Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #39
Dies ist eine kurze Woche. Am Montag war hier in Berlin ein Feiertag, der Frauentag. Zu dessen Anlass wurde wie jedes Jahr weitgehend faktenfrei über vermeintliche strukturelle Benachteiligung von Frauen in Deutschland und in diesem Zusammenhang auch über den Gender Pay Gap diskutiert. Wer bei dieser Debatte wie üblich ignoriert wurde, waren die Millionen Frauen auf der Welt, die tatsächlicher Benachteiligung ausgesetzt sind. Dazu schweigt man, denn die damit zusammenhängenden Sachverhalte passen nicht ins Weltbild.
Sehr gefreut habe ich mich über die vielen positiven Rückmeldungen zu meiner Premiere in der WELT. Es werden weitere Artikel folgen. Mehr dazu in Kürze an dieser Stelle.
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Nun aber los.
Heute geht es unter Anderem um “schädliche” Meinungen.
Politik und Gesellschaft
Vorgestern sprach die Julia Ruhs, Volontärin beim Bayrischen Rundfunk, einen Kommentar in die Kamera. So weit, so unspektakulär, möchte man meinen. Dieser beschäftigte sich allerdings kritisch mit dem Gendern und das geht natürlich gar nicht. Meinungsvielfalt empfinden viele als Zumutung, das ist kein Geheimnis. So waren Shitstorm und das Niveau der Debatte vorhersehbar. Man kann natürlich fragen, ob der Bayrische Rundfunk klug handelte, indem er eine junge Volontärin dem Mob zum Fraß vorwarf. Sie scheint den Gegenwind allerdings gut auszuhalten.
Erwähnenswert wurde das Ganze an dem Punkt, als sich mit Hanning Voigts ein Journalist der Frankfurter Rundschau, mit dessen Diskussionsstil ich auch schon Bekanntschaft machen durfte, in die Debatte einmischte. Er behauptete, bei diesem Meinungsstück handele es sich um “schädlichen Journalismus”, Ruhs argumentiere “völlig jenseits des wissenschaftlichen Forschungsstandes” und und “ventiliere ihre Ressentiments”. Zusätzlich warf er ihr die Verwendung “rechter Kampfbegriffe” vor. Da weiss man gar nicht, wo man anfangen soll.
Warum ein klar als Kommentar gekennzeichneter Beitrag “schädlich” ist, sobald er nicht den eigenen Ansichten entspricht, führte Voigts nicht weiter aus. Immerhin entschuldigte er sich später für die Verwendung dieses Wortes, dessen Verwandtschaft zu “Schädling” ungute Assoziationen zur Wortwahl totalitärer Regime weckt. Der Hinweis auf “die Wissenschaft” belegt ein fragwürdiges Wissenschaftsverständnis, welches von absoluten, zementierten Wahrheiten ausgeht. Zudem gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass die sogenannte “geschlechtergerechte” Sprache für mehr Gerechtigkeit sorgt. Ressentiments und “rechte Kampfbegriffe” konnte ich nicht entdecken.
Einschüchterung und Mansplaining gegenüber einer jungen Journalistin scheinen in Ordnung zu sein, wenn diese die falschen Ansichten hat.
Zur bereits in der letzten Woche thematisierten Diskussion um die Übersetzung der Gedichte von Amanda Gorman gibt es nun ein Update. Die Übersetzung ins Deutsche übernehmen Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling. Nein, das ist kein Witz. Überrascht die Augen rieb sich wahrscheinlich auch Wolfgang Matz, langjähriger Lektor im Hanser Verlag, der zu dem Thema einen lesenswerten Artikel schrieb.
Soll man ernsthaft eingehen auf die Auseinandersetzung um Amanda Gormans Gedicht? Soll man ernsthaft mitdiskutieren, ob ein Künstler nur nach Überprüfung der Herkunft akzeptabel ist? Oder hat nicht die Verbotsfraktion bereits gewonnen, wenn man beginnt, ein Für und Wider abzuwägen?
Übersetzung von Poesie (sofern nicht auf interlineare Inhaltsangabe beschränkt) ist Teil der Poesie, also ebenfalls Kunst. Der Versuch, sie an irgendwelche ethnische Kriterien zu knüpfen, trifft also mitnichten nur die Übersetzung, sondern natürlich die Poesie, ja die Kunst als Ganzes.
Als Übersetzerinnen werden genannt Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling; zwei davon laut allen zugänglichen Informationen ohne jegliche Erfahrung mit Poesie und deren Übersetzung; die dritte, eine routinierte Fachfrau, offenbar engagiert, um das Schlimmste zu verhindern.
