Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #17
Der Herbst ist da und das gefällt mir trotz Dauerregen in Berlin sehr gut. Er gehört er mit dem Frühling zu meinen Lieblingsjahreszeiten. Das liegt auch daran, dass die Leute wieder mehr anhaben. Leider vergessen nämlich viele Menschen ab 25 Grad alle Grundregeln bezüglich Stil und Ästhetik, was in optischen Zumutungen endet.
Gleichzeitig macht sich in mir allerdings auch ein Gefühl der Unruhe breit, denn mit sinkenden Temperaturen kann man weniger draußen unternehmen, die Menschen halten sich wieder mehr innen auf und auch der öffentliche Nahverkehr platzt aus allen Nähten. Das alles bedeutet in Zeiten von Corona und eines über den Sommer entstandenen Gefühls von Normalität, die trotz positiver Meldungen faktisch nicht gegeben ist, erhöhte Gefahr. Wir werden sehen, wie sich die Situation entwickelt.
In dieser Woche geht es unter Anderem um Empörungsbereitschaft, Integrität und unseriösen Journalismus.
Nun aber los.
Politik/Gesellschaft
Friedrich Merz hat im Moment ein Problem. Ihm wird unterstellt, er habe in einem Interview Homosexualität mit Pädophilie in Verbindung gebracht. Die Empörung war groß und für die Fakten interessierte sich wieder einmal kaum jemand. Er wurde gefragt, ob er ein Problem mit einem schwulen Kanzler hätte und beantwortete diese Frage klar mit “Nein.”. Er sagte ferner, die sexuelle Orientierung sei Privatsache und seine Grenze sei da, wo Kinder ins Spiel kämen.
Die Frage war zwar auf Homosexualität bezogen, er hat sie aber bezogen auf alle sexuellen Orientierungen beantwortet. Der Hinweis auf Pädophilie war definitiv überflüssig, rechtfertigt aber nicht diese Unterstellung. Es ist eine Unart, Aussagen mit Interpretationsspielraum beim politischen Gegner immer maximal negativ auszulegen. Dazu kommt, dass er kurz darauf diese Äusserung erklärt und klargestellt hat, wie er sie meinte. Das nahm aber niemand zur Kenntnis beziehungsweise ignorierte es bewusst.
Wer so vorgeht, darf über die kaputte Diskussionskultur nicht mehr jammern. Über die Lust an Empörung schreibt Alan Posener, der dabei keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen Christian Lindner macht und deshalb leider die nachweislich unzutreffende Behauptung wiederholt, die FDP habe damals bei den Jamaika-Verhandlungen gekniffen. Sonst ein sehr lesenswerter Artikel.
Wenn man bedenkt, wie viel Hohn, Spott und Böswilligkeit – übrigens auch von Merz, was nicht vergessen werden sollte – Klaus Wowereit noch 2001 einstecken musste, als er sich bei Bekanntgabe seiner Kandidatur zum Regierenden Bürgermeister von Berlin zu seiner Homosexualität bekannte, ist das Entscheidende an dem inkriminierten Merz-Interview der gesellschaftliche Lernprozess, der in seinem Nein zum Ausdruck kommt. Therapeutinnen und Analytiker mögen über Assoziationen spekulieren. Journalistinnen und politische Rivalen sollten es lassen.
Mit Ruth Bader Ginsburg ist die dienstälteste Richterin am Supreme Court gestorben. Darüber wurde bereits viel geschrieben und ihre Verdienste für die Gleichberechtigung aller Menschen sind groß. Auch für die Tatsache, dass sie unpopuläre Meinungen selbstbewusst vertrat, weil sie von ihrer Richtigkeit überzeugt war, gebührt ihr Respekt.
Was das progressive Lager in den USA (Aber auch in Deutschland.), welches ihren Tod besonders bedauert, allerdings wenig beachtet, obwohl das meiner Meinung nach die größte Stärke von Ginsburg war, ist die Tatsache, dass sie mit Menschen anderer politischer Richtungen nicht nur sprach, sondern sich sogar mit ihnen anfreundete. Einer ihrer engsten Freunde war der erzkonservative Richter Antonin Scalia, mit dem sie sogar gemeinsam in den Urlaub fuhr. Sie hatte verstanden, dass nicht die politische Einstellung, sondern der Charakter einen Menschen ausmacht.
In Zeiten, in denen politisch Andersdenkende immer häufiger zu Feinden erklärt werden und es einen Trend zur Abschottung in der eigenen ideologischen Blase gibt, sollte man sich daran ein Beispiel nehmen.
