Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #48
Letzte Woche gab es wegen des Feiertags keinen Newsletter. Das hatte ich hier nachlässigerweise vergessen anzukündigen und dann nur auf Twitter nachgereicht. Es erreichten mich deshalb einige Zuschriften, in denen besorgt gefragt wurde, ob der Newsletter nun eingestellt sei. Diese Frage kann ich verneinen. Es geht ganz normal weiter.
Seit der letzten Ausgabe hat sich viel zugetragen und vor allem das erschreckende Ausmaß an Judenfeindlichkeit, welches sich in Deutschland zeigt ist auch die Folge davon, dass der Antisemitismus in migrantischen Milieus jahrzehntelang ignoriert wurde. Wer ihn angesichts der Bilder der letzten Tage immer noch verharmlost oder versucht, von ihm abzulenken, tut das bewusst. Einer dieser Ablenkungsversuche ist die Taktik, darauf hinzuweisen, dass Antisemitismus nicht ausschließlich importiert sei. Dieser Hinweis ist deshalb so entlarvend, weil das auch niemand behauptet. In der Rhetorik nennt man das “Strohmannargument”. Wer so vorgeht, muss sich kritische Fragen nach seiner Motivation gefallen lassen. Aber auch als Israelkritik getarnter Antisemitismus, der links der Mitte immer existierte, aber nicht wirklich Thema war, brach sich in vielen Kommentaren Bahn. Hier gibt es ebenfalls noch viel aufzuarbeiten.
Eva Kreienkamp, die noch relativ neue Chefin der Berliner Verkehrsbetriebe möchte als innovative Neuerung unter anderem ein Homeoffice-Ticket und eine Rabattkarte einführen. Mein Vorschlag wäre, erst einmal die Kernprobleme zu lösen. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist in Berlin eine Zumutung. Die Stationen sind in einem erbärmlichen Zustand, das Überspringen großer Urinpfützen und die damit verbundene Geruchsbelästigung in Kombination mit dem Anblick offenen Konsums harter Drogen sind für Benutzer des ÖPNV in Berlin Alltag. Auch aggressives Betteln sowohl in den Stationen als auch in den Wagons erlebt der Reisende mindestens einmal pro Fahrt. Andere Weltstädte lösen diese Probleme besser. Als zahlender Fahrgast darf man erwarten, unbehelligt und sicher ans Ziel zu kommen.
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Nun aber los.
Heute geht es unter Anderem um Sexismus, Widersprüche und Geistesfernsehen.
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Politik und Gesellschaft
Es ist immer wieder interessant, wie versucht wird, Kritik am Verhalten von Frauen als Sexismus zu framen. Wenn Franziska Giffey viel zu spät und nach zwei Gutachten bezüglich ihrer Dissertation, die klar Plagiate und “objektive Täuschung” nachweisen, als Ministerin zurücktritt, ist die Diskussion darüber nicht sexistisch, sondern angemessen. Wenn die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock “vergisst” Nebeneinkünfte in fünfstelliger Höhe anzugeben oder es Ungereimtheiten in ihrem Lebenslauf gibt, sind Diskussionen darüber nicht sexistisch, sondern angemessen. Genausowenig ist es Sexismus, wenn weibliche Mitglieder einer Partei, die regelmäßig hochgradig polemische Beiträge in den sozialen Medien veröffentlichen, welche mit dem, was ihre Partei vertritt nicht vereinbar sind, dafür massiven Widerspruch ernten.
Dass Drohungen und andere strafrechtlich relevante Reaktionen natürlich nicht akzeptabel sind, muss eigentlich nicht erwähnt werden. In diesem Zusammenhang wird auch gern behauptet, Männern würde so etwas nicht passieren, was nicht nur angesichts realer Vorfälle in der letzten Zeit absurd ist. Auch Untersuchungen widerlegen das. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Männer häufiger die Opfer von Belästigungen im Internet sind.
Gender also plays a role in the types of harassment people are likely to encounter online. Overall, men are somewhat more likely than women to say they have experienced any form of harassment online (43% vs. 38%), but similar shares of men and women have faced more severe forms of this kind of abuse. There are also differences across individual types of online harassment in the types of negative incidents they have personally encountered online. Some 35% of men say they have been called an offensive name versus 26% of women, and being physically threatened online is more common occurrence for men rather than women (16% vs. 11%).