Was aber begründet das Engagement der ersten beiden? Die Frage stellt sich besonders bei Kübra Gümüsay, die als weiße Deutschtürkin in keiner erkennbaren Verbindung steht zu einer schwarzen Amerikanerin. Außer man bildet eine imaginäre Diskriminierungsskala, auf der solche realen Eigenschaften völlig gleich sind, sofern man irgendwelche Pluspunkte im identitären System aufzuweisen vermag. Doch die Sache hat noch einen Haken. Amanda Gorman, die ihr Gedicht bedenkenlos zur Feier eines alten weißen Mannes vortrug, schreibt poetisch und politisch in der Tradition der liberalen, libertären Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten. Kübra Gümüsay hat ihre Sympathien für Erdogans AKP öffentlich zu Protokoll gegeben, in Kritiken von Ronya Othmann und Anna Prizkau ist das nachzulesen. Als Autorin Sympathisantin autoritärer Regime, beim Übersetzen Bürgerrechtlerin? Macht nichts, solange das Ranking stimmt.
Verstehe einer die Lyrik - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Dazu passt auch die aktuelle Auseinandersetzung von René Pfister mit identitären Verwirrungen im Spiegel.
Unter Esken ist die SPD schon seit Längerem auf einem Todesmarsch, der die Partei immer mehr von ihrer einstigen Wählerschaft entfernt. Wenn nun schon ein aufrechter Sozialdemokrat wie der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse als rückwärtsgewandt gilt, dann passt die Wählerschaft der SPD womöglich bald in einen Seminarraum für Gendertheorie.
Gravierender aber ist, dass nun auch in Europa eine Debattenkultur um sich greift, in der Betroffenheit und der Jargon der Empörung das Argument ersetzen. »Cry Bullying« heißt ein Instrument, das zuerst an amerikanischen Universitäten Anwendung fand und mit dem Gruppen, die sich diskriminiert fühlen, jede Gegenrede zu ersticken versuchen. Es ist so effektiv, dass inzwischen Parteien und Unternehmen schon beim geringsten Protesthauch einknicken.
Es wäre naiv, den Fall als kuriose, aber letztlich harmlose Kapriole eines etwas überdrehten identitätspolitischen Diskurses zu betrachten. Im Kern offenbart er den Versuch, die Werte des Universalismus und der Aufklärung zurückzudrehen. Wenn eine weiße Autorin nicht mehr eine schwarze Dichterin übersetzen darf, ist es dann nicht konsequent, dass Schriftstellerinnen nur noch von Frauen übersetzt werden? Sollten dann weiße Reporter besser nicht mehr über schwarze Politiker schreiben?
Und gehört dann nicht »Effi Briest« aus den Buchläden verbannt, weil sich ein Apothekersohn angemaßt hatte, sich in das eheliche Unglück einer pommerschen Landadligen hineinzuversetzen? Wer das für ein lächerliches Gedankenspiel hält, sollte sich den Fall der weißen Schriftstellerin Jeanine Cummins ins Gedächtnis rufen, die sich in den USA erst vor wenigen Monaten den Vorwurf der »kulturellen Aneignung« anhören musste, weil sie in ihrem Roman das Schicksal einer Frau schildert, die aus Lateinamerika in die USA flüchtet.
Die Freiheit der Kunst und der Debatte kann mit den besten Absichten zerstört werden. Die Demokratien in den USA und Europa werden von rechten Populisten bedroht, aber auch von einer dogmatischen Linken, die glaubt, im Namen der Gleichberechtigung jeden aussortieren zu dürfen, der sich eine unabhängige Meinung leistet. Der Kampf um eine bessere Welt wird dann allerdings schnell zu einer sehr einsamen Angelegenheit.
Wer schreit, gewinnt - Spiegel
Mit Besorgnis nehme ich zur Kenntnis, dass die Zahl politischer Straftaten im vergangenen Jahr stark zugenommen hat und sich in Berlin derzeit auf einem Höchststand befindet. Streit und diskursive Auseinandersetzung sind Kern der Demokratie. Einschüchterung und Gewalt, um Menschen, mit denen man nicht übereinstimmt, zum Schweigen zu bringen, sind inakzeptabel. Wer diese Grenzen überschreitet, ist kein Demokrat.
Nach Angaben der Berliner Polizei gab es in diesem Bereich im vergangenen Jahr 65 Angriffe (2019: 38). Besonders betroffen waren Einrichtungen der SPD (27 Angriffe) und der AfD (11 Angriffe). Bei beiden Parteien geht die Polizei davon aus, dass die Taten mehrheitlich dem Bereich "Politisch motivierte Kriminalität-links" (PMK) zuzuordnen sind (SPD: 26 Fälle, AfD: 11 Fälle).