Ruth Bader Ginsburg, Supreme Court’s Feminist Icon, Is Dead at 87 - The New York Times
Der Journalist Hanns-Joachim Friedrichs hat 1995 in einem Interview mit dem Spiegel Folgendes gesagt:
Das hab' ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, daß die Zuschauer dir vertrauen, dich zu einem Familienmitglied machen, dich jeden Abend einschalten und dir zuhören.
Es wurde viel darüber diskutiert, ob man aus diesem Zitat eine Grundregel für den Journalismus ableiten könne/solle und diese Frage wird natürlich je nach Ausrichtung unterschiedlich beantwortet. Ich würde sie mit Ja beantworten. Privat darf ein Journalist natürlich aktivistisch und/oder politisch tätig sein, auch wenn ich das persönlich für falsch halte. Persönliche weltanschauliche Präferenzen sollte er ausserhalb klar gekennzeichneter Kommentare oder Meinungskolumnen allerdings für sich behalten. Dass die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus in immer mehr Redaktionen verschwimmen, ist ein offenes Geheimnis. Eine Ausnahme hat nun der “Stern” gemacht und bekanntgegeben, dass er die journalistische Distanz bezüglich des Klimawandels aufgibt. Das hat er zwar schon vor längerer Zeit getan, aber nun wird es wenigstens ehrlich eingeräumt.
«Was die Klimakrise angeht, ist der ‹Stern› nicht länger neutral», erklärt die Chefredaktorin im Vorwort. Ihr Heft verpflichte sich dazu, den Klimaschutz fortan mit allen zur Verfügung stehenden publizistischen Mitteln zu unterstützen. An anderer Stelle heisst es, dass es in der Redaktion niemanden gebe, dem die existenzielle Bedrohungslage nicht bewusst sei. Diese kollektive Einsicht schlägt sich unter anderem in einer Reihe von «Wir»-Botschaften nieder, die natürlich auch die Leser meinen. «Fangen wir also endlich gemeinsam an!» Beliebt sind auch dramatische Wortpaare: «Unzähmbares Inferno», «Toxische Gleichgültigkeit» oder auch «Bodenlos trocken».
Nur konsequent: Der «Stern» verabschiedet sich vom Journalismus - Neue Zürcher Zeitung
Im Juni kam es in Stuttgart zu gewalttätigen Ausschreitungen, in deren Folge es ausschweifende Diskussionen über angeblichen Rassismus bei der Stuttgarter Polizei gab. Die hatte es nämlich gewagt zu erwähnen, dass sie bei Tatverdächtigen auch die Herkunft überprüfe, was sofort mit dem Begriff “Stammbaumforschung” diskreditiert und in einen Zusammenhang mit dem Dritten Reich gebracht wurde. Dass es sich bei dieser Überprüfung um ein ganz normales Vorgehen handelt und mitnichten nur Tatverdächtige mit Migrationshintergrund überprüft werden, ging dann wieder im Empörungsgedröhne unter.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wurden auch Videoaufnahmen ausgeblendet, auf denen fast nur Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund zu sehen waren. Nun konnte die Polizei 88 Tatverdächtige ermitteln und das Ergebnis ist das, was jeder schon wusste, aber viele nicht wahrhaben wollten: Zwei Drittel sind deutsche Staatsbürger, aber drei Viertel von ihnen stammen aus Einwandererfamilien. Rund 72 Prozent sind durch zurückliegende Straftaten bereits polizeibekannt.
Wenn man nicht endlich anfängt, bestimmte Probleme mit Zuwanderung und Integration innerhalb des vernünftigen Spektrums offen zu thematisieren, profitieren davon rechte Populisten, Radikale und Extremisten.
Lockdown-Frust war nicht der Grund - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Dazu passt der treffende Artikel von Judith Basad zur Angst der FDP vor dem Zeitgeist, der im Prinzip ähnlich argumentiert.
Genau aus diesem Grund verliert die Partei gerade Wähler: Weil sie zu viel Angst hat, sich gegen diejenigen zu positionieren, die nicht mehr auf Inhalte und Argumente achten, sondern jedem Menschen den politischen Tod wünschen, der jemals für einen Gesetzesantrag der AfD gestimmt hat. Natürlich ist es verständlich, dass man nicht mit einer Partei kooperieren möchte, die Rechtsextremisten in den eigenen Reihen duldet. Die Abneigung gegen die AfD ist zu Recht groß. Das bedeutet aber nicht, dass man alle Themen, die die AfD jemals in den Mund genommen hat, stigmatisieren sollte, wie SPD, Grüne und Linke es gerade tun.
Des Liberalen neue Kleider - Cicero
Interessanterweise kam die beste Rede auf dem FDP-Parteitag von der kürzlich entmachteten Linda Teuteberg, die sich den merkwürdigen Tendenzen in ihrer Partei entgegenstellte. Sichtlich irritiert und aufgewühlt, stellte sie auch Dinge klar, die für Liberale eigentlich selbstverständlich sein sollten. Schade, dass sie in Zukunft nicht mehr in der ersten Reihe wirkt.
