Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #19
Diese Woche ist viel passiert. Berlin ist nun Corona-Risikogebiet und hat eine Sperrstunde. Dafür kann man sich auch bei den Massen an egoistisch-ignoranten Menschen bedanken, die trotz klarer Faktenlage ohne Einhalten der Vorsichtsmaßnahmen ihr persönliches Feiervergnügen über alles Andere stellten. Die neuen Beschränkungen werden wohl vielen Restaurants und Bars endgültig das Genick brechen.
Zusätzlich wurde heute das besetzte Haus in der Liebigstrasse geräumt. Vor fünf Tagen verübten Linksextreme, mutmaßlich aus den Reihen der Besetzer, einen Brandanschlag auf die S-Bahn, um gegen diese Räumung zu protestieren. Die öffentliche Empörung ist kaum wahrnehmbar. Ich behaupte, dass die Reaktionen intensiver wären, hätte es sich bei den Tätern um Rechtsextreme gehandelt. Dass die Verurteilung von Extremismus leider immer noch nicht übergreifend geschieht, bleibt ein großes Problem.
Nun aber los.
Diese Woche geht es unter Anderem um Liberalismus und eine Fliege.
Politik und Gesellschaft
Beginnen möchte ich mit meiner Enttäuschung und meinem Entsetzen über die verunglückte Rede des Bundespräsidenten zu dreißig Jahren Wiedervereinigung. Nicht nur war sie voller Fehler, sie liess auch Entscheidendes weg. Steinmeier (oder sein Redenschreiber) scheint vergessen zu haben, dass seine Rolle eine überparteilich-staatsmännische ist. Dazu ein guter Artikel von Stephan-Andreas Casdorff.
Kein Richard von Weizsäcker, kein Johannes Rau hätte eine solche Rede gehalten wie der Bundespräsident, der in diesem geschichtsmächtigen Jahr die Ehre hatte, für uns Deutsche zu sprechen.
Was für eine Rede - Tagesspiegel
Seit vielen Jahren schaue ich mir Sendungen, wie “Hart aber fair” nur noch sporadisch an. Die immer gleichen Gäste vertreten die immer gleichen Positionen. Langweilig. Diese Woche machte ich bei der genannten Sendung, die ich übrigens für die einzige halte, welche man in diesem Bereich überhaupt noch gucken kann, ohne einzuschlafen, mal wieder eine Ausnahme. Das lag sowohl am Thema (“Streit um die Sprache: Was darf man noch sagen und was besser nicht?”) als auch an den Gästen. Unter ihnen befanden sich nämlich die wunderbar kluge Svenja Flaßpöhler, der Aktivist Stephan Anpalagan und der Restaurantbetreiber Andrew Onuegbu. Es hat sich gelohnt.
Aber der genderpolitische Neusprech soll die gleiche Funktion ausüben, damit den sittlichen Rahmen des Sagbaren zu definieren. Die Sprache soll das politische Bewusstsein prägen. Deshalb warnten Frau Lohaus und Anpalagan andauernd vor der „rechten Rhetorik“, der sich aus ihrer Perspektive selbst Frau Flaßpöhler bediente. Sie verwahrte sich dagegen, womit aber ein Ziel schon erreicht worden war: Nämlich rechte politische Einstellungen aus dem demokratischen Konsens auszugrenzen, wobei die Definitionshoheit über „rechtes Denken“ den Linken überlassen bleiben soll.
Die gesellschaftspolitische Wirklichkeit entzieht sich solchem sprachpolitischen Mummenschanz. Der hat aber überall dort einen Nutzen, wo er machtpolitische Ansprüche durchzusetzen hilft. Das ist noch nicht der Staat, obwohl er sich nicht nur im Berliner Senat mit sprachpolitischen Innovationen wie „Einwohnende ohne deutsche Staatsbürgerschaft“ darum bemüht. So bestritt Frau Lohaus die Existenz von „Cancel Culture“: Die gäbe „es gar nicht.“ Tatsächlich noch nicht als staatliche Zensur, wo es zu einem Straftatbestand wird, den Berliner Regierenden mit deutscher Staatsbürgerschaft nicht zu folgen.
