Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #16
Es ist wieder Freitag und das Schreiben des Newsletters ist inzwischen ein fester Teil des Tages, auf den ich mich immer sehr freue. Was ist im Laufe der Woche geschehen, was war meiner Meinung nach relevant für diese Publikation? Darüber nachzudenken ordnet vieles ein. In einer Zeit, in der man von einer Flut an Informationen überrollt wird, ist das nicht immer einfach. Wichtig ist dafür auch die (nicht neue) Erkenntnis, dass die meisten Themen, die zum Beispiel in den sozialen Medien diskutiert werden, ausserhalb der Plattformen keine Rolle spielen. Zumindest nicht ansatzweise in dem Umfang, in dem sie dort behandelt werden.
Ein Thema, welches sowohl im Netz als auch ausserhalb im Moment eine große Rolle spielt, ist Moria. Besonders bitter daran: Die Weigerung auf allen Seiten, das Thema differenziert zu betrachten und die Diffamierung derer, die es versuchen zeigt, dass aus den völlig entgleisten Diskussionen 2015 keine Lehren gezogen wurden. Zwei Extrempositionen stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Diese Woche geht es unter Anderem um ein Gesetz gegen Hasskriminalität, einseitige Kritik und freies Denken.
Nun aber los.
Politik/Gesellschaft
Es ist genauso besorgniserregend wie inzwischen normal, dass verabschiedete Gesetze vom Verfassungsgericht entweder ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt werden. Das zeigt, wie wichtig diese Institution als Korrektiv ist. Nun steht das sowieso umstrittene Gesetz gegen Hasskriminalität auf der Kippe. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat ein Gutachten verfasst, in dem er zu dem Schluss kommt, dass es in Teilen gegen die Verfassung verstößt.
Immerhin seien jene Stellen, die vom Bundesverfassungsgericht bezüglich der Regelung bei Telekommunikationsanbietern beanstandet worden waren, ziemlich wortgleich auch im neuen Gesetz zu finden. Die Befugnisse der Ermittler im Bezug auf die Bestandsdaten und die Meldepflichten gingen zu weit, so die Experten. Es handele sich bei der Abfrage von Namen, Geburtsdaten oder IP-Adressen immerhin um einen tiefen Eingriff in die Grundrechte, bei dem eine "hinreichend präzise Umgrenzung des Verwendungszwecks" gegeben sein müsse. Dies sei allerdings nicht der Fall.
Scheitert das Anti-Hass-Gesetz? - Tagesschau
Bereits seit Jahren weise ich darauf hin, dass die Grenzen in Zukunft nicht mehr zwischen Rechts und Links verlaufen werden, sondern dass es viel mehr darum gehen wird, wer für eine freie Gesellschaft, Demokratie und Rechtsstaat eintritt und wer dagegen ist. Auf beiden Seiten werden sich sowohl Linke als auch Rechte befinden. Harry Lehmann argumentiert in seinem Text über Kunstkritik, der in weiten Teilen von der Veränderung politischer Räume handelt, ähnlich.
Bislang war die ökonomische Achse die primäre Achse, nach der entsprechend auch die Aufspaltung des politischen Raums in ein linkes und ein rechtes Lager definiert war. Kippt der politische Raum hingegen in jene neue Konfiguration, wird die kulturelle Achse zur primären Achse, nach der die politischen Lager bezeichnet werden. Der politische Raum spaltet sich nicht mehr primär nach dem Schema links /rechts, sondern nach dem Schema kosmopolitisch /kommunitär. Das heißt nicht, dass sich die Wähler als Kosmopoliten oder Kommunitaristen begreifen müssen, sondern nur, dass der binäre politische Code (regieren oder opponieren) die Wähler unter den gegebenen Lebensverhältnissen nach diesem Muster sortiert.
