Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #45
Einen Tag nachdem das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel für verfassungswidrig erklärt hatte, gab es eine Großdemonstration gegen dieses Urteil. Im Prinzip haben haben 10.000 (Die Veranstalter sprechen von 15.000.) Menschen unter Mitwirkung der Linkspartei und der Grünen gegen die Verfassung demonstriert. Herbeigeträumt wurden im Rahmen der Veranstaltung entschädigungslose Enteignung, tote Vermieter und ein brennendes Verfassungsgericht. Das ist ein Dammbruch, der nicht ohne politische Konsequenzen bleiben darf.
Zwei Erfinder eines Handschuhs, mit dem Frauen Tampons sauber entfernen und diskret entsorgen können, hatten bei der Fernsehsendung “Die Höhle der Löwen” die Finanzierung eines Unternehmers eingeheimst. Das hatte die übliche Empörung der üblichen Verdächtigen zur Folge. Mich wunderte das wenig. Wer der Meinung ist, nur Schwarze dürften das Gedicht einer Schwarzen übersetzen, der hält es auch für einen Skandal, wenn Männer ein Produkt für Damenhygiene entwickeln. So weit, so erwartbar. Was mich allerdings schockiert hat ist, dass die beiden Gründer das Produkt nun vom Markt genommen haben und sich zurückziehen, weil sie mit Hass und sogar Morddrohungen gegen sich und ihre Familien überzogen wurden. Die Radikalisierung des woken Milieus ist inzwischen nicht mehr zu übersehen.
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Nun aber los.
Heute geht es unter Anderem um Klassismus, die Kanzlerin und merkwürdige Umdeutungen.
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Politik und Gesellschaft
Der Begriff “Klassismus” ist in den letzten Jahren immer häufiger in Debatten zu vernehmen. Was damit allerdings genau gemeint ist, darüber ist man sich im verwendenden Milieu gar nicht einig. Bisher fehlt ein schlüssiges, theoretisches Fundament.
Die analytische Annäherung wird dadurch erschwert, dass Klassismus von der akademischen Linken konsequent politisch gedeutet wird. Dabei findet sich mittlerweile selbst im Duden eine, zu Recht, unpolitische Definition. Klassismus meint danach „Diskriminierung oder Vorurteile gegenüber einer Person aufgrund einer Zugehörigkeit zu oder Herkunft aus einer bestimmten sozialen Klasse“. Klasse wiederum wird ohne Bezug zu Marx als „Gruppe der Bevölkerung, deren Angehörige sich in der gleichen ökonomischen und sozialen Lage befinden“, definiert.
Problematisch ist, dass die akademische Linke zwar die Deutungshoheit für den Klassismus für sich beansprucht, sich aber selbst nicht einig ist, ob das Konzept zur Durchsetzung ihrer Ideale taugt. Eine gewisse Ironie entsteht dadurch, dass Probleme in den eigenen Reihen nicht angesprochen werden, etwa wenn Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ als Vorbild autobiographischer Erzählungen dient, die nun reihenweise in Sammelbänden mit dem Begriff „Klassismus“ im Titel erscheinen, dabei aber ausgeblendet wird, dass Eribon nicht nur die eigene Herkunftsscham beschreibt, sondern vor allem das Erstarken (neuer) rechter Parteien und die Gründe für die Abwanderung vormals linker Wähler aus der Arbeiterklasse.
Die Debatte um Klassismus und die Etablierung des Klassismusbegriffs wird medienwirksam geführt, dreht sich aber mangels eines sozialwissenschaftlichen Konzepts, an das sich grundsätzlich anknüpfen ließe, in die verschiedensten Richtungen. Mal wird Klassismus als Diversity-Ansatz verstanden, dann wird wiederum kritisiert, dass ein solcher Ansatz emanzipatorischer Politik entgegenstehe. Solange Inkonsistenzen in der Argumentation diese Debatten prägen, ist es unvermeidbar, dass Klassismus als Begrifflichkeit von vielen Außenstehenden im Sinne einer Identitätspolitik missverstanden wird, die Ursachen der eigenen Unzulänglichkeiten ausschließlich im Außen sucht.
Die Darstellung persönlicher Erfahrungen ist für Einzelne sicherlich wichtig, allerdings wirft der konkrete Wunsch, keine strukturelle Analyse zu betreiben, wie es beispielsweise die Herausgeber der Sammelbände „Solidarisch gegen Klassismus“ und „Klassismus und Wissenschaft“ explizit betonen, die Frage auf, wie emanzipatorische Politik ohne Theoriearbeit und stringente Argumentationslinie funktionieren soll.
