Prolog
Heute wird in Brandenburg gewählt und ich befürchte, dass das Ergebnis ähnlich ausfallen wird, wie in Sachsen und Thüringen. Auch die Reaktionen werden an die letzten Landtagswahlen Anfang des Monats erinnern. Ab 18:00 Uhr wird man auf allen Kanälen vernehmen, die eigene Politik müsse nun noch besser erklärt werden. Lernkurve: keine.
Es ist nachvollziehbar, dass man alles, ausser der eigenen Politik, für katastrophale Wahlergebnisse verantwortlich macht. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Politik der Ampelkoalition nur noch bei drei Prozent der Bevölkerung auf Zustimmung trifft, sollte diesen Irrweg allerdings spätestens beenden. Man kann nicht 97 Prozent der Deutschen als ahnungslose Unmenschen abstempeln. Das nennt man Geisterfahrer-Syndrom.
Wenn auch heute SPD, Grüne und FDP abgewählt werden sollten, wäre das kein Skandal, sondern Demokratie. Besorgen müsste es natürlich trotzdem. Meine Hoffnung, dass man sich seitens der Politik endlich tabufrei mit den Gründen dafür beschäftigt, dass die Regierung kaum noch die Unterstützung der Bevölkerung genießt und immer mehr Menschen eine rechtsextreme Partei wählen, ist noch nicht erloschen.
Wenn sich die Politik von lautstarken Minderheitenmeinungen vor sich hertreiben lässt Positionen vertritt, die nicht einmal die eigenen Wähler teilen, geht das politische Gleichgewicht im Land verloren. Manche Milieus haben sich so weit von Realität und Fakten entfernt, dass es immer schwerer wird, überhaupt noch eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden.
Nur ein Beispiel: In den sozialen Medien gibt es intelligente Menschen, welche die negativen Folgen ungesteuerter Migration für nicht existent erklären und als rechtsextreme Verschwörungstheorie diffamieren. Wie abgeschottet muss man leben, um so etwas ernsthaft zu äußern? Allein die Kriminalstatistiken der letzten Jahre sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Wer Fakten bestreitet, disqualifiziert sich für eine seriöse Debatte.
Niemand, der bei klarem Verstand ist, hält Migration grundsätzlich für ein Problem. Die Behauptung, das Argumentieren für Steuerung und Begrenzung von Migration spiele der AfD in die Hände, ist an Absurdität allerdings nicht zu überbieten.
Bei Phoenix sagte eine Klimaforscherin bezüglich der Klimapolitik unwidersprochen "Wir brauchen keine Zweifler." Die dahinter stehende Einstellung macht sprachlos. Auch sonst begehen öffentlich-rechtliche Medien jeden möglichen Fehler. Nicht nur die Tatsache, dass dort Kollegen und Schauspieler als zufällig ausgewählte Bürger verkauft werden, belegt die Dringlichkeit einer grundlegenden Reform dieses Systems. Die intellektuell defizitären Abschaffungsforderungen nach solchen Vorfällen befremden natürlich nicht minder.
Weiteres Öl gießen NGOs und Bürgerräte ins Diskursfeuer. An diese durch nichts legitimierten Einrichtungen lagert die Regierung ihr genehme, politisch allerdings nicht vertretbare Positionen aus. Auch so werden Minderheitenpositionen der Mehrheit aufs Auge gedrückt. Für die Demokratie ist das gefährlich.
Dazu kommt die intellektuelle Zumutung: Ahnungslose markieren die Grenzen des Sagbaren. Schießbudenfiguren möchten das Massaker vom 07.10.23 "kontextualisieren", können konkrete Poesie aber nicht von einem Sachtext unterscheiden. Schwarzer Humor, Sarkasmus, Ironie, alles Hassrede. Die emanzipatorischen Komponenten von Punk oder Rap: who cares? Dieses Gebaren ist schwer zu ertragen.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Differenzierung, Streitkultur und Kritik.
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Politik und Gesellschaft
Ein großes Problem in der Debatte ist Lagerdenken, welches oft nicht einmal konsequent betrieben wird. Es heisst, man solle sogenannten Betroffenen zuhören und ihre Positionen ernstnehmen. Das gilt für viele allerdings nur dann, wenn Betroffene die “richtige” Meinung haben. Das erlebe auch ich seit meiner Jugend.
