Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #38
Heute erscheint der Newsletter zum ersten Mal an einem Donnerstag. Der Nachteil daran ist, dass mir aufgrund der Tatsache, dass er immer das Wochenende eingeläutet hat, dieses nun näher scheint, als es tatsächlich ist. Daran werde ich mich aber sicher schnell gewöhnen.
Ebenfalls heute ist sowohl gedruckt als auch online ein Artikel von mir in der WELT erschienen. Freue mich über Rückmeldungen dazu.
Besonders skurril fand ich diese Woche einen Artikel in der TAZ, der eine verrohte Diskurskultur beklagt, aber genau diese Verrohung vorantreibt. Schon die Gleichsetzung aller Springer-Medien ist absurd. Dass einem aber nicht der Draht aus der Mütze fliegt, wenn man diese und die Neue Zürcher Zeitung mit der Jungen Freiheit in einen Topf wirft und behauptet, das alles sei sowieso kein Journalismus, lässt tief blicken.
Neuen Abonnenten empfehle ich die “About”-Seite. Wer mir in den sozialen Medien folgen möchte, findet Accounts bei Twitter, Instagram und LinkedIn. Bei Twitter kann man auch meine #FreeBlackTwitterGermany-Liste für schwarze Meinungsvielfalt im deutschsprachigen Raum abonnieren.
Nun aber los.
Heute geht es unter Anderem um Echokammern und Diskussionskultur.
Willkommen im Club!
Wurde Ihnen diese Ausgabe weitergeleitet? Melden Sie sich für “Marcellus Maximus meint.” an, um den wöchentlichen Newsletter und weitere Artikel bequem über Ihr Emailpostfach zu empfangen.
Politik und Gesellschaft
Die bereits in der letzten Woche behandelte Debatte um Äußerungen von Wolfgang Thierse und Gesine Schwan hat zu neuen Eskalationen in der SPD geführt. Erst distanzierten sich Saskia Esken und Kevin Kühnert von beiden, daraufhin bot Thierse an, seine Parteimitgliedschaft zu beenden, wenn er dort unerwünscht sei. Wenn sogar Schwan und Thierse der SPD nicht mehr woke genug sind, hat die Partei ein größeres Problem, als ich dachte.
Früher konnte sie, aufgrund intellektueller Leistung und Prägung, Verschiedenheit nicht nur aushalten, sondern sie mit diesem Dreiklang bedenken: respektieren, akzeptieren, integrieren. Heute steht ihr diese Fähigkeit nicht mehr zu Gebote.
Inzwischen ist eine schnell gefasste Meinung, vertreten in fester Haltung, wichtiger und angesehener als Disputation im Willen, daraus für die eigene Haltung erst danach Schlüsse zu ziehen und zu lernen. Es wird weniger, wenn überhaupt, diskutiert, sondern viel eher dekretiert. Wer dem nicht folgt, wird - siehe der jüngste Fall - ausgegrenzt. So gesehen hätte Willy Brandt als Suchender und Meister des Ungefähren in dieser Zeit der (Selbst-)Gewissheiten keine Chance.
Soll keiner sagen, das sehe und spüre die Intelligenzija nicht. Der Anspruch mutet totalitär genug an: Nur wer das Richtige denkt, sei es auch bloß vermeintlich und vor allem von einer imaginären Mehrheit geteilt, darf reden. Sonst muss er, muss sie schweigen - getreu der Lehre vom besseren Menschen. Wenn das mal nicht falsch verstandener Sozialismus ist, geradezu antiintellektuell.
Der in der SPD inzwischen zur Unperson erklärte Gabriel hatte weiß Gott nicht in allem Recht, aber offenbar durchaus funktionierende sozialdemokratische Instinkte: Immer nur Menschen zu signalisieren, sie hätten die "falsche Haltung", wenn sie unangenehme Fragen stellen, oder ihnen gebetsmühlenhaft den "Aufstieg durch Bildung" zu empfehlen, habe die SPD kulturell von den sogenannten "kleinen Leuten" entfernt. „
Noch einmal ein Auszug aus der 2018 gehaltenen Rede des früheren SPD-Chefs: „Was wäre wohl, wenn in einer Versammlung jemand aufstünde und sagte: "Ich sehe gerne RTL-Soaps im Fernsehen, ich rauche und esse gern Fleisch und fliege in den All-inclusive-Urlaub nach Malle - und ja: in meinem Spind hängt noch ein Playboy-Foto." Das alles muss man nicht selbst mögen oder gar angemessen finden, aber solche Menschen gibt es zuhauf und früher war die SPD eine politische Heimat für sie. Aber das ist lange vorbei.“ Beifall gab es vermutlich keinen für diese Provokation.