Die Aktivistin Hengameh Yaghoobifarah war hier bereits Thema. Sie hat zuletzt durch eine Kolumne in der TAZ für Aufsehen gesorgt, in denen sie Polizisten mit Müll gleichsetzte. Nicht ihre erste Entgleisung. Aus ihren Kolumnen und auch ihren Beiträgen auf Twitter spricht nicht nur eine Verachtung gegenüber der Demokratie, sondern auch gegenüber dem Kapitalismus, der allerdings gar nicht mehr so schlimm zu sein scheint, wenn lukrative Angebote winken. Sie ist derzeit als Gesicht einer Kampagne des Berliner “Kaufhaus des Westens” in einem Mantel für 4000 Euro zu sehen. Frei nach dem Motto “Hummer und Sichel” stellt sie sich damit in eine Reihe mit berühmten Doppelmoralisten. Che Guevara trug Rolex, Fidel Castro sogar oft zwei gleichzeitig und die Mitglieder der RAF fuhren mit Vorliebe Porsche und Mercedes. Auch an aktuellen Beispielen in Deutschland mangelt es nicht: Klaus Ernst von der Linkspartei fährt ebenfalls Porsche. Auch Yaghoobifarah versucht natürlich, ihr Einknicken vor den Verlockungen der Marktwirtschaft als subversiven Akt zu verkaufen.
Die Autorin selbst sieht das etwas anders. Sie versuchte auf ihrem Twitter-Account @habibitus, wo sie unter dem Namen Prada Loth schreibt, den Eindruck auszuräumen, dass sie für ein Luxuskaufhaus Werbung mache. „Interessantes Weltbild: das Einzige, was Leute davon zurückgehalten hat, 4000-Euro-Designermäntel zu kaufen, war die lack of diversity in deren bisheriger Kampagne.“ Vielmehr sei es andersherum: „More likely ist doch, dass ich linke Propaganda im Luxuskaufhaus bewerbe.“
Bei aller berechtigter Kritik muss aber eines klargestellt werden. Sie wegen ihres Aussehens zu beleidigen, was vielfach passiert ist, geht gar nicht.
Hengameh Yaghoobifarah wirbt jetzt fürs KaDeWe - Tagesspiegel
Die Menschenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali sieht in den USA die Redefreiheit durch illiberale Tendenzen gefährdet, bei denen sie teilweise Überschneidungen mit dem Islamismus findet.
Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass die freie Rede in meiner neuen Heimat unter Beschuss geraten könnte. Sogar nach meiner ersten Begegnung mit dem, was man inzwischen «cancel culture» nennt – 2014 hätte ich an der Brandeis University einen Ehrendoktortitel entgegennehmen sollen und wurde dann unsanft ausgeladen –, sorgte ich mich nicht allzu sehr. Die Allianz von Campus-Linken und Islamisten, die für die brüske Wende gesorgt hatte, ordnete ich in den extremistischen Randgruppen ein.
Aber die Macht der illiberalen Elemente in der amerikanischen Linken hat zugenommen, nicht nur an den Hochschulen, sondern auch bei den Medien und bei zahlreichen Firmen. Einer Generation Studierender wurde eine Ideologie eingeimpft, die wesentlich mehr mit den intoleranten Lehren eines religiösen Kults gemeinsam hat als mit dem säkularen politischen Denken, mit dem ich mich während meines Studiums an der Universität Leiden in den Niederlanden vertraut gemacht hatte.
Mit Interesse nehme ich zur Kenntnis, dass diese Tendenz, die sich auch immer mehr in Deutschland zeigt, inzwischen verstärkt auch in den Kreisen kritisiert wird, denen sie eigentlich entspringt. Der Schauspieler Lars Eidinger hat in einem Interview deutliche Worte gefunden.
Die Kunst muss frei sein. Wenn man sich moralisch einschränken lässt, wenn einem immerzu Böses unterstellt wird, dann werden wir über kurz oder lang verstummen.
Und dann sind die Debatten so moralisch. Das wundert mich am meisten, wie viele bereit sind, sich moralisch über andere zu erheben. Schon weil das voraussetzt, dass es überhaupt Gut und Böse gibt. Nicht mal daran glaube ich.
Lars Eidinger fühlt sich von überhöhtem moralischen Anspruch bedroht - Berliner Zeitung
Kultur
Coverversion der Woche: Wencke Myhre - Wir fangen nochmal von vorne an (1976)
Diese Woche wieder eine eher obskure Version. Es handelt sich um die deutsche Interpretation des Stücks “Right Back Where We Started From” von Maxine Nightingale.