Die FDP hat im Moment ein Problem. Sie findet keinen Weg, sich zu den entscheidenen Themen der Gegenwart zu positionieren, sie hat keinen Kurs. Leider konnte sie nach ihrem Wiedereinzug in den Bundestag keine der in sie gesetzten Erwartungen erfüllen. Zusätzlich gibt es innerhalb der Partei zwei Strömungen, die für weitere für Konflikte sorgen. Teile der Jungen Liberalen tendieren stark nach Rechts und sind bezüglich ihres Jargons und dessen was sie äussern kaum von Politikern der AfD zu unterscheiden. Auf der anderen Seite steht eine Gruppe, die dem progressiven Zeitgeist hinterherläuft, also nach Links kippt. Beides ist falsch und hat mit Liberalismus nichts zu tun. Das ist auch der einzige Punkt, in dem ich der ansonsten brillianten Analyse von Marc Felix Serrao in der NZZ widerspreche.
Liberalismus war in Deutschland, diesem Land der Staatsgläubigen, nie ein Anliegen der Mehrheit, und er wird es vermutlich nie werden. Eine liberale Partei, die angstfrei und, ja, auch pointiert für ihre Überzeugungen einträte, hätte aber durchaus Chancen, eine signifikante Minderheit von sich zu überzeugen. In Prozent der Wählerstimmen übersetzt: deutlich zweistellig. Dazu müsste sie aber in der Lage sein, die Ausgrenzungsversuche und Schmähetiketten der Mehrheit nicht nur auszuhalten, sondern wegzulächeln. Die FDP ist keine solche Partei. Statt die Differenz zum Rest der politischen Landschaft, links wie rechts, auszuhalten, wollen ihre Führungskräfte liebgehabt werden. «Wir sind Mitte», rufen sie. «Wir sind austauschbar», hören die Wähler.
Kein Mensch braucht eine liebe FDP - Neue Zürcher Zeitung
Dass innerhalb der schwarzen “Community” nur bestimmte Meinungen zugelassen sind und dass, wer diese nicht teilt, diffamiert und ausgegrenzt wird, habe ich hier schon einige Male thematisiert. Dieser Missstand, den ich seit den 90er Jahren kritisiere, wurde in den letzten Monaten wieder besonders offenbar. Es ist mir unbegreiflich, warum es nicht als positiv angesehen wird, dass es auch unter Dunkelhäutigen unterschiedliche Ansichten gibt. In den USA wird das Thema natürlich noch viel mehr diskutiert.
We, as Black Americans, dislike being stereotyped based on our color. Isn’t pigeonholing a person based on their skin color the definition of anti-Black? Shouldn’t the community protect the right to diverse thoughts? Furthermore, wouldn’t that diversity help destroy the stereotype that Black Americans are monolithic?
Free Black Thought/Campus Week: The case for heterodoxy in views on race - Tablet
Die Kabarettisten Serdar Somuncu und Florian Schröder haben bereits am sechsten September zusammen einen über dreistündigen Podcast aufgenommen. Ja, auch ich bekomme beim Wort “Podcast” inzwischen hektische Flecken, aber das ist ein anderes Thema. Im Laufe dieser drei Stunden ging es um unterschiedliche Auffassungen von Sprachgebrauch und darum, wie leicht man mit einer bestimmten Verwendung von Sprache Empörung in den sozialen Netzwerken auslösen könne. Um das zu beweisen, zog Somuncu vom Leder, wie man es von ihm gewohnt ist. Er sagte aber auch:
Ich meine es nicht und es ist viel wichtiger, was ich meine und nicht das, was ich sage.