Aber überall dort, wo die sprachpolitischen Glaubenskrieger gut verankert sind, nutzen sie das aus. Das hat zwar in Deutschland noch nicht die Ausmaße angenommen, wie in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien. Frau Flaßpöhler beschrieb aber das „institutionelle Problem eines vorauseilenden Gehorsams“ als die Folge dieses grassierenden Illiberalismus. Der reagiert auf mediale Anreize, die eine Oma als Umweltsau oder die Kritik an einem schwedischen Teenager betreffen können. Es geht nicht mehr um die Debatte, sondern um deren Verhinderung. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Die Leute zensierten sich selbst beim Schreiben, so Frau Flaßpöhler, „weil sie Angst davor haben, in der eigenen Community anzuecken oder einen Shitstorm zu kassieren.“ Wobei sie klare Worte über Journalisten fand. Diese hätten sich schon „die Schere in den Kopf setzen lassen, weil sie zu feige sind.“
„Wir brauchen keine Weißen, die uns erzählen, wer uns kränkt“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Liberalismus in Deutschland hat auch im Moment wieder ein Problem mit Vereinnahmungsversuchen. In der FDP tobt zum Beispiel der Kampf zwischen einem Lager, dass sich rhetorisch sowie inhaltlich recht auffällig bei der AfD bedient und einem Lager, dass sich unkritisch dem progressiven Zeitgeist anbiedert. Beides ist nicht liberal. Einen guten Text zum Problem der Abgrenzung hat Gerhard Schwarz am Beispiel zweier Institutionen geschrieben.
Die Vereinnahmung von allen Seiten kommt also nicht von ungefähr. Der «Linksliberalismus» verbindet freiheitliche Elemente wie Toleranz (meist allerdings nicht gegen rechts) und Chancengleichheit selektiv mit einer Affinität zu staatlicher Freigebigkeit, moralisierendem Paternalismus, Kollektivismus und Interventionismus. Der grundsätzlichen Bejahung des Marktes folgt der Nachsatz, dass er natürlich gezähmt werden müsse. Da diese Mischung vielen nicht bewusst ist, nagt der Linksliberalismus an den liberalen Grundfesten. Darin liegt seine Gefährlichkeit.
Nach rechts scheint die Abgrenzung einfacher, denn der Liberalismus ist offensichtlich unvereinbar mit nostalgischer Rückwärtsgewandtheit, völkischem Nationalismus und der – auch bei Linken verbreiteten – Anmassung von Wissen und Autoritätsgläubigkeit. Schwierigkeiten entstehen aber dadurch, dass diese Tendenzen oft unter der Flagge des Konservatismus segeln. Dadurch werden auch valable konservative Haltungen diskreditiert, die sehr wohl im Liberalismus Platz haben.
Die Zeiten, in denen Menschen, deren Ruf zerstört war, einfach woanders neu anfangen konnten, sind unwiderruflich vorbei. Das Internet und die sozialen Medien verhindern dies, weil sie längst mehr nicht nur in unser reales Leben hineinwirken, sondern ein Teil davon sind. Zahlreiche Beispiele belegen inzwischen, wie - millionenfach und weltweit durch Twitter, Facebook oder Instagram verbreitet - von Heute auf Morgen Karrieren und sogar die gesamte soziale Existenz von Menschen zerstört werden kann. Ebenfalls unwiderruflich. Dadurch sind neue Möglichkeiten entstanden, Einzelpersonen und Institutionen unter Druck zu setzen.
Much has been said about the benefits of democratizing our national (and international) discourse and allowing a variety of voices the chance to object to offensive speech and behavior. Much has also been said about the possible chilling effect that accompanies the vigilant policing of rapidly shifting norms. And yet curiously short shrift has been given to one of the most fundamental aspects of this old culture rendered terrifyingly new by technology: the sadistic, gleeful spectacle of punishment. The self-righteousness and solidarity that derives from not being it produces an obscene joy in many people, who lose themselves in the mob as it exacts its furious revenge.