So schafft die Sozialdemokratie sich selbst ab - Tagesspiegel
Über neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Echokammern, deren Existenz manche Wissenschaftler für ausgeschlossen halten und ihre möglichen Folgen für die Demokratie hat sich Sebastian Herrmann Gedanken gemacht.
Wie die Wissenschaftler im Fachblatt PNAS berichten, finden sich in den sozialen Netzwerken homogene Meinungsschwärme zusammen, die sich dann um ihre jeweilige Version von Realität scharen. Diese inhaltliche und politische Stromlinienförmigkeit sei ein Treiber von Radikalisierung und erschwere öffentliche Debatten zunehmend. Es handelt sich um ein Indiz für ein Phänomen, das den meisten Nutzern aus Netzwerken wie Facebook und Twitter selbst bekannt ist: Man bleibt dort meist unter sich und hasst gemeinsam die jeweilige Gegenseite an - das stiftet offenbar Sinn, weil man sich dann zu den Guten zählen und sich selbst als Opfer der Gemeinheiten der Gegenseite gerieren kann.
"Nutzer sozialer Medien bevorzugen Informationen, die zu ihrer Sicht der Dinge passen", sagen die Forscher um Quattrociocchi. Gegenstimmen würden ignoriert und auf diese Weise getrennte, homogene Gruppen gebildet, die sich um ein geteiltes Narrativ scharen. "Ein hoher Grad an Polarisation erleichtert zudem die Verbreitung falscher Informationen", sagt Quattrociocchi. Sind mehr oder weniger alle Mitglieder einer Gruppe einer Meinung, verstärkt dies die radikalsten Vertreter dieser geteilten Sicht der Dinge: Man muss eben richtig auf die Pauke hauen, um in so einem Umfeld noch wahrgenommen zu werden und herauszustechen. Zum Beispiel, indem man halbwahren oder gänzlich erlogenen Kram erzählt, der aber zu den Grundansichten der Gruppe passt und das Bedürfnis befriedigt, sich in seinen Ansichten bestätigt zu sehen. Auf diese Weise driften dann ganze Gruppen in extreme Meinungsgewässer ab.
Wenn sich diese Blasen so weit von einander entfernt haben, dass jeder in eigenen Realitäten haust, wird es gefährlich. Das Überleben einer Demokratie nämlich ist davon abhängig, dass sich die meisten Menschen wenigstens grundsätzlich auf eine gemeinsame Erzählung der Dinge und ein Konzept von "Wir" einigen können. Nur so lässt sich über den Rest halbwegs produktiv streiten.
Wir sind ja unter uns - Süddeutsche Zeitung
Die Identitätspolitik hat ein neues Opfer gefordert. Marieke Lucas Rijneveld sollte eigentlich die Gedichte von Amanda Gorman übersetzen. Sie sagte zu. Daraufhin brach die Hölle los, weil es ja nicht sein könne, dass eine weiße Autorin eine schwarze Schriftstellerin übersetzt. Interessanterweise zeigte Rijneveld Verständnis für die absurde und letztlich rassistische Kritik und trat wieder von dieser Aufgabe zurück. Man stelle sich nur für einen Moment vor, das sei umgekehrt gelaufen. Undenkbar und das ist auch gut so. Diese neue Form der Zuordnung ist allerdings schon so eingesickert, dass sie sogar auf Verständnis trifft.
Aufgekommen war die Kritik laut CNN durch die niederländische Kulturaktivistin Janice Deul, die die Entscheidung für eine weiße Übersetzerin am 25. Februar in einem Beitrag in der niederländischen Zeitung „De Volkskrant“ infrage gestellt hatte. „Eine unverständliche Entscheidung, meiner Meinung und der Meinung vieler anderer nach, die ihren Schmerz, ihre Frustration, ihren Ärger und ihre Enttäuschung über soziale Medien zum Ausdruck gebracht haben“, heißt es dort demnach unter anderem. Gormans Arbeit und Leben seien geprägt von „ihrer Erfahrung und Identität als schwarze Frau“. Marieke Lucas Rijneveld hingegen habe als weiße Frau keine Erfahrung auf diesem Gebiet.
