Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #68
Prolog
In dieser Ausgabe ist die Buchmesse Schwerpunkt. Das liegt daran, dass die Frage der Meinungsfreiheit, welche in der aktuellen Diskussion eine zentrale Rolle spielt, ein so wichtiges Element der Demokratie ist, dass einige der zahlreichen sich darauf beziehenden Artikel und Talks hier nicht unerwähnt bleiben sollen.
Diskurs ist die beste Methode zur Auflösung von Spannungen. Das sieht Jasmina Kuhnke, die durch ihr perfekt inszeniertes Fernbleiben von der Messe die Debatte anschob, anders. Ihr (und ihren Unterstützern) geht es nicht um seriösen Austausch oder gar Lösungen. Ihre Beiträge bei Twitter triefen oft vor Hass und Menschenfeindlichkeit. Das macht die Bedrohungen ihr gegenüber nicht akzeptabel, aber diese Doppelmoral fällt auf.
Bei dem bizarren und letztlich nur vorgeschobenen von mehreren Seiten erhobenen Vorwurf, Schwarze seien auf der Messe nicht willkommen oder nicht sicher gewesen, geht es ebenfalls nicht um das Anstreben eines Miteinanders, sondern um Diskursverschiebung und Macht. Bestimmte Verlage, die den sich Beschwerenden nicht in den Kram passen, sollen von der Messe verschwinden. Das liesse sich in der Zukunft beliebig auf andere Verlage ausweiten. Es bleibt zu hoffen, dass der Börsenverein weiterhin stark bleibt.
Es kann nicht sein, dass bestimmte Aktivisten mit ihrer “Cry Bully”-Attitüde glauben, über den Diskurs in der Gesellschaft bestimmen zu dürfen. Genau das scheint aber das Konzept zu sein: Man stilisiert sich zum Opfer und versucht auf dem Weg der Erpressung eigenmächtig die Regeln zu definieren. Wegweiser für Demokratie und Rechtstaat sind dann irgendwann nicht mehr geltende Gesetze, sondern die Gefühle der Angehörigen einzelner Gruppen.
In bekannter “Und täglich grüßt das Murmeltier”-Manier wurde von interessierter Seite in diesem Zusammenhang inflationär das Toleranz-Paradoxon bemüht. Auch dieses Mal ausschließlich von Leuten, die Karl Popper entweder nicht verstanden oder nie gelesen haben.
Es kann natürlich über das Konzept der Buchmesse diskutiert werden. Grundlage dafür muss aber ein Verhältnis auf Augenhöhe sein.
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Nun aber los.
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Politik und Gesellschaft
Svenja Flaßpöhler hat in ihrem “Philosophie Magazin” einen lesenswerten Artikel über den Buchmesse-Boykott geschrieben.
Allerdings kann die empathische Energie auch in die falsche Richtung gehen – und genau das gilt für den Fall Kuhnke. Anstatt die junge Frau in ihrer Absage zu bestärken, hätte wahre Unterstützung darin bestanden, sie zu ermutigen, die Möglichkeit, die man ihr geboten hat, entschlossen zu ergreifen. Wäre es nicht besser gewesen, wenn Jasmina Kuhnke, mit dem Rückhalt ihrer Unterstützer, stolz auf die Bühne geschritten wäre? So hätte sie den Rechten auf der Messe gezeigt: Seht her. Ihr wollt mich töten. Ich aber ergreife das Wort. Ich bestimme den Diskurs in diesem Land maßgeblich mit. Und zwar auf einer der prominentesten Bühnen der ganzen Messe.
Ein solches Handeln wäre ein Handeln der Potenz gewesen. Kuhnke hätte sich in die Höhe begeben, von der sie souverän auf ihre Gegner hätte hinabschauen können. Stattdessen hat Kuhnke sich selbst von der Messe ausgeschlossen und damit genau jene Marginalisierung fortgeschrieben, gegen die sie doch eigentlich kämpft. Dass sie nun durch ihre Absage umso mehr im Rampenlicht steht, macht die Sache nicht besser, im Gegenteil: Prominenz erzielt Kuhnke (wie leider viele andere auch), indem sie sich selbst kleiner macht, als sie ist. Den rechten Verlag, um den es hier geht, macht sie hingegen viel, viel größer, als er faktisch war. Kann das gewollt sein?