Wäre auf Kamala Harris ein Mordanschlag verübt worden, wäre in Medien und Gesellschaft die Hölle los. Dass die Reaktionen bei Trump bereits zum zweiten Mal eher verhalten ausfallen, liegt daran, dass viele sich insgeheim darüber ärgern, dass die Anschläge nicht geglückt sind. Warum? Weil er die falsche Meinung hat. auch der dunkelhäutige Joe Chialo kann sich nicht über uneingeschränkte Solidarität nach einer Bedrohungslage bedanken, denn auch er äußert zu bestimmten Themen Ansichten, die in den Kreisen der Achtsamen unbeliebt sind.
Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ist grundsätzlich indiskutabel. Hoffentlich werden die Täter in allen Fällen gefasst und bestraft.
Chialo: Ich bemerke eine zunehmend aggressive Verrohung in den Auseinandersetzungen, die ich kaum noch als »Debatte« bezeichnen kann. Es scheint ausschließlich darum zu gehen, dass radikale Linke und selbsternannte Unterstützer der Hamas ihr einseitiges und verzerrtes Weltbild zur Schau stellen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Während bei der Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt Ende April das Kapern der Bühne und das Beiseitedrängen anderer wichtiger Themen noch im Vordergrund standen, hat sich die Situation nun zu aggressiven und gewalttätigen Übergriffen entwickelt, bei denen auch Unbeteiligte verletzt werden könnten. Dieses Verhalten ist inakzeptabel. Besonders erschütternd finde ich es, dass solche Aktionen auch noch mit der Forderung nach Fördermitteln verknüpft werden – das ist dreist und macht mich fassungslos.
SPIEGEL: Sie wurden beleidigt, es wurde Pyrotechnik gezündet. Ein nach Ihnen geworfener Mikrofonständer traf eine vor Ihnen stehende Frau. Wie soll die Politik reagieren, wenn Themen nicht mehr nur polarisieren, sondern Gewalt ins Spiel kommt?
Chialo: Diskussionen waren offensichtlich weder möglich noch gewünscht. Wer mit strafrechtlich relevanten, antisemitischen Forderungen auftritt und Gewalt propagiert, hat kein Interesse an einem Dialog. Zudem ist die persönliche Diffamierung bedenklich: Mich als Rassisten zu bezeichnen, zeugt von einer gravierenden Geschichtsvergessenheit und ist inakzeptabel. Es ist bedauerlich, diesen Schluss ziehen zu müssen, aber eine konsequente Reaktion des Rechtsstaates ist notwendig. Wer ernsthaft debattieren möchte, ist herzlich willkommen. Antisemitische Hetze und Gewalt werden wir jedoch niemals tolerieren.
SPIEGEL: Wie gehen Sie selbst mit Rassismus um?
Chialo: Wer als Schwarzer in Deutschland aufwächst, weiß, dass er gerade junge Menschen schmerzt. Aber ich habe irgendwann beschlossen, ich bin nicht der Schmerz, ich will da nicht stehen bleiben. Ich will für etwas stehen, was vorwärts gewandt ist. Schon wegen meiner kleinen Tochter.
»Ich stehe als Verletzter nicht zur Verfügung« - Spiegel
Eine Journalistin mit Migrationshintergrund, der auch immer wieder menschenverachtenden Meinungen unterstellt werden, ist Mariam Lau. Absurder geht es nicht, sie formuliert grundsätzlich sehr differenziert und arbeitet Themen sorfältig aus. Eine der klügsten Personen im deutschen Journalismus. Nun hat sie mit einem ungewöhnlich persönlichen Text erneut bewiesen, dass diese Einordnung richtig ist.
Schwer zu sagen, warum ausgerechnet der Mord an Rouven Laur mir nicht aus dem Kopf geht. Der Polizist war im Juni in Mannheim von einem Islamisten erstochen worden, während er eine Kundgebung der islamfeindlichen Bewegung Pax Europa schützte. Von seinen Kollegen wurde Laur als ein freundlicher Grübler beschrieben, der sich Gedanken darüber machte, wie man der Feindseligkeit auf der Straße besser begegnen könnte. Er selbst lernte deshalb Arabisch.
Gerade dieses letzte Detail bleibt bei mir hängen. Zusätzlich zu der Trauer, die die Nachricht bundesweit auslöste, stellt sich bei mir noch etwas anderes ein: erst mal Rage, nicht nur gegen den Täter Suleiman A., sondern auch gegen alle, die so tun, als wäre Deutschland eine Festung von Rassisten. Polizisten, die in ihrer Freizeit Arabisch lernen, weil