltende Medien wie CNN, CNBC, MSNBC oder «New York Times» stilisierten Rittenhouse zum «kleinen, mörderischen weissen Suprematisten» (MSNBC), der schwer bewaffnet «Staatsgrenzen» überquert habe (was sich als falsch herausstellte), um Menschen zu morden. Menschen, die angeblich friedlich für die Rechte der afroamerikanischen Bevölkerung demonstrierten.
Dabei ging es im Fall Rittenhouse gar nicht um «Black Lives». Alle Beteiligten waren Weisse, was natürlich nicht ausschliesst, dass Rittenhouse ein weisser Suprematist ist. Die Frage ist aber: Hat der junge Mann zwei Menschen aus niederen Beweggründen und im Glauben an die Überlegenheit der eigenen Rasse getötet? Genau diese Frage haben die Geschworenen verneint. Trotzdem werden auch in der Debatte um Rittenhouse die Hautfarben gegeneinander ausgespielt. Es wird «Blackness» evoziert, wo keine ist, und es wird «Whiteness» betont, wo es gerade passt.
Diese Suggestion von linker Seite wurde im Ausland zum Teil als Tatsache übernommen. Norwegens grösste Tageszeitung «Aftenposten», der britische «Independent» sowie niederländische und brasilianische Medien berichteten, Rittenhouse sei der Mörder zweier Afroamerikaner. In der ARD-«Tagesschau» vom 20. November hiess es, «viele Schwarze», beziehungsweise die «schwarze Community», werteten das Urteil als Beweis «für ein Justizsystem, das Minderheiten benachteilige». Dass die Erschossenen weiss waren, wird nicht erwähnt.
Vielmehr müssen uninformierte Zuschauer aufgrund von Zitaten schliessen, dass die Getöteten Schwarze gewesen seien. Unter anderem zitiert die ARD ohne jegliche kritische Einordnung den Football-Spieler Colin Kaepernick, der auf Twitter schrieb: «Wir sind Zeugen eines Systems, das auf weisse Suprematie gebaut ist und das die terroristischen Taten eines weissen Suprematisten legitimiert.»
Die Schriftstellerin Jagoda Marinic fällt mir in letzter Zeit immer häufiger durch kluge Beiträge auf. Schon zur Kontroverse um die Buchmesse, welche ich hier behandelte, hat sie sich erstaunlich vernünftig geäussert. Mit erstaunlich meine ich, dass ich sie in der Vergangenheit eher als Teil des woken Milieus wahrgenommen hatte, welches ich nicht mit Vernunft in Verbindung bringe. Eventuell habe ich sie falsch eingeschätzt. Wie auch immer: Ihre Wortmeldungen sind erfrischend und immer wohlformuliert. Nun hat sie sich in der TAZ Gedanken über die Frage gemacht, ob wirklich allein die Ungeimpften Schuld an der vierten Coronawelle sind.
Wenn wir aus dieser Krise herauswollen, sollten wir sie als Führungskrise erkennen und den Fokus der Analysen zurück auf die Verantwortungsträger lenken. So wie die Bundesregierung mit Projektträgern umgeht, die staatliche Förderung erhalten, muss mit dieser Bundesregierung verfahren werden. Jedes kleinste Sozialprojekt muss heute Projektziele definieren, Maßnahmen beschreiben und überprüfbare Meilensteine benennen. Die Rechnungsprüfungsämter prüfen auch in Coronazeiten kleine Sozialprojekte. Wer aber prüft mit derselben Präzision die Ziele und Meilensteine der Bundesregierung? Was sich derzeit an kruden Verallgemeinerungen über die „Impfgegner“ ergießt, ist kontraproduktiv. Texte, die von einer irgendwie gearteten deutschsprachigen Seele erzählen, die angeblich wissenschaftsfeindlicher sei als jede andere Nationalseele, sind mindestens so realitätsfern wie die Milieus, die sie zu beschreiben meinen.
In Großbritannien etwa fing Ende September die Booster-Kampagne an. 22,4 Prozent haben inzwischen die dritte Spritze erhalten, geordnet wurde nach Vulnerabilität. In Deutschland sind es nur knapp 5 Prozent. Im gleichen Zeitraum wurden in Deutschland Impfzentren geschlossen! Welche Botschaft senden die Verantwortlichen an die Bevölkerung, wenn sie Impfzentren schließen? Ein unklares „Geht bitte impfen, während wir die Zentren schließen!“ Doppelbotschaften in diesem Pandemiemanagement – wohin man auch sieht.
Die vierte Welle rollt nicht, weil in Deutschland in der Summe mehr Bürgerinnen Impfgegner sind als andernorts. Sie rollt, weil die Verantwortungsträger keine Strategie hatten, jene kritischen 10 Prozent mehr zum Impfen zu bewegen, die es für einen entspannten Herbst gebraucht hätte. So banal ist das Drama dieses Herbstes. Bis Oktober sprach kaum mehr jemand über die Impfkampagne.
Eine politische Kultur, in der Diskurse ohne die Verantwortungsfrage geführt werden, verliert ihre Glaubwürdigkeit. Verantwortliche müssen klare Ziele formulieren, an denen sie sich messen lassen. Sie müssen Fehler eingestehen und eine Aufarbeitung ermöglichen. Und sie müssen zurücktreten, wenn das Vertrauen verspielt ist. Medienvertreter, die Politikern das Mikro vor die Nase halten, um schlaffe Impfaufrufe zu verkünden und Ungeimpfte zu schelten, tragen dazu bei, dass Regierungsverantwortung an Bürgerinnen outgesourct wird.
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes. Oft habe ich kritisiert, dass Antisemitismus in den öffentlich-rechtlichen Medien selektiv behandelt wird. Auch die Verpflichtung antisemitischer Mitarbeiter stieß mir bitter auf. Nun hat die ARD eine vierteilige Dokumentation vorgelegt, die mich sehr beeindruckt hat. Endlich wird das Thema auf hohem Niveau von allen Seiten beleuchtet.
Zum Thema “Die hypersensible Gesellschaft” diskutieren am philosophischen Stammtisch Svenja Flasspöhler und Dominique Künzle mit den Moderatoren Barbara Bleisch und Wolfram Eilenberger.
Kultur
Coverversion der Woche: The Jimi Hendrix Experience - Hey Joe
Heute im Jahr 1966 spielte The Jimi Hendrix Experience zum ersten Mal im Londoner Bag O'Nails Club. Der Song “Hey Joe” wurde ursprünglich von William Moses „Billy“ Roberts jr. komponiert, wobei sich dieser wahrscheinlich an einem Stück seiner Freundin Niela Miller mit dem Titel “Baby, Please Don’t Go Down Town” von 1955 vergriff. Die erste Studioversion stammt von der Band The Leaves.
Epilog
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