Oliver Günther, Präsident der Universität Potsdam und Vizepräsident für Governance, Lehre und Studium der Hochschulrektorenkonferenz hat ein Plädoyer für Meinungsäusserungsfreiheit und Diskussionskultur an Universitäten verfasst, welchem ich vollumfänglich zustimme.
Zu den Aufgaben moderner Universitäten gehören nicht nur Forschung und Lehre; als Teil der Zivilgesellschaft müssen sie auch Orte des offenen intellektuellen Austauschs sein. Dies erfordert Mut zur Kontroverse und die Etablierung einer Streitkultur. Nur so können wir Hochschulen unserer Verpflichtung nachkommen, unseren Studierenden aufklärerische Werte zu vermitteln. Nur so können wir populistischen und fundamentalistischen Tendenzen die Stirn bieten, die sich allmählich verbreiten und schleichend verstärken. Jede Einschränkung des offenen Meinungsaustauschs, egal aus welcher politischen Richtung sie betrieben wird, ist ein Schritt in Richtung Abgrund.
Deswegen müssen wir auf unseren Campussen auch Meinungen zulassen, die den eigenen komplett zuwiderlaufen. Das erfordert mehr als Toleranz für Andersdenkende, dazu gehört der gelebte Streit.
Daraus ergibt sich nun eine praktische Handreichung: Für erwiesene Extremisten muss an Hochschulen Hausverbot gelten, auch wenn sie gewählte Volksvertreter sein mögen. Gleiches gilt für Personen, die persönliche Beleidigungen aussprechen oder Gewalt gegen Personen oder Sachen anwenden. Andere – auch wenn sie allem Anschein nach als Demagogen und wissenschaftsferne Populisten gelten müssen – sind ganz im Sinne von Voltaire auf unseren Campussen tunlichst zu tolerieren. Auch wenn es schmerzt.
Wir brauchen Streit, auch wenn es schmerzt! - Zeit
Fatina Keilani hat einen lesenswerten Kommentar zu deutscher Organisation, Effizienz und Innovation geschrieben und sich gefragt, ob der gute Ruf des Landes eigentlich noch mit der Realität zu vereinbaren ist.
Hierzulande diskutiert man „Privilegien“ für Geimpfte, statt zutreffend zu sagen, dass es sich dabei um die Rückgabe zuvor entzogener Rechte handelt, also um die Rückkehr in den Normalzustand. Nur wer sich an den Entzug von Freiheiten schon gewöhnt hat, kann deren Erteilung als Privileg begreifen.
Geschäftsreisende staunen über Funklöcher auf wichtigen Bahnstrecken wie der zwischen den Metropolen Hamburg und Berlin. Länder wie Rumänien, Polen und Tschechien haben besseres Internet, die Baltenrepubliken sind durchdigitalisiert.
In Mexiko holt man sich seinen neuen Reisepass im Einkaufszentrum bei einer Zweigstelle der Behörde, und man kann ihn gleich mitnehmen statt sechs Wochen zu warten. In Berlin bekommt man nicht mal einen Termin, um den Pass zu beantragen.
Die aktuelle Krise sollte Anlass sein, eine tiefgreifende Reform der Verwaltung in Angriff zu nehmen. Deren Strukturen sind so verkrustet, dass es den Verantwortlichen leichter erscheint, ein ganzes Volk in den Lockdown zu schicken, als die Gesundheitsämter mit einer einheitlichen Software auszustatten.
Deutschlands Abstieg zeigt sich nicht nur beim Impfen - Tagesspiegel
Zum Schluß möchte ich noch auf einen Beitrag im Bewegtbild hinweisen. Es handelt sich um eine Gesprächsrunde zum Thema “Polarisiert und unversöhnt: Wie gespalten ist unsere Gesellschaft?”. Gäste waren Wolfgang Kubicki, Serap Güler, Gregor Gysi, Svenja Flaßpöhler und Jan Fleischhauer.
Kultur
Coverversion der Woche: Frank Sinatra-You'll Never Walk Alone
Der Song wurde von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II komponiert und ist das Finale des 1945 uraufgeführten Broadway-Musicals “Carousel”. Frank Sinatra nahm seine Version ebenfalls 1945 auf. 1963 veröffentlichten Gerry and the Pacemakers dann die Version, welche am Erfolgreichsten war und seither als Stadionhymne des FC Liverpool dient. Mir gefällt die Sinatra-Interpretation am Besten.