Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #24
Inzwischen ist fast jeden Tag “Weltirgendwastag”, habe da den Überblick verloren. Heute, am Freitag, den 13. ist gleichzeitig auch “Weltnettigkeitstag”. Hebt sich das dann gegenseitig auf? Da mir jeder Aberglaube fern ist, freue ich mich über Rückmeldung abergläubischer Leser. Initiiert wurde der Tag von der japanischen Nettigkeitsbewegung und fand 1998 zum ersten Mal statt. Die Nettigkeitsbewegung möchte erreichen, dass die Menschen freundlicher im Umgang miteinander sind und somit eine allgemein freundlichere Welt entsteht. Wer möchte das nicht?
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Nun aber los.
Heute geht es unter Anderem um Meinungsfreiheit an Universitäten, einen Angriff auf sichere Verschlüsselung und die Dämonisierung politischer Gegner.
Politik und Gesellschaft
Seit Jahren weise ich aufgrund von Entwicklungen in den USA, aber zunehmend auch hierzulande darauf hin, dass die Meinungsfreiheit an deutschen Universitäten in Gefahr ist. Oft wurde mir daraufhin entgegnet, das sei ein Mythos und es gebe es keine Daten darüber. Abgesehen davon, dass sich mit dieser Argumentation auch nicht belegen lässt, dass dieses Problem nicht existent ist, hat sich die Faktenlage diesbezüglich nun geändert. Die Sozialwissenschaftler Matthias Revers und Richard Traunmüller haben an der Frankfurter Goethe-Universität eine Studie über mutmaßliche Beschränkungen der Redefreiheit an Hochschulen durchgeführt, welche in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ (Band72, Ausgabe3, September 2020) erschienen ist und kommen zu einem beunruhigenden Ergebnis. Die Redefreiheit ist definitiv in Gefahr.
Our preliminary results contradicted this optimism and may be succinctly summarized in three main points. First, while taking offense and feeling intimidated by statements made on campus is a common experience of one-third of all students, a clear majority were tolerant of different, even controversial viewpoints. But this should not hide the fact that a considerable number of students were in favor of restricting speech. Depending on the controversial topic, between 30% (“Islam is incompatible with the West”) and 54% (“homosexuality is immoral”) of the students would not allow a speaker to speak on campus. And even higher shares, ranging from 64% (“there are biological differences in talents between men and women”) to 83% (“homosexuality is immoral”), thought that individuals holding such views should not be allowed to teach at the university. Roughly one-third of students would also favor the banning of these individuals’ books from the university library.
Second, one-quarter of all students had experienced personal dismissal for voicing their opinion and one-third felt at least somewhat inhibited about giving their view on controversial issues in a class discussion. Thus, our findings resonate with well-known theories of public opinion (such as the spiral of silence by Noelle-Neumann 1974) in that students chose to remain silent out of fear of being socially isolated and stigmatized. Our findings further suggest that students might have been concerned with the reactions of both fellow students and professors, although slightly less for the latter. Although 31% were “moderately” or “extremely” concerned that other students would criticize their views as being offensive, only 20% feared that their professors would criticize them for their views.
Third, both the intolerance of controversial views and the reluctance to speak openly on university campuses were clearly structured along students’ political ideology. Students who placed themselves at the left of the ideological spectrum were significantly less likely to tolerate controversial speakers, teachers, or books at the university. Feeling pressure to conform was especially true for right-of-center students who, in the face of an overwhelming majority of left-leaning opinions, were reluctant to speak their mind on politically sensitive issues, such as gender, sexuality, and immigration. But even students who mostly sided with majority opinions were cautious and/or had experienced a negative reaction for speaking out about such issues.
Ich empfehle die gesamte Studie zur Lektüre. In Deutschland herrscht formal Meinungsäusserungsfreiheit, der Preis für das Äussern bestimmter Meinungen kann allerdings hoch sein. Wenn man diese neue Untersuchung kombiniert mit der politischen Ausrichtung von Volontären (Siehe letzter Newsletter.), der politischen Ausrichtung von Journalisten im Allgemeinen (Darüber gibt es inzwischen mehrere Untersuchungen.) und den Zahlen, die belegen, dass die Mehrheit der Bevölkerung ihre Meinung zu bestimmten Themen nicht mehr öffentlich äussern möchte, betrachtet, ist die Befürchtung einer gesamtgesellschaftlichen Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit keine Hysterie.