Neben den Wahlkreisbüros von Innensenator Andreas Geisel und dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller steht vor allem der Arbeitsort von SPD-Innenpolitiker Tom Schreiber im Fokus linker Gewalt. Er ist Sprecher für Verfassungsschutz und äußert sich immer wieder öffentlich gegen Links- und Rechtsextremismus. Sein Büro in Köpenick wurde im vergangenen Jahr mit Farbe, Tierblut und Kot beschmiert. Aber Angriffe gegen Schreiber kommen regelmäßig auch von Rechtsextremisten. Für ihn ist politische Gewalt in ihrer Ausführung identisch, egal aus welcher Richtung sie kommt. Vor allem sei sie personalisiert: "Man braucht Gesichter und Namen, bei denen man 'Attacke' rufen kann und sagen kann: 'Da ist die Person, da wohnt er.'" Einschüchterung sei das Ziel auf beiden Seiten. "Das eint letzten Endes auch manchmal Rechtsextremisten und Linksextremisten", stellt Schreiber fest.
Auch im Bereich der Gewaltdelikte zeichnet sich eine deutliche Steigerung der Fallzahlen im Bereich "PMK-links" ab. Dort stieg die Zahl von 263 (2019) auf 439 (2020) Fälle, während es im Bereich "PMK-rechts" eine Zunahme von 161 (2029) auf 170 (2020) Fälle gab. Dabei umfasst die polizeiliche Definition der Gewaltdelikte folgende Straftaten: "Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Brand- und Sprengstoffdelikte, Landfriedensbrüche, Gefährliche Eingriffe in den Schiffs-, Luft-, Bahn- und Straßenverkehr, Freiheitsberaubungen, Raubstraftaten, Erpressungen und Widerstands- sowie Sexualdelikte einschließlich der Versuche."
Im Bereich der Straftaten, die sich gegen Politiker richten, registrierte die Polizei 2020 insgesamt 139 Taten (2019: 92), davon werden 74 dem "rechten Spektrum" (2019: 44 von 92) zugerechnet. Auf das linksextreme Spektrum entfallen 36 (2019: 28) Taten. Zu Straftaten, die sich gegen Politiker richten, gehören Beleidigungen und Drohungen im Internet ebenso wie körperliche Attacken oder "hate crime"
Angriffe gegen Parteien und Politiker erreichen Höchststand in Berlin - RBB
Der Schauspieler Alec Baldwin hat sich in einem Instagram-Video kritisch zu Cancel Culture geäussert. Leider hat er das ursprüngliche Video, in dem er auch Woody Allen mit den Worten “A few people going at me for defending people who have been accused of crime,”. “Well, I’m not defending someone who is guilty of something. I’m choosing to defend someone who has not been proven guilty of something.” verteidigte, wieder gelöscht. In einem weiteren, welches er mit “Cancel culture is out of control” betitelte, erklärt er das. Es ist wirklich interessant, wie vielen Leuten das Ganze inzwischen zu weit geht. Baldwin ist bekennender Demokrat und unterstützte Barack Obama im Wahlkampf.
Cancel culture is out of control - Alec Baldwin
Kultur
Harald Martenstein hat einen sehr schönen Artikel darüber geschrieben, dass er Kneipen vermisst. Ich teile dieses Gefühl.
In jeder Stadt, in der ich lebte, und in jedem Viertel, in das ich zog, hatte ich nach einer Weile meine Lieblingskneipe. Wenn der Wirt deinen Vornamen kennt und dein Lieblingsgetränk, bist du angekommen und von diesem Moment an darf alles so bleiben, wie es ist.
Bei uns in Berlin waren die echten Kneipen schon vor Corona seltener geworden. Eine echte Kneipe erkenne ich am Tresen, dort stehen Leute verschiedenster Art. Viele Tresensteher trinken Bier, aber das ist nicht Vorschrift. Bis auf ein paar Basics, so was wie „keine Gewalt“ oder „bleib halbwegs zurechnungsfähig“ ist hier nämlich fast nichts Vorschrift. Gesetz ist das, was der Wirt sagt oder die Wirtin.
Die meisten Kneipen haben ein Stammpublikum, und wenn du zum Stammpublikum gehörst, wirst du wohl bekannte Gesichter sehen. Du kannst in deiner Kneipe aber auch neue Leute kennenlernen, Leute aus einem anderen Milieu, mit ganz anderen Berufen, anderer Herkunft, sie verdienen mehr oder weniger Geld, als du es hast. Manchmal haben sie auch ganz andere Ansichten. Vielleicht findest du einen Freund für einen Abend, oder aber du lernst ein unglaubliches Arschloch kennen. Auch das kann passieren.
Alles, wofür die Kneipe steht, ist fragwürdig geworden, auch die Idee, dass niemand etwas Besonderes ist, sondern alle irgendwie gleich, Menschen halt.
Ich vermisse dich! - Rotary Magazin
Coverversion der Woche: The Smiths - His Latest Flame
Das Stück wurde von Doc Pomus und Mort Shuman komponiert und die erste Version nahm Del Shannon auf. Meine liebste Coverversion ist die von Elvis Presley aus dem Jahr 1961. Besonders interessant fand ich aber schon immer, wie die Smiths das Lied im Rahmen des berühmten Londoner Konzerts im Jahr 1986, in dessen Verlauf das “Rank”-Album aufgenommen wurde, in ihren Song “Rusholme Ruffians” eingebaut haben.