The State of Online Harassment - Pew Research Center
Die Grünen sind in Deutschland die Partei, die sich seit langer Zeit dem Umweltschutz und der Bekämpfung des Klimawandels widmet. In der Realität passen ihre Handlungen leider oft nicht zum gesetzten Ziel. Im Moment legen grüne Initiativen Elon Musk beim Bau seiner Teslafabrik in Brandenburg Steine in den Weg. Das Engagement gegen umweltfreundliche Beförderungsmittel dauert allerdings schon länger an. Im Internet stieß ich auf einen bereits zehn Jahre alten Artikel, der das bezüglich des Ausbaus von Bahnstrecken sehr gut aufbereitet.
Wie verquer die Haltung der Grünen zum Bau von neuen Schnellbahnlinien ist und immer war, zeigt ein Blick zurück in die achtziger Jahre: Damals wurde in Deutschland über den Bau eines ICE-Schnellbahnnetzes diskutiert. Das Streckennetz stammte größtenteils noch aus dem 19. Jahrhundert, andere Industriestaaten - etwa Frankreich oder Japan - waren Deutschland bei der Entwicklung von Schnellzügen weit voraus. Die Bahn begann also, neue ICE-Trassen zu planen. Insgesamt waren es fünf Neubaustrecken (NBS), um die sich in den folgenden zwanzig Jahren die Diskussion drehen sollte: Hannover-Würzburg, Mannheim-Stuttgart, Nürnberg-Ingolstadt, Frankfurt-Köln sowie Stuttgart-Wendlingen-Ulm. Fast immer waren die Grünen dagegen. Die jetzt in der Stuttgarter Schlichtung thematisierte Strecke Wendlingen-Ulm befürworteten die Grünen zunächst. Nachdem sie aber die Massen mobilisiert hatten und die Landtagswahl näherrückt, lehnen sie sie jetzt ab - angeblich wegen der Kostensteigerungen.
Die Gründe gegen die neuen Strecken blieben im Laufe der Jahre immer gleich: 1989, als der Bundestag über die heute erfolgreiche Strecke Frankfurt-Köln entschied, erklärten die Grünen, Neubaustrecken seien zwar notwendig, aber die Geschwindigkeitsvorgabe von 250 Stundenkilometern sei falsch. Auf den Einwand der Bahnbefürworter, wie dann ein ICE konkurrenzfähig zum Auto oder zum Flugzeug werden solle, antworteten die Grünen: Man müsse eben auf Autobahnen und Bundesstraßen ein Tempolimit erlassen, dann würde der Autoverkehr schon weniger. Sonderlich realistisch war das nicht. In Hessen war die Geschwindigkeit von ICE-Zügen auf der Strecke Köln-Bonn sogar einmal Gegenstand von Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen, auch wenn es sich dabei um eine nationale Angelegenheit handelt.
Wenn es um Details des Natur- und Umweltschutzes ging, suchten die Grünen den Schulterschluss mit den entsprechenden Interessenverbänden. Dabei hantierten sie immer mit Studien und Gutachten, die schwer zu überprüfen waren: So argumentierte der frühere verkehrspolitische Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, Michael Cramer, ein neuer Kreuzungsbahnhof in Berlin sei überflüssig. Den Stadtstraßentunnel unter dem Tiergarten bekämpfte eine „Antitunnel GmbH“ mit dem Argument, die Pflanzen würden verdorren, die grüne Lunge Berlins werde zerstört. Von der Fällung bedrohte Bäume markierten die Aktivisten damals.
Vieles davon erinnert an das Vorgehen der sogenannten „Parkschützer“ im Stuttgarter Schlossgarten. Das Argument, der Rückbau des Kopfbahnhofs schade dem Klima im Talkessel, spielte erst jüngst bei den Schlichtungsgesprächen wieder eine Rolle. Sieht man von der Warnung vor steigenden Kosten ab, dann hat sich von den Befürchtungen der neunziger Jahre gegen die Berliner Bahn-Projekte eigentlich nichts bewahrheitet: Der Tiergarten ist nicht verdorrt; der neue Hauptbahnhof hat die Hauptstadt nicht in ein Verkehrschaos gestürzt. Aber wenn ein Großprojekt nach vielen Jahren realisiert ist, erinnert sich oft niemand mehr an die düsteren Prognosen während des Planungsprozesses.
Diener aller Bürgerinitiativen - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Götz Aly hat einen Artikel geschrieben, in dem er sich kritisch mit der, auch hier schon thematisierten, Umbenennung der Berliner Mohrenstraße beschäftigt.