Der Politikwissenschaftler und Autor Hamed Abdel-Samad hat in dieser Woche in einem Brief an Horst Seehofer und auch öffentlich seinen Rücktritt aus der Deutschen Islamkonferenz bekanntgegeben. In einem Interview hat er seine Punkte nochmals konkretisiert.
Ja, aber ich mache das jetzt seit zehn Jahren. Ehrenamtlich. Ich habe viel Zeit und Mühe in diese Konferenz investiert. Aber am Ende wurden die Entscheidungen ohne mich getroffen. Das Spiel mache ich nicht mehr mit.
Ich habe die Themen Radikalisierung und Antisemitismus junger Muslime und Gleichberechtigung von Mann und Frau auf den Tisch gebracht.
Die Islamverbände haben alle drei Themen abgelehnt. Sie wollten darüber nicht diskutieren. Radikalismus habe mit dem Islam nichts zu tun, haben sie gesagt. Antisemitismus sei ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und der Islam sei auch gut zu Frauen. Ende der Geschichte. Auch als wir Workshops dazu machen wollten, fielen sie weg. Es blieben die drei Themen, die Geld bringen: Imam-Ausbildung, Islam-Unterricht und muslimische Seelsorge beziehungsweise muslimische Wohlfahrt. Für alles gibt es staatliche Fördergelder.
Das Innenministerium hat Angst davor, sich eingestehen zu müssen, dass die Islamkonferenz nicht nur gescheitert ist, sondern dass sie uns auch noch wahnsinnig viel Geld gekostet hat, ohne Ergebnisse. Das Innenministerium versucht, uns diese Konferenz auch noch als Erfolg zu verkaufen. Dabei ist sie kontraproduktiv. Moscheen haben mit Steuergeldern eine Infrastruktur geschaffen – aber nicht für die Integration, sondern um Werbung für Erdogan zu machen, wenn Wahlen bevorstehen. Oder um gegen Kurden zu hetzen. Oder um Propaganda für den Krieg in Syrien oder in Armenien zu machen.
„Niemand hat die Islamisten mehr hofiert als die Grünen“ - Cicero
Dazu, aber auch zum Abschnitt über Redefreiheit an Universitäten, passt das neue Buch der französischen Feministin Caroline Fourest mit dem Titel “Generation Beleidigt”, in der sie sich mit Identitätspolitik und der postmodernen Linken beschäftigt.
Deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn die Werte der Aufklärung von linken Studenten nicht als universell anerkannt werden. Der Kulturrelativismus erhebt sich zum Stützpfeiler des angesagten multikulturellen Bewusstseins. Fourest sichtet diesen fatalen Partikularismus besonders im Umgang der Linken mit den Vertretern des fundamentalistischen Islams: «Ob sie nun vergewaltigen, verschleiern oder enthaupten, in dieser kruden Wahrnehmung sind sie vor allem eines: Rebellen und Verdammte dieser Erde, die versuchen, sich selbst zu dekolonisieren.» Mit dem Verweis auf die alles bestimmende Herkunft kann alles verniedlicht werden.
«Hochgeschätzt wird in der heutigen Zeit das Opfer, nicht der Mut», hält Fourest fest. Die postmoderne Linke habe deshalb grösstes Interesse daran, dass die angeblichen Diskriminierungen fortdauern. Das tribalistische Schmoren im eigenen Dunst und die Anklage des weissen, westlichen Eurozentrismus, sagt sie, gälten als beste Voraussetzungen für eine Karriere im akademischen oder kulturellen Opfer-Business. Sich über Privilegien zu echauffieren, sei der sicherste Weg, privilegierte Stellungen einzunehmen.
Auch der immer kluge Jochen Bittner befasst sich in der “Zeit” mit diesem Themenkomplex. Ich bin wirklich froh, dass endlich mehr über diese Themen, die bereits seit vielen Jahren drängend sind, offener debattiert wird. Wer wirklich an einer freien Gesellschaft interessiert ist, begrüßt diese neue Aufgeschlossenheit.