Dem Wunsch nach Wissenschaftlichkeit mag vorgeworfen werden, er sei selbst klassistisch. Aber wenn Utopien weit von Realpolitik gesponnen werden, stellt sich die Frage, wie ernst es ihren Exponenten wirklich mit einem Strukturwandel ist, der Menschen in prekären Situationen hilft und ungerechtfertigte soziale Ungleichheit beseitigt.
Überbau ohne Basis - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Einer der besten Artikel, den ich je über Angela Merkel gelesen habe, steht im “Foreign Affairs” Magazin. Auch wenn ich nicht allem zustimme und das Stück nicht mehr ganz tagesaktuell ist, stellt es trotzdem einen hervorragenden Überblick dar.
When the pandemic began, Merkel was one of the first leaders to grasp that it could become a modern-day version of these early catastrophes. On March 18, 2020, the chancellor told a stunned nation in a televised address: “This is serious. You should take it seriously, too. Since German unification—no, since World War II—there has been no challenge like this one, where our common solidarity matters so much.” At first, it seemed as though her country had heeded her; in the spring and summer, German policymakers acted swiftly, decisively, and in unison. While the virus raged elsewhere, caseloads in Germany stayed low, and the country began to reopen. Germany—and Merkel—was being hailed as a shining example of leadership.
But now it appears that Merkel the scientist, crisis manager, and compromise broker is facing her greatest failure at home. Warnings (including hers) of a second pandemic wave were ignored. The result was a horrific winter spike; as of March 2021, the national death toll exceeded 70,000. The wealthy, well-ordered Germany that took on the task of integrating one million refugees in 2015 is now struggling to deliver tests and vaccines.
There are many causes for this chaos. Health policy is the business of Germany’s 16 states. In a parliamentary system, the chancellor does not have a veto over policies that are state prerogatives; all she can do is persuade. In a year with six regional votes besides the national vote in September, politicians deprived of most of the options of normal retail politics are busy competing with one another as the protectors of their constituents’ special interests. The country’s health administration is overregulated and underorganized—a fact made all the more ironic by the fact that one internationally successful vaccine, Pfizer-BioNTech’s, was co-developed by German scientists of Turkish origin.
The Singular Chancellor - Foreign Affairs
Viele ehemalige Linke habe im Laufe der Jahre das Lager gewechselt und sind inzwischen auf der anderen Seite angekommen. Von Rechtspopulismus bis Rechtsextremismus ist alles dabei. Eine weitere Bestätigung der angeblich widerlegten Extremismustheorie. Die Gründe dafür legt der Politikwissenschaftler (Einer von den seriösen.) Wolfgang Kraushaar in einem spannenden Interview dar. Mir war er bisher vor Allem durch seine Expertise zur RAF bekannt. Die Themen sind ja auch verwandt.
Richtig ist jedoch, dass Dutschke immer ein überzeugter Anhänger der deutschen Nation war. Das scheint dem zu widersprechen, wodurch er bekannt geworden ist. Man nahm ihn vor allem als Internationalisten wahr, der für die Befreiung der Dritten Welt kämpfte. Das muss aber kein Widerspruch sein. Schon seine frühen Texte drehen sich um die Nation, besonders im Hinblick auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Doch er wusste, dass seine Genossen so etwas nicht hören wollten und schrieb einige dieser Texte deshalb lieber unter Pseudonym. Auch später, Mitte der 70er-Jahre, nachdem er sich von den schweren Folgen des Attentats erholt hatte, schrieb er immer wieder Artikel zur Wiedervereinigung und zur deutschen Nation. Er wollte ein demokratisch-sozialistisches Gesamtdeutschland.
Ein Zweites, das bei Dutschke auffällt, ist sein Schweigen zu den Verbrechen des Nationalsozialismus. Als er einmal nach dem Warum gefragt wurde, antwortete er, er habe als Christ aus Scham einfach nicht darüber sprechen können. Dazu muss man wissen, dass Dutschke ein gläubiger Protestant war. Eines ist jedoch sicher: Dutschke war völlig frei von Anti-Zionismus und Antisemitismus. Er hat 1967 im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) die Verabschiedung einer anti-israelischen Resolution verhindert, in der behauptet wurde, Israel sei ein Vorposten des US-Imperialismus, den man bekämpfen müsse. Ab 1969 setzte sich diese Position jedoch durch. Für mache war es eine willkommene Gelegenheit, sich nicht mehr mit den deutschen Verbrechen befassen zu müssen und stattdessen lieber die Unterdrückung der Palästinenser anzuprangern. Nach dem Motto: Die Juden sind ja selbst Täter.