Ohne jede Begründung wird zudem behauptet, der Straßenname schade „dem nationalen und internationalen Ansehen Berlins“ und enthalte einen „rassistischen Kern“. Dazu ist zu sagen: Zur Zeit der Benennung wurden in der ständisch verfassten Gesellschaft einzelne Menschen- und Berufsgruppen mit Straßennamen nicht diskriminiert, sondern ehrend als Gemeinschaften hervorgehoben. Deshalb haben wir in Berlin die Schützenstraße, die Jüdenstraße, den Gendarmenmarkt, den Kadettenweg, den Hugenottenplatz, die Böhmische Straße usw. Die Mohrenstraße kreuzt die nach dem vor 320 Jahren regierenden Königspaar – Friedrich und Charlotte – benannten Straßen des heutigen Zentrums. Eine derart hervorgehobene Position im alten und heutigen Zentrum Berlins kann nicht herabsetzend gemeint gewesen sein. Im Deutschen wird das Wort Mohr seit langer Zeit nicht mehr als Bezeichnung für einen Menschen dunkler Hautfarbe verwendet; es existiert auch nicht als Schimpfwort.
Die Mohrenstraße ist Teil der Stadtgeschichte, ähnlich der Mauerstraße, dem Festungsgraben, der Invaliden- oder der Hirtenstraße. Dasselbe gilt für die zur Mohrenstraße parallel verlaufende Taubenstraße. Sie war nicht etwa dem Vogel, sondern solchen Soldaten gewidmet, die im Kriegsdienst ertaubt waren und dort Unterkunft gefunden hatten. Gilt das demnächst als behindertenfeindlich? Es gibt keinen Grund, an den historischen Namen zu rütteln. Sie sind Schriftdenkmale, die es uns Heutigen ermöglichen, die Vergangenheit unserer Stadt zu lesen und besser zu verstehen.
Die Idee zur Umbenennung wurde von einer kleinen, wenig informierten antikolonialistischen Gruppierung forciert. Diese nennt das Bezirksamt „zivilgesellschaftliche Akteure“. Diejenigen, die dagegen seit Jahren begründete Einwände erheben, zählt dasselbe grün-rot-rot durchherrschte Amt nicht zur Zivilgesellschaft. Dagegen sollte man sich zur Wehr setzen.
Rettet die Berliner Mohrenstraße! - Berliner Zeitung
Eine Gesellschaft, die sich bei der Wirklichkeitsbeschreibung nicht einmal mehr auf grundlegende Punkte einigen kann, wird den zu erwartenden schmutzigsten Wahlkampf seit Bestehen der Bundesrepublik nicht ohne bleibende Schäden überstehen. Boris Palmer musste sich kürzlich mit haltlosen Rassismusvorwürfen herumschlagen und die Grünen wollen ihn nun ausschließen. Der Höhepunkt einer langen Entfremdung. Er hatte den Fehler gemacht, einen wahrscheinlich gefälschten Facebookeintrag für echt zu halten. Ein rassistisches Wort im Kontext eines Zitats zu verwenden, ist allerdings kein Rassismus. Diese Debatte überdreht völlig und schadet dem wichtigen Anliegen, Rassismus zu beseitigen. Auch Peter Unfried mahnt in der TAZ, dass sich die Partei am Umgang mit Palmer messen lassen muss.
Palmer selbst begrüßt das eingeleitete Parteiausschlussverfahren, weil damit erstmals öffentlich die parteiinternen Rassismusvorwürfe auf ihre Substanz geprüft werden. Darum geht es jetzt in der Sache. Die weitaus größere Frage aber ist, ob die Grünen ihr Versprechen wahrmachen können, aus dem Zentrum der Gesellschaft heraus als liberale Kraft eine Allianz der Unterschiedlichen für gemeinsame Zukunftspolitik zu schmieden. Dafür müssen sie jene vertreten, deren Antirassismus klare sprachliche Regeln beinhaltet. Und jene, die Antirassisten sind, kein N-Wort benutzen, aber auch Angst bekommen, dass ein falscher Satz sie die Anstellung, Reputation oder Parteimitgliedschaft kosten könnte. Und Friedrich-Merz-Anhänger müssen sie übrigens auch politisch vertreten können.
Test für die grüne Vielfalt - TAZ
Die Forderung der FDP, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu reformieren, hat ihr den Vorwurf des Populismus eingebracht. Das ist tatsächlich absurd, wie Alexander Kissler in der Neuen Zürcher Zeitung darlegt.
Die FDP erhofft sich eine beitragssenkende Wirkung von ihren Vorschlägen, und vermutlich liegt darin der Stein des Anstosses. Der mit jährlich rund 8 Milliarden Euro Beitragsaufkommen teuerste öffentlichrechtliche Rundfunk der Welt mag vom Prinzip der risikolosen Überversorgung nicht lassen.
Böhmermanns These, ein sparsamer Umgang mit den Mitteln der Allgemeinheit werde «rechts aussen» gefordert, ist allenfalls dann plausibel, wenn man reaktionäres Beharren auf dem Status quo für progressiv hält.
Dass der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) ins selbe Horn stösst, macht die Sache nicht besser. Wer den öffentlichrechtlichen Rundfunk in seiner bestehenden Form für sakrosankt hält, zeigt eine seltsam aus der Zeit gefallene Angst vor Veränderung. In einer Ära der Disruption sollten ARD und ZDF nicht als Dinosaurier des Überkommenen auftreten.
Letztlich gibt es weder für insgesamt 21 Fernseh- und 74 Hörfunkprogramme noch für die ausufernden Aktivitäten im Internet und in den sozialen Netzwerken eine Rechtfertigung. Dort agieren ARD und ZDF mit einem unlauteren Wettbewerbsvorteil namens Rundfunkbeitrag. Allein bei Instagram wird mit rund 300 Kanälen noch das kleinste Spezialinteresse bedient.
Je wütender ARD und ZDF Kritik abzuwürgen versuchen, desto stärker bestätigen sie deren Notwendigkeit. Den digitalen Wildwuchs zu kappen, die Zahl der Sender und die Menge der Formate zu reduzieren und Mehrfachstrukturen abzubauen, wäre nicht rechts und nicht links, sondern überfällig.
Jan Böhmermann, die Rundfunkmilliarden und das Märchen von der «AFDP» - Neue Zürcher Zeitung
Zum Ende dieser Rubrik möchte ich noch auf die neueste Ausgabe des hörenswerten Podcasts “Die sogenannte Gegenwart” zum Thema Liberalismus hinweisen.
Aber was macht das mit uns, wenn wir gar nicht mehr über Freiheit als Freiheit reden? Geht uns das intellektuelle Gespür dafür verloren, was Freiheit jenseits von Verantwortung eigentlich meint? An welche Ideen von Freiheit glauben Linke? Was ist der Unterschied zwischen einem Wirtschaftsliberalen und einem Libertären? Und was bitte schön hat ausgerechnet der Liberale mit einem Skateboarder gemeinsam?
Die sogenannte Gegenwart - Live free or die? - Zeit
Kultur
Vor zwei Monaten tauchte eine bisher unbekannte Aufnahme von Albert Einsteins Eröffnungsrede bei der Funkausstellung 1930 in Berlin auf. Sie ist besonders interessant, weil es nur wenige Filmausschnitte vom deutschsprechenden Einstein gibt. Mit künstlicher Intelligenz wurde diese Aufnahme zusätzlich koloriert und restauriert.
Bei meiner Suche nach aktuellen Sendungen, die es mit Klassikern, wie dem Literarischen/Philosophischen Quartett, dem Club 2 im ORF oder auch der Gaus-Interviews aufnehmen können, wurde mir die Sendung “Lesenswert Quartett” empfohlen. Sie läuft bereits seit 2014 und ist völlig an mir vorbeigegangen. Besonders vor dem Hintergrund, dass bei ihr zwei von mir geschätzte Personen, nämlich Denis Scheck und Ijoma Mangold mitwirken, schockiert mich das ein wenig. Die Folgen findet man auch bei Youtube. Die Suche führte mich auch zu einer Sendung mit Jörg Fauser aus dem Jahr 1984, die ich ebenfalls sehr empfehlen kann.
Coverversion der Woche: The High Numbers - I’m The Face
Da gestern der Geburtstag von Pete Townshend war, heute etwas von den High Numbers, wie The Who in ihrer Anfangszeit hießen. Eigentlich heißt der Song “I Got Love If You Want It” und erschien 1957 auf der ersten Single von Slim Harpo. Der geänderte Titel ist im Prinzip eine Unverschämtheit und sollte wohl den, auch nie wirklich vorhandenen, Mod-Bezug der Band herstellen.