Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #49
Ich hoffe, Sie hatten alle schöne Pfingsten. Ich habe die Zeit für einen Abstecher nach Süddeutschland genutzt. Derweil ist die Stimmung in den sozialen Medien nicht besser geworden. Die dort vorherrschende "Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein."-Diskussionskultur befremdet zunehmend. Lagerübergreifend dominieren inzwischen ideologische Verblendung, unredliches Argumentieren, groteske Feindbilder und Dämonisierung Andersdenkender. Twitter ist als Diskursmedium gescheitert und meine schon länger zurückliegende Entscheidung, mich dort noch mehr herauszuhalten, bleibt richtig.
Die Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der Einsatz für eine Reform ist nach wie vor richtig. Besonders vor dem Hintergrund einer WDR “Markt”-Sendung wird das wieder einmal anschaulich. Dort wird Mao unkritisch gelobt und man zitiert sogar aus seinem “kleinen roten Buch”. Dass es sich bei Mao um einen der größten Massenmörder der Weltgeschichte handelt, wird mit keinem Wort erwähnt.
Was mich sehr freut ist, dass ich beim “Perlentaucher” erwähnt wurde. Dies teilte mir gestern jemand mit. Die Seite gehört seit vielen Jahren zu meinen absoluten Favoriten und ich kann sie sehr empfehlen.
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Nun aber los.
Heute geht es unter Anderem um Freiheit, demokratische Prozesse und Differenzierung.
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Politik und Gesellschaft
Die Freiheit hat in Deutschland schon immer einen schweren Stand gehabt. Das wurde auch im Zuge der Coronakrise wieder deutlich. Diffamierungen gegenüber Menschen, die die Sinnhaftigkeit bestimmter Maßnahmen hinterfragten, oder die Leichtfertigkeit kritisierten, mit der - nicht selten ohne wissenschaftliche Grundlage - Grundrechte eingeschränkt wurden, waren uns sind an der Tagesordnung. Das thematisiert der Chefredakteur des “Cicero”, Alexander Marguier.
Nun ist Deutschland selbstverständlich kein Gefängnis, sondern (immer noch) eines der freiesten Länder der Welt. Aber die hinter uns liegende Corona-Krise und alle damit einhergehenden Einschränkungen haben in mitunter drastischer Weise vor Augen geführt, welchen Stellenwert die Freiheit in unserer angeblich so liberalen Gesellschaft genießt. Dabei geht es nicht einmal um Sinn und Unsinn einzelner Lockdown-Maßnahmen. Sondern um die Art und Weise, wie deren Kritiker in hässlicher Regelmäßigkeit von Politik und Medien angegangen wurden – bis hin zur Diffamierung als rechtsextreme Brunnenvergifter.
Aber nicht jeder, der das oft erstaunlich leichtfertige Außerkraftsetzen von Grundrechten beklagt, ist ein verschwörungstheoretisierender Querdenker mit Reichsflagge im Handgepäck. Im Gegenteil: Sollte es nicht gerade Ausdruck von wachem Bürgersinn sein, wenn man Fragen nach der Verhältnismäßigkeit stellt? Zur Disposition stehen ja nicht irgendwelche Petitessen, sondern die Freiheit jeder und jedes Einzelnen als Substanz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Darüber gilt es aber nicht betreten zu schweigen oder verlegen mit den Schultern zu zucken. Im Gegenteil: Wer seinen Unmut angesichts derart massiver Beschneidungen artikuliert, hat nicht Verachtung verdient. Sondern Gehör und faire Auseinandersetzung.
Blues für die Freiheit - Cicero
Das Thema Gendern erhitzt nach wie vor die Gemüter, obwohl es doch eigentlich ganz einfach wäre: Grundsätzlich entscheidet jeder selbst, wie er es damit hält. Nur Institutionen, die weltanschaulich neutral sein sollten (Behörden, Verwaltungen Schulen, Universitäten, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, etc.) wird das Gendern untersagt. Ein (wie auch immer ausgestalteter) Zwang zum Gendern ist ebenfalls verboten. Dass ein Großteil der Bevölkerung das Gendern (Die Formulierung “gendergerechte Sprache” enthält bereits die unbelegte Behauptung, diese Art von Sprechen verbessere irgendetwas.) ablehnt, ist schon länger bekannt. Nun hat eine weitere repräsentative Umfrage ergeben, dass die Mehrheit der Deutschen auch für ein Verbot des Genderns bei staatlichen Stellen ist. Dass dieser klare Wille der Bevölkerung ignoriert wird, wundert mich sehr.