Es gab eine Phase von 1961 bis 1965, also vor den bekannten Straßenprotesten, die später das Bild der Studentenbewegung prägten. Da war die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Verbrechen das beherrschende Thema der späteren SDS-Aktivisten. Zahlreiche Arbeitsgruppen und Seminare drehten sich darum. Danach befasste man sich mehr mit der Gegenwart, und das Interesse an den deutschen Verbrechen wurde geringer. Jetzt stand die Frage im Mittelpunkt, wie stark der Nationalsozialismus im westdeutschen Staat noch lebendig sei. So wurde etwa die NSDAP-Vergangenheit des Bundeskanzlers Kiesinger ein großes Thema. 1968 konzentrierte sich dann alles auf die Notstandgesetzgebung. Sie wurde als Wegbereitung in eine neue Diktatur interpretiert. Die Parole lautete: „Kein neues 33!“ In der linken Terminologie von damals sprach man aber immer nur vom Faschismus. Das Spezifische des deutschen Nationalsozialismus, der fanatische Antisemitismus, der zum Völkermord an den europäischen Juden führte, wurde verdrängt.
Ein anderes Thema mit Bezug zu Herkunft: Kann Identitätspolitik, die die Hautfarbe oder die Religion zum entscheidenden Faktor menschlicher Biographien macht, links im Sinne von emanzipatorisch sein? Momentan haben wir es mit merkwürdigen Phänomenen zu tun. Wir denken zum Beispiel an eine neue Figur bei den Muppets, die als „person of color“ eingeführt wurde und einen langen Monolog über die Bedeutung ihrer Hautfarbe hielt.
Wenn man das als links verstanden wissen will, ist es zumindest ein Zerfallsphänomen. Es wäre aber unlauter, Identitätspolitik als per se rechts einzuordnen. Bekannt ist, dass der Identitätsbegriff schon Mitte der 70er-Jahre in den Sozialwissenschaften rauf- und runterdekliniert worden ist. Prägend war ein Emigrant, der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson. Dessen Identitätsmodell, das er anhand von Migranten-Biographien in den USA entwickelt hatte, wurde in den 70ern marxistisch überwölbt, indem man von Individuen ausging, die sich selbst entfremdet und als bloßes Konsumobjekt den Marktmechanismen des Kapitalismus unterworfen waren. Diese Kritik spielte in den 70ern und frühen 80ern eine erhebliche Rolle, als Ex-68er nach Indien gingen und sich plötzlich als „Sannyasins“ verstanden. Man war nicht mehr marxistisch, sondern subjektivistisch, wofür es vorher in den linken Gruppierungen in dieser Einseitigkeit kaum einen Raum gegeben hätte.
Also nichts Neues unter der Sonne?
Doch, durchaus. Neu und entscheidend ist, dass man heute jeder partikularen Identität, die man meint, unterstützen zu müssen, einen Opferstatus zurechnet. Der Soziologe Andreas Reckwitz (Anm. d. Red: hier im Interview mit Ellen Daniel und Michael Miersch) spricht nicht zu Unrecht von einer „Gesellschaft der Singularitäten“. Wir leben jedenfalls in einer immer stärker atomisierten Gesellschaft, in der ein Bezug auf kollektive Erfahrungs- und Überzeugungsmuster immer schwieriger wird. Also versucht man im Feld der Identitätspolitik gewissermaßen Opfergruppen zu bilden und so Dynamik und Voraussetzungen für gesellschaftliche Kampagnen zu erzeugen. Ich halte das für einen Irrweg.
Wie aus roten Studenten braune Rentner wurden - Salonkolumnisten
Über die Singularität des Holocausts besteht in Deutschland Einigkeit, auch wenn immer mal wieder Debatten über Teilaspekte des Themas aufflammen. Grundsätzlich wird das allerdings nicht bestritten. Nun wird von Teilen links der Mitte erneut der Versuch unternommen, diese Einzigartigkeit zu relativieren und sogar zu diskreditieren.