Interactions on social media seep offline into our real lives, and the results are toxic. A culture in which everyone is constantly on edge, waiting to be ambushed, screenshotted, ratioed, dunked on, and potentially fired, is not healthy. Equality in mutual insecurity is a negative equality. Genuine, positive equality can only be achieved through mutual security, which requires maximal tolerance and freedom. The boundary between the infinite and infinitely judgmental internet agora—where individuals become ideas, epithets, avatars of virtue or stigma to be celebrated or cast out—and our local, physical lives has eroded. We are uploading our competing visions into an online pressure cooker, collectively creating an environment that is not at all conducive to transcending division; on the contrary, it actively encourages, in so many little and not so little ways, the deepening of all our preexisting fault lines.
A Game of Chance - Harper's Magazine
Es ist eine Binsenweisheit, dass Sprache im ständigen Wandel ist. Von Teilen der Gesellschaft gewünschte Veränderungen sind allerdings kein Teil dieses natürlichen Wandels, sondern abzulehnen. Dass neuartige Sprachregelungen oft nichts Anderes als Distinktion sind, arbeitet Jan Fleischhauer sehr schön in seiner aktuellen Kolumne heraus.
Was als Ausweis fortschrittlichen Denkens gilt, ist in Wahrheit nichts anderes als die Zementierung der Klassengesellschaft. Kann man sich weiter von den normalen Bürgern entfernen beziehungsweise ihnen zeigen, welche Verachtung man insgeheim für sie empfindet, als ihnen nahezulegen, künftig von „Cis-Männern“ und „Cis-Frauen“ zu sprechen?
Früher war der Gebrauch von Messer und Gabel ein Merkmal, an dem man unwillkürlich erkannte, ob jemand zur Elite zählte – oder, wie am russischen Zarenhof, die Beherrschung des Französischen. Heute ist es der mühelose Gebrauch der Sprache der Vielfalt, die Dazugehörige und Außenstehende trennt.
Neue grüne Sprachlehre: Berliner Kontrolleure sollen nicht mehr "Schwarzfahrer" sagen - Focus
Uninformierte scheinen ihre Wahlentscheidung seltener aus inhaltlichen Gründen zu treffen beziehungsweise sich häufiger von oberflächlichen Dingen leiten zu lassen. Die Vorstellung, dass eventuell eine Fliege die Wahl in den USA entscheidet, trifft genau meinen Humor.
Aber es kann auch passieren, dass die Fliege bei mehr uninformierten Wählern als Malus wahrgenommen wird. So war es in meinem Beispiel. Ein Drittel der Uninformierten stimmte am Ende nur noch für den Kandidaten mit der Fliege, zwei Drittel für den Kandidaten ohne Fliege. Und wenn so etwas passiert, dann kann die Fliege den Wahlausgang entscheiden.
Kann eine Fliege die Wahl entscheiden? - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kultur
Herbert Feuerstein ist gestorben. Den genialen MAD-Macher erlebte ich in den 90er Jahren zuerst als Assistenten und eigentliche Hauptperson in der Sendung “Schmidteinander”. Ein Format, das in seinem anarchischen Wesen heute im deutschen Fernsehen undenkbar wäre und das ich liebte. In der SZ gab es einen sehr schönen Nachruf zu lesen.
Wenn man ihn traf, so einen nur mitunter feixenden, meist leisen, genauen und auf jede Minimalnuance hoch empfindlich lauschenden Gesprächspartner, der dabei aber zum Frühstück ein halbes Hotelbuffet im Münchner Vier Jahreszeiten verspeiste, um sich den Rest des Tages um "so einen Quatsch wie Nahrung" nicht mehr kümmern zu müssen. In Amerika wird so einer unweigerlich Larry David. Im deutschen Fernsehen, wo man viel hat, aber selten Fantasie, wollte sich keiner der Sesselbesitzer mehr für ihn verwenden. Immerhin hatte noch wer die Idee, ihn in der Brecht-Weill-Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny als Gott zu besetzen. Am Dienstag ist ein kleiner Gott gestorben.
Der Größte - Süddeutsche Zeitung
Coverversion der Woche: The Beach Boys - With A Little Help Of My Friends
Da John Lennon heute Geburtstag hat, muss es natürlich etwas von den Beatles sein. Der vorliegende Song, gesungen von Ringo Starr, ist hauptsächlich durch seine Coverversion von Joe Cocker und dessen Darbietung beim Woodstock-Festival bekannt. Ich finde sie allerdings eher weniger gelungen. Die Version der Beach Boys trifft viel mehr die Stimmung der Ursprungsfassung.