Die Vorstellung, von Bedrohungen umzingelt zu sein, die Versuchung, Gefühle mit Fakten zu verwechseln, die Neigung, das Leben als Schlacht zwischen Gut und Böse wahrzunehmen, und die wahnhafte Idee, von Hautfarbe auf Charakter zu schließen, all dies waren und sind leider keine ausschließlichen Wesenszüge der populistischen Rechten. Diese Denkarten gibt es auch auf der linken Seite, vor allem im jüngeren akademischen Milieu Amerikas.
Der Begriff Cancel-Culture wird in Deutschland oft voreilig benutzt. An vielen US-Colleges ist er angebracht. Gab es im Jahr 2001 noch zwei Vorfälle, bei denen Demonstranten versuchten, missliebige Sprecher vom Campus auszuladen oder ihre Vorträge zu stören, wurden es danach deutlich mehr: 2015/16 gab es 38 solcher Versuche, in etwa jedem zweiten Fall waren sie erfolgreich, ermittelte die überparteiliche Foundation for Individual Rights in Education. Laut einer aktuellen Umfrage dieser Organisation sagen 42 Prozent von 20.000 befragten Studenten, ihre Universität würde das Recht eines Redners, seine Sicht darzulegen, nicht verteidigen, wenn dieser eine "anstößige" (offensive) Formulierung benutzt habe.
In den frühen 1990er-Jahren habe das Verhältnis von eher links zu eher rechts eingestellten Professoren in Amerika noch bei 2:1 gelegen – Widerspruch sei also selbstverständlicher Teil des Campuslebens gewesen. Im Jahr 2016 sei diese Quote in den Sozialwissenschaften bei 10:1 angelangt. "Viele Studenten haben keine oder kaum eine Begegnung mit Professoren, die die Hälfte des politischen Spektrums repräsentieren", schlussfolgern Haidt und Lukianoff in ihrem Buch The Coddling of the American Mind.
Hat womöglich dieses Schwinden echter Diversität dazu beigetragen, dass ein ersatzweises "Diversitäts"-Verständnis Einzug hielt, das gekoppelt ist an Hautfarben und sexuelle Orientierungen (als ob diese zwangsläufig etwas über politische Einstellungen verrieten)? Und könnte es sein, dass politische Homogenität auch in linker Varianz das gänzlich unprogressive Phänomen des Stammesdenkens begünstigt? Je überzeugter ein Lager von der Richtigkeit seines Denkens ist, desto eher erscheinen Andersdenkende als Bedrohung. So wird an deutschen Unis ein Bernd Lucke zum "Nazi", eine Susanne Schröter zur "antimuslimischen Rassistin" – und andere Professoren werden womöglich unfreier, weil sie die Bezichtigung fürchten lernen.
Denkverbote helfen nicht gegen rechts - Die Zeit
In der Diskussion um Donald Trump wird oft unzutreffend behauptet, er schade der Demokratie oder wolle diese sogar abschaffen. Das ist Teil der alternativen Fakten, die in den USA mitnichten nur vom nachweislich notorischen Lügner Trump und den Republikanern, sondern auch von Kreisen links der Mitte seit Jahren erfolgreich gestreut werden. Letztere werden hierzulande von den Medien leider meist unkritisch reproduziert. Eric Gujer listet Beispiele auf.
In dem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch «Autokratie überwinden» setzte Gessen noch eins drauf und verglich die Wahl 2016 mit der Machtergreifung der Nazis und dem Reichstagsbrand im Februar 1933, der den Vorwand für die Errichtung der Diktatur im Deutschen Reich lieferte. Trump gleich Hitler? Wer solche abstrusen Behauptungen aufstellt und sie immer wieder aufs Neue wiederholt, untergräbt die Demokratie.
Selbst die abenteuerlichsten Stereotype scheinen glaubwürdig. Denn die Vorstellung, Trump könne nach einer amtlichen und notfalls vom Obersten Gericht bestätigten Niederlage das Weisse Haus besetzt halten, ist abenteuerlich. Nirgendwo lässt sich ein Indiz finden, dass Secret Service, Polizei, Militär und Justiz Beihilfe zum Staatsstreich leisten würden. Nicht einmal Trumps eigene Partei ist dazu willens.