Umso notwendiger ist es, für das Aushalten von Zumutungen die notwendige Widerstandskraft auszubilden. Was nicht heißt, dass neurechtes, menschenfeindliches Gedankengut nicht nach wie vor kritisiert und bekämpft werden sollte. Das sollte es unbedingt. Aber würde sich eine Gesellschaft zum Ziel setzen, jedwede Zumutung zu vermeiden, geriete die liberale Demokratie unweigerlich in Gefahr.
An der Causa Kuhnke lässt sich erkennen, wie unauflöslich Sensibilität und Resilienz zusammengehören. Ja, die Einfühlung in die Situation der Autorin ist unverzichtbar. Sie ist der Motor gesellschaftlicher Transformation. Aber unverzichtbar ist auch die Fähigkeit, aus der eigenen Verwundbarkeit heraus in eine Stärke zu finden, die wir brauchen, wenn wir teilhaben wollen am gesellschaftlichen Diskurs und dem alltäglichen, so anstrengenden Kampf widerstreitender Meinungen.
Teilhabe statt Boykott - Philosophie Magazin
Auch bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels kam es zu einem Zwischenfall. Die Aktivistin Mirrianne Mahn bewies während der Rede des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann, indem sie auf das Podium stürmte und die wirre Behauptung (Siehe auch oben.) äusserte, Schwarze seien auf der Messe nicht willkommen und Meinungsfreiheit sei nicht die enscheidende Frage, dass es ihr an Kinderstube fehlt. Zum Glück hat die Preisträgerin Tsitsi Dangarembga verstanden, wie wichtig Meinungsfreiheit ist und wies darauf auch hin.
Der Oberbürgermeister hat, wie man seit der letzten in Frankfurt veranstalteten Internationalen Automobilausstellung (die dann auch tatsächlich die letzte hiesige wurde) weiß, ein Händchen für Affronts gegenüber Messeausrichtern. Er bewies nun unfreiwillig auch eines für die Brüskierung der Preisträgerin, denn bevor die Feierstunde auf Sendung ging, hatte Martin Schult, für den Börsenverein langjähriger Organisator des Friedenspreises, dem Publikum erzählt, wie positiv sich Tsitsi Dangarembga über die Buchmesse als Forum der Meinungsfreiheit geäußert habe.
In der Tat sang Dangarembga später in ihrer Dankesrede das hohe Lied auf den deutschen Buchhandel, weil der sich entschieden habe, „Inhalte, Wörter und Narrative zu ehren, die ein friedliches Verstehen der Unterschiede, die wir zwischen uns wahrnehmen, fördern“. Gegen die traditionell individualistische und damit Andersdenkende ausgrenzende Auslegung von Descartes’ Satz „Ich denke, also bin ich“ im westlichen Verständnis setzte Dangarembga die afrikanische Philosophie des ubuntu: „Ich bin, weil du bist.“ Wobei auch die uns nicht gerettet habe, weshalb eine neue Aufklärung nötig sei, die „Wort für Wort“ unsere Denkmuster verändere.
Sturm auf das Rednerpult - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Im Fall Gil Ofarim sieht es wohl so aus, als habe er sich die Geschichte ausgedacht. Laut der internen Untersuchung des Hotels stützt offenbar kein einziger Zeuge Ofarims Aussagen. Keiner der Befragten hat demnach gehört, dass eine Kette Thema war. Zudem kommt ein forensisches Videogutachten wohl zu dem Schluss, dass Ofarim mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weder bei der Ankunft vor dem Hotel, noch beim Betreten der Lobby, noch an der Rezeption, noch beim Verlassen des Hauses besagte Kette sichtbar getragen hat. In dieser Sache gibt es leider nur Verlierer. Ein geradezu tragisches Ereignis.
Einen klugen Beitrag zu den Vorgängen um Julian Reichelt hat die ehemalige Leiterin des Parlamentsbüros der TAZ, Bettina Gaus, im Spiegel geschrieben.
In die Berichterstattung über den Fall des gefeuerten »Bild«-Chefredakteurs Julian Reichelt hat sich in den vergangenen Tagen ein merkwürdig prüder Ton geschlichen. Inzwischen entsteht der Eindruck, Frauen seien stets und grundsätzlich die Opfer in Beziehungen mit männlichen Vorgesetzten – auch dann, wenn sie selbst eine solche Beziehung wünschten. Hinter einer solchen Sicht steckt ein Weltbild, in dem Frauen nicht imstande sind, selbstbestimmt die Entscheidung darüber zu treffen, mit wem sie ins Bett gehen wollen. Das ist eine besonders perfide Art der Diskriminierung, weil sie sich als Fürsorge tarnt.
Wenn jetzt jedoch einvernehmliche sexuelle Beziehungen pauschal als »Machtmissbrauch« eingestuft werden, dann entmündigt das diejenigen, die in der beruflichen Rangordnung unten stehen. »Unter dem System Reichelt haben wohl zahlreiche Frauen gelitten«, schreibt die »Neue Zürcher Zeitung«. Möglich. Aber nicht jedes Liebesleid ist Ergebnis verwerflichen Handelns.
Der Autor des »NY-Times«-Artikels, Ben Smith, sagte der »Zeit« zum Fall Reichelt, ein US-Manager wäre »schon wegen jeder kleinen Untermenge dieser Vorwürfe, schon wegen fünf Prozent der Vorwürfe« sofort gefeuert worden. Ja, das ist gut möglich. Schließlich sind in den Vereinigten Staaten auch schon hochkarätige Politiker mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt worden, weil sie ihre Ehefrauen betrogen hatten.
Die Frage ist: Wäre es wünschenswert, wenn sich Moralvorstellungen wie in den USA auch in Deutschland durchsetzten? Darüber lässt sich sicher streiten. Aber ich wäre nicht begeistert.
Die Entmündigung der Frau - Der Spiegel
In Berlin bewegt man sich einmal mehr am Rande des Wahnsinns. Grund dafür sind folgende Worte:”„Es ist in keinem andern Heil, (…) denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Es handelt sich dabei um die Beschriftung der Kuppel des Stadtschlosses. Ausgesucht wurde die Bibelstelle (Apostelgeschichte IV, 12 und Philipper II, 10) im Jahr 1844 von König Friedrich Wilhelm IV.
Nun hielt es die “Bundesstiftung Humboldt Forum” für nötig, sich von dieser, von ihr selbst dort angebrachten Inschrift zu distanzieren. Man möchte im Besonderen darauf hinweisen, dass man sich den in diesem Spruch enthaltenen Herrschaftsanspruch keinesfalls zu eigen mache. Das ist an intellektueller Schlichtheit kaum zu überbieten. Indem man sich präventiv von einem fast 200 Jahre alten Spruch distanziert, begibt man sich auf das Niveau von Idioten.
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes. Bascha Mika, ehemalige Chefredakeurin der TAZ, hat auf einem Podium der Buchmesse eine sehr gute Diskussion mit dem Thema “Schreiben und Cancel Culture - ist die Kunstfreiheit in Gefahr?” geleitet. Diskutanten waren Jagoda Marinić, Matthias Politycki und Antje Kunstmann.
Schreiben und Cancel Culture - ist die Kunstfreiheit in Gefahr?
Peter Gerhardt sprach mit oben erwähnter Mirrianne Mahn und Per Leo über rechte Verlage auf Buchmessen.
Jan Feddersen sprach mit Svenja Flaßpöhler über ihr neues Buch „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“.
Wolfgang Schäuble hat eine beeindruckende Rede zur Eröffnung der Konstituierung des 20. Bundestages gehalten.
Kultur
Coverversion der Woche: The Primitives - I’ll Be Your Mirror
Heute ist der der Todestag von Lou Reed. Leider finde ich sein Solowerk nicht besonders, weshalb ich den Bezug dadurch herstelle, dass ich auf seine Band The Velvet Underground hinweise, deren Lied “I’ll Be Your Mirror” im Jahr 1989 charmant von den Primitives gecovert wurde. Natürlich kommt diese sehr gute Version nicht an das Original von 1966 heran. Das liegt vor allem an der Stimme von Nico und ihrem deutschen Akzent. Beides hasst man entweder oder man liebt es. Auf mich trifft Letzteres zu und ich bekomme bis heute jedes Mal Gänsehaut.
Epilog
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