Da Kontext und Intention heutzutage kaum noch eine Rolle spielen, kam es genauso, wie er vorhergesagt hatte. Es gab einen Shitstorm. Der Aktivist Malcolm Ohanwe, nicht unbedingt für differenzierte Standpunkte bekannt, veröffentlichte einen von ihm selbst fabrizierten Ausschnitt der Beschimpfungen ohne mit einem Wort den Kontext zu erwähnen. Seinen Kontext kennt man, seine Intention ist klar. Es ist auch deshalb vielsagend, welchen Ausschnitt er wählte, weil über weite Teile dieses Podcasts Dinge gesagt werden, für die es wahrscheinlich bei genau der Gruppe Applaus gegeben hätte, die nun Entlassung forderte. Auch darauf wies er mit keinem Wort hin. Wohlwissentlich, dass niemand sich den Podcast anhört. Es war übrigens auch genau diese Gruppe, die kürzlich noch die Gleichsetzung von Polizisten mit Müll verteidigt hatte, weil angeblich Satire. Wenn sich Satire aber auf sie selbst bezieht, ist das auf einmal indiskutabel.
Schon in den 90er Jahren regten sich Linke und Rechte aus unterschiedlichen Gründen aber gleichermaßen über Somuncus Lesungen mit "Mein Kampf" auf. Ideologen haben keinen Humor und verstehen Satire nicht. Wer, wie Serdar Somuncu, Verblendete aller Richtungen auf die Palme bringt, macht etwas richtig.
Der Sender Radio Eins sah sich daraufhin jedenfalls gezwungen, einzuschreiten und veröffentlichte Stellungnahmen der beiden Kabarettisten, sowie sowie eine peinlich-duckmäuserische Reaktion des Programmchefs. Dieser hätte klar darauf hinweisen müssen, dass es ein intellektuelles Armutszeugnis ist, etwas aus dem Kontext zu reissen und isoliert zu kritisieren.
Inzwischen ist “in Abstimmung mit den Künstlern” eine “redaktionell bearbeitete”, Variante online und das Original nicht mehr verfügbar. Wie diese Abstimmung aussah, kann man sich denken. Der Sender ist vor dem Pöbel eingeknickt. Cancel Culture gibt es aber gar nicht.
Wenn man Fehler korrigieren könne, solle man es tun, sagte Programmchef Skuppin dem Deutschlandfunk. Deswegen habe Radioeins die Redaktionsarbeit nun nachgeholt und am Mittwochmittag anstelle der Ursprungsfassung eine redaktionell bearbeitete Version veröffentlicht. Dies geschah in Abstimmung mit den beteiligten Künstlern.
RBB-Sender Radioeins stellt redaktionell bearbeitete Podcast-Fassung online - Deutschlandfunk
Nikolaus Blome hat sich in seiner Kolumne mit Moria auseinandergesetzt und macht einige gute Punkte. Wenn sich die Gesellschaft nicht noch weiter spalten soll, müssen nachhaltige Lösungen gefunden werden. Voraussetzung dafür ist eine ehrliche Debatte.
Andersherum fordern Parteien, Politiker und Leitartikel die einseitige Aufnahme der Menschen, weil und solange es keine echte gemeinsame EU-Asylpolitik gebe. Geht's auch eine Nummer kleiner? Schließlich war das Camp von Moria vor allem deshalb so skandalös überfüllt, weil die griechischen Behörden die Asylanträge nicht schnell genug abarbeiten - obwohl sie dafür von der EU mit viel Geld, Technik und Personal ausgestattet wurden. Außerdem stauten sich die Menschen in Moria, weil die abgelehnten Asylsuchenden nicht mehr in die Türkei zurückgeführt wurden - obwohl es so vereinbart ist und die EU dafür Milliarden an Herrn Erdoğan zahlt. Ich werde darum den Verdacht nicht los, dass die vorerst unerfüllbare Forderung nach einer EU-Asylpolitik letztlich die möglichst umfassende Aufnahme der Asylsuchenden als moralisch einzig akzeptable Ersatzhandlung ins Licht rücken soll. Das ist politisch ein geschickter Kniff. In der Debatte führt er freilich geradewegs zurück in die Jahre 2015 und 2016.
Kultur
Coverversion der Woche: Señor Coconut - Autobahn.
Eine Latin Version des Klassikers von Kraftwerk, passend zur derzeit laufenden Tour de France.