Der ORF hat den Entwurf einer geplanten Deklaration des EU-Ministerrats veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten sich darauf verständigt haben, sichere Verschlüsselung EU-weit zu verbieten. Die Regierungen wollen laut dieses Entwurfs Dienstanbieter zwingen, Generalschlüssel zu erstellen und bei Behörden zu hinterlegen. Mit diesem könnten diese sich jederzeit unbemerkt in Konversationen einklinken.
Das nennt man in der Fachsprache einen “Man-in-the-Middle”-Angriff und ist so, als würde man anlasslos bei der Polizei einen Hausschlüssel hinterlegen müssen für den Fall, dass im Haus vielleicht irgendwann einmal Straftaten begangen werden.
Bis Donnerstag hatten die Regierungen Zeit, dazu Kommentare abzugeben. Nächste Woche später soll diese Resolution in der Ratsarbeitsgruppe zur Kooperation im nationalen Sicherheitsbereich (COSI) beschlossen werden, am 25. November soll es zur zur Vorlage im Rat der ständigen Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten (COREPER) kommen.
Lösungen mit Hintertüren können laut Bartels nicht "als dem 'Stand der Technik' entsprechend betrachtet werden". Generalschlüssel schadeten "massiv dem liberalen Rechtsstaat". Wenn Nachschlüssel in größerer Zahl in die falschen Hände fielen, könnte dies zu einer Katastrophe führen.
"Verschlüsselung ist ein – um nicht zu sagen das wichtigste – Instrument für sichere Kommunikation im Netz", unterstreicht Klaus Landefeld aus dem Vorstand des eco-Verbands der Internetwirtschaft. Der geplante tiefe Eingriff konterkariere die IT-Sicherheit, manipuliere die bestehenden komplexen Softwaresysteme der Betreiber von Messenger-Diensten und stehe "in keinem Verhältnis zum noch unbewiesenen Nutzen bei der Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung". Es drohten breite Einfallstore für den "unkontrollierten Zugriff unzähliger Bedarfsträger und Geheimdienste aus dem In- und Ausland auf die Kommunikation der EU-Bürger".
In dem Papier, das die Bundesregierung ausgearbeitet hat, sei zwar wiederholt von einem Ausgleich zwischen Sicherheitsinteressen und Grundrechten die Rede, weiß Stephan Dreyer vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung. Der Hinweis auf die "Zusammenarbeit" mit den Anbietern weise aber darauf hin, "dass die Initiative möglicherweise auf die Schaffung von Hintertüren oder das Vorhalten von Generalschlüsseln durch die Plattformen abzielt". Jede Form der systematischen Möglichkeit einer Entschlüsselung würde bedeuten, "dass definitionsgemäß von Beginn an gar keine Verschlüsselung vorlag". Ein bisschen verschlüsselt "gibt es nicht".
Crypto Wars: Massive Proteste gegen EU-Angriff auf Verschlüsselung - Heise Online
Kultur
Coverversion der Woche: Janis Joplin & Tom Jones - Raise Your Hand
Ich mache es kurz: Wer bei dieser Darbietung keinen Bewegungsdrang verspürt, sollte untersuchen lassen, ob er noch lebt. Nicht nur die Band spielt sich, nachdem sie entscheidet, sich von den beiden Sängern mitreissen zu lassen, die Seele aus dem Leib, auch diese transportieren eine unglaubliche Energie. Insgesamt ein perfektes Wechselspiel.
Joplin und Jones gehörten damals zu den stärksten Stimmen der Musikbranche und es ist ein Vergnügen zu sehen, wie die beiden gesanglich miteinander kämpfen. Denn eigentlich ist es ein Kampf (Wenn auch ein sichtbar freundschaftlicher.) und kein Duett. Sicher keine einfache Aufgabe für Tom Jones, gegen eine so starke Partnerin anzukommen, aber er schlägt sich gut. Heute muss man solche Talente mit der Lupe suchen. Die letzte Person, die dieses Niveau erreicht hat, war Amy Winehouse.
Ursprünglich komponiert von Steve Cropper, Alvertis Isbell und Eddie Floyd, wurde der Titel erstmals 1967 von Letzterem auf seinem Debütalbum “Knock On Wood” veröffentlicht und ist im Original deutlich zurückgelehnter. Gut geeignet, um sich von der ersten Performance zu erholen, aber nicht minder gut.