Ein kleines Schild, wie es manche Straßenschilder zur Erklärung tragen und das man bei der Umwidmungsaktion hatte stehen lassen, verriet, wessen Name ersetzt worden war: Es war der Name von Bernhard Weiß, dem jüdischen Vizepolizeipräsidenten, der von Joseph Goebbels als „Isidor Weiß“ geschmäht wurde und der sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nur durch großes Glück ins Exil hatte retten können.
Es gibt 9500 Straßen in Berlin. Es finden sich darunter Könige, Kirchenfürsten und Generäle als Namensgeber, auch Kaiser Wilhelm und die Hohenzollern haben bis heute ihren Platz im Gedenken der Stadt. Es hätte also viele Möglichkeiten gegeben, eine Straße in George-Floyd-Straße umzubenennen.
Warum wählt man ausgerechnet den Namen eines Mannes, der wie kaum ein anderer von den Nazis gehasst wurde, um ihn zu überkleben? Und warum findet das ohne jeden Kommentar seinen Eingang in die Mitarbeiterzeitschrift des Auswärtigen Amtes, also des Ministeriums, an dessen Spitze ein Mann steht, der von sich selbst sagt, dass er wegen Auschwitz in die Politik gegangen sei?
Weil genau das so gewollt ist. Das Bild ist ein Symbol, ein Zeichen. An die Stelle des Juden tritt die Person of Color, das ist die Botschaft.
Wir reden in diesen Tagen viel über kulturelle Aneignung. Die Grünen in Berlin haben gerade ihre Spitzenkandidatin gezwungen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie als Kind davon geträumt hat, Indianerhäuptling zu werden. Aber ausgerechnet wenn es um den Mord an den Juden geht, fallen im linksbürgerlichen Milieu die Hemmungen.
Wer darauf besteht, dass der Holocaust einzigartig sei, der denke provinziell, so lautet das Verdikt. Ja, schlimmer noch: Er leiste dem Rassismus Vorschub, weil er die Debatte um koloniale Verbrechen abwehre.
„Nachdrücklich lehnen wir die Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland ab, die historisch Unterdrücker waren“, heißt es in einer Erklärung, die 1500 Künstler unterzeichnet haben. „Wir lehnen die Vorstellung ab, dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht werden können.“
Deutlicher kann man es nicht sagen: Lange genug haben die Juden das Gedenken monopolisiert, jetzt sollen sie sich gefälligst mal hinten anstellen. Der Holocaust war schlimm. Aber das Leid der Schwarzen war mindestens genauso schlimm.
Dass die Juden im Opfergedenken den ersten Platz einnehmen, war in Teilen des migrantischen Milieus immer schon ein Ärgernis. Der Satz, dass die Muslime die Juden von heute seien, ist nicht nur so dahingesagt. Angesichts des manifesten Antisemitismus in der muslimischen Welt könnte man es als Fortschritt betrachten, wenn sich der Aggressor mit dem Objekt seiner Aggression identifiziert. Aber so ist das selbstverständlich nicht gemeint. Erstrebenswert erscheint allein der mit der Pogromgeschichte verbundene Opferstatus.
Vielleicht ist es an der Zeit, Stopp zu sagen. Man muss nicht jede Unverschämtheit akzeptieren, nur weil jemand erklärt, er habe ebenfalls Diskriminierung erlebt. Ein Argument lautet, Deutsche mit Migrationserfahrung hätten andere Probleme und andere Familiengeschichten. Aber auch von einer Person of Color kann man verlangen, dass sie die Geschichte des Dritten Reichs kennt, zumal wenn sie Deutschland im Ausland vertritt.
Was war der Holocaust? Wenn bei Linken im Umgang mit der Geschichte alle Hemmungen fallen - Focus
Kultur
Hinweisen möchte ich auf eine sehenswerte Dokumentation über die Architektenfamilie Böhm aus dem Jahr 2014, die ich gerade erst entdeckt habe.
Coverversion der Woche: Señor Coconut - The Robots
Gestern jährte sich der Tod des Kraftwerk-Gründers Florian Schneider-Esleben, weshalb es heute natürlich ein Stück dieser Gruppe ist. Das Original erschien im Jahr 1978 und ist ein Klassiker. Die Interpretation von Señor Coconut funktioniert mit seinem charakteristischen Stil einfach richtig gut.