Doch das Thema geschlechtergerechte Sprache trifft offenbar einen Nerv – und polarisiert, wie eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für den SPIEGEL zeigt. Demnach befürworten 53 Prozent der Deutschen ein Verbot geschlechtergerechter Sprache für staatliche Stellen. 38 Prozent sprechen sich gegen eine entsprechende Regelung aus.
Hälfte der Deutschen befürwortet Genderverbot für staatliche Stellen - Spiegel
Der Trend, politische Prozesse durch Gerichtsentscheidungen zu umgehen, dauert an. Besonders bei Klimaschützern ist diese Taktik beliebt, wie sich erst kürzlich wieder gezeigt hat. Aber ist sie auch richtig?
Weltweit zählen die Vereinten Nationen (UN) mindestens 1550 solcher Klimaklagen in 38 Ländern – oft von jungen Menschen eingereicht, die sich auf die Angst um ihre Zukunft berufen. Leider untergraben solche Fälle die Demokratie, schaden den Armen und halten uns von intelligenteren Wegen zur Lösung des Klimaproblems ab.
Siegreiche Gerichtsverfahren, wie in den Niederlanden 2019 oder das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vergangenen Monat, können jedoch den politischen Prozess umgehen und eine härtere Klimapolitik erzwingen als ursprünglich von Wählern und Regierungen vorgesehen. Viele Verfahren berufen sich darauf, dass der Klimawandel jungen Menschen ihre Zukunft raube. Das ist die alarmistische Darstellung in den Medien, welche von Politikern unterfüttert wird, die behaupten, der Klimawandel sei eine „existenzielle Bedrohung“.
Aber der UN-Klimarat stützt diesen Alarmismus nicht. Er bestätigt, dass der Klimawandel ein Problem ist, aber die Auswirkungen sind weit von einer Katastrophe entfernt. In seinem jüngsten Bericht stellt er fest, dass die Schäden durch einen ungebremsten Klimawandel bis zum Jahr 2100 2,6 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts kosten werden. Bis dahin erwartet die UN aber auch, dass die durchschnittliche Person 450 Prozent reicher als heute sein wird. Negative Klimafolgen bedeuten, dass wir nur dann „nur“ noch 438 Prozent so reich sein werden.
Trotz des Klimawandels wird das Leben der jungen Menschen weltweit im Jahr 2100 deutlich besser sein. In den UN-Szenarien für das 21. Jahrhundert werden die Menschen länger leben, besser ausgebildet sein und mehr Ressourcen zur Verfügung haben. Sie können das Leben genießen und gleichzeitig unvorhersehbare und vorhersehbare Herausforderungen, einschließlich des Klimawandels, bewältigen.
Vor diesem Hintergrund sind Klima-Gerichtsverfahren keine ultimativen Bemühungen, Demokratien zur Sicherung eines lebenswerten Planeten zu zwingen. Stattdessen verkürzen sie einfach den lästigen demokratischen Prozess, um die Ausgabenpräferenzen für eine Untergruppe sicherzustellen, die keine Mehrheit für ihre Vorschläge bekommen konnte.
Das untergräbt die Demokratie. In einer Gesellschaft geht es darum, kollektive Bedürfnisse zu steuern, die viel größer sind als die verfügbaren Ressourcen. Wahlen sind das Mittel, diese Quadratur des Kreises zu lenken. Wohlmeinende Aktivisten, die die notwendigen Kompromisse umgehen wollen, versuchen im Grunde genommen, den Klimaschutz auf Kosten aller anderen erstrebenswerten Ziele zu erzwingen. Und wenn wohlmeinende Richter in wohlhabenden Ländern mitspielen, öffnet das die Büchse der Pandora für alle Arten von Rechtsstreitigkeiten. Warum sollten nicht Tausende andere Sonderinteressen die Demokratie umgehen und sich direkt an die Gerichte wenden, um ihr bevorzugtes Ergebnis zu erreichen, etwa Schlagloch-freie Straßen, viel mehr Lehrer und Zugang selbst zu den teuersten Krebsmedikamenten?
Dazu kommt, dass dieser Ansatz die Armen sowohl in den wohlhabenden als auch in den Entwicklungsländern im Stich lässt. Für viele ist Energie schon heute unerschwinglich. In reichen Ländern wie Deutschland haben sich die Strompreise in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdoppelt. Das hat dazu geführt, dass bis zu 30 Prozent der Haushalte in Energiearmut leben. In den Entwicklungsländern können sich Milliarden von Armen keinen zuverlässigen Zugang zu Energie leisten. Studien zeigen, dass die Umsetzung des Pariser Abkommens im Jahr 2030 zu mehr armen Menschen führen wird. Eine Verschärfung der Klimapolitik durch Gerichte wird dazu führen, dass aufgrund eines langsameren Wirtschaftswachstums noch mehr Menschen arm bleiben.
Wie Klimaklagen den Armen schaden - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Wenn man mit Aktivisten diskutiert, wird man schnell erleben, dass bestimmte, vermeintliche Probleme als “strukturell” oder Teil einer “Struktur” bezeichnet werden. Sehr schwammig. Jörg Scheller und Marcel Schütz haben sich genauer damit beschäftigt.
Die Grundvoraussetzung eines solchen Strukturverständnisses lautet: Struktur sticht Strukturelement, Gruppe sticht Individuum. Eine Person mit dunkler Hautfarbe kann noch so sehr behaupten, sie sei «post-black» – die Struktur dominiert. Ein Punkmusiker kann noch so energisch rufen «don't call me white» – die Struktur dominiert. Eine Angehörige der angeblichen «Mehrheitsgesellschaft» kann noch so sehr betonen, dass sie von der «Mehrheit» abweiche – die Struktur dominiert.
Wie zur Überkompensation der «schlechten Strukturen» wird, paradoxerweise, nach mehr Strukturen gerufen. Nach «guten» Strukturen, versteht sich. Strukturen, die diesmal ganz sicher nicht versagen, die immer nur ermöglichen, niemals aber einengen und bevormunden. Meist sind damit staatliche Strukturen gemeint, also Institutionen. Man müsse die Strukturen nur besser strukturieren, dann würden sie auch die Menschen zu besseren umstrukturieren – so die Annahme.
Menschen erscheinen in diesem Strukturverständnis als Strukturierte, nicht als Strukturierende. Bis zu einem gewissen Grad ist das in disziplinärer Eigenlogik begründet: Fledermausforscher suchen und finden Fledermäuse, nicht Ameisen. Soziologen suchen und finden Strukturen, nicht Individuen. Auffallend aber ist die selektive Verwendung des Strukturbegriffs in Debatten. Wenn etwa Fälle illegaler Gewaltanwendung durch Polizisten – die es zweifellos gibt – von einem «strukturellen Problem» zeugen, was ist dann mit all den Fällen legaler Gewaltanwendung, die es auch gibt?
Ein verkürztes Strukturdenken identifiziert Einzelne vermittels akademischer Theorien ex cathedra mit Gruppenkonstrukten und verknüpft damit Wertungen. Was statistisch zutreffen mag, besagt jedoch nichts über konkrete Fälle und über jene lebensweltlichen Mischzonen, die eine richtig verstandene, nicht nur auf Diskriminierung bezogene Theorie der «Intersektionalität» erfassen müsste. Das Strukturelement ist nicht identisch mit der Struktur, das Ei nicht identisch mit der Henne. Und wie ist so etwas wie Emergenz überhaupt möglich?
Offenbar wurde der Strukturbegriff mit der Zeit immer mehr entsozialisiert und automatisiert. Automation zum einen beim Waffengang in Debatten. Die Geschütze im Internet werden schon vorgefahren, noch bevor ein Feind zu erkennen ist. Es muss überhaupt nur irgendwer vorbeimarschieren, geschossen wird sowieso, und einen Richtigen wird es schon treffen – immerhin ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um einen Repräsentanten unliebsamer Strukturen handelt! Automation zum anderen in der Weise, dass man diesen und jenen Konflikt der Gesellschaft innerhalb allzu eng gezogener Grenzen zu erkennen glaubt.
In Wahrheit gibt es unter sozialen Bedingungen natürlich stets differenzierte Strukturen, etwa diejenigen der Familie und des Intimen, Finanzstrukturen und Organisationsstrukturen. Was für streng reglementierte Institutionen wie Polizei und Militär gilt, trifft nicht auf alle anderen Bereiche der Gesellschaft gleichermassen zu. Offensichtlich aber liegt eine gewisse Erotik darin, Partikulares auf Megastrukturen hochzurechnen.
Alles Konservative steht dann schnell für die Ewiggestrigkeit; die freisinnige Wirtschaftspolitik sowieso für den Neoliberalismus. Umgekehrt wittert man in einer ökologisch interessierten Reformpolitik den nahenden links-grünen Zivilisationsbruch. Und schon ein paar geistliche Worte über die Not der Flüchtlinge genügen, um als bischöflicher Feind des Volkes durch den Twitter-Shitstorm segeln zu müssen. Wie arm wären wir dran, gäbe es nicht das reiche Arsenal der Dauerübertreibung.
Immer mehr Prominente äussern sich kritisch zum Phänomen der Wokeness. Nun hat auch John Lydon, ehemals Sänger der Sex Pistols, seinen Senf dazugegeben. Das wurde Zeit. Mich wundert sowieso, warum man nicht schon von viel mehr Künstlern aus dem Punk-Spektrum etwas dazu gehört/gelesen hat. Das zeigt, wie sehr sich dieses Genre inzwischen von dem entfernt hat, was es ursprünglich einmal war.
They just view themselves as special. It’s selfishness and in that respect it’s divisive and can only lead to trouble. I can’t believe that TV stations give some of these lunatics the space. Where is this “moral majority” nonsense coming from when they’re basically the ones doing all the wrong for being so bloody judgmental and vicious against anybody that doesn’t go with the current popular opinion?
I heard some nonsense about somebody not wanting [“Rule, Britannia”] played. But stop it. It’s a song. You can’t go back and rewrite history. If you start eliminating those things, well, you have no future. That’s kind of what I was warning about when I wrote [“God Save the Queen”]. I could see this shit coming.
Sex Pistol Johnny Rotten: How I became my wife’s carer - The Times
Bettina Gaus, ehemalige Leiterin des Parlamentsbüros der TAZ ärgert sich im “Spiegel” über die Selbstgerechtigkeit der Grünen.
Bei den Grünen kommt jedoch noch etwas hinzu. Keine andere Partei schlägt so häufig den Kammerton der Moral an wie sie – ganz so, als gehe es bei Politik nicht um den Kampf zwischen verschiedenen Interessen und um einen möglichen Ausgleich zwischen ihnen, sondern um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Kaum ein Bereich der privaten Lebensführung bleibt verschont, weder Nahrung noch Wohnen, Kleidung, Urlaubsreisen, Fortbewegung, Geldanlage oder Freizeitgestaltung.
Aber es gibt eben viele Leute, die dieses moralische Werturteil in steigendem Maße nervt. Zum Beispiel mich. Ich esse nicht besonders gern Fleisch, habe kürzlich mein Auto verkauft und nie den Wunsch gehabt, ein Eigenheim mit Garten zu besitzen. Eigentlich. Aber in dem Augenblick, in dem ich diesen Tonfall höre, diesen ganz besonderen Tonfall, den ich als hochmütig und als übergriffig empfinde: In genau diesem Augenblick wünsche ich mir ein SUV, sechsmal in der Woche Steak und eine protzige Villa ohne Solardach. Aus Prinzip. Wenn Leute mich behandeln wie eine trotzige Heranwachsende, dann benehme ich mich auch so.
Ist das vernünftig? Nein. Aber ich möchte einfach von niemandem regiert werden, der oder die sich ein moralisches Urteil über meine Lebensführung erlaubt. Ein politisches Urteil? Sehr gern. Da gibt es jedoch einen Unterschied, und ich mag die Vermischung beider Ebenen nicht.
Aus Trotz ein Steak. Im Flieger. - Spiegel
Zum Ende dieser Rubrik ein Hinweis auf ein sehenswertes Interview. Diesmal mit Constantin Schreiber.
Kultur
Coverversion der Woche: Dionne Bromfield - Mama Said
Das Stück wurde von Luther Dixon und Willie Denson geschrieben. Zum ersten Mal aufgenommen haben es die Shirelles 1961. Die Coverversion von Dionne Bromfield und das dazugehörige Video befriedigen meine Vorliebe für Bizarres. Bromfield ist das Patenkind von Amy Winehouse, die bei dieser Darbietung als Backroundsängerin fungiert. Zusätzlich findet das Ganze in der Tanzshow “Strictly Come Dancing” statt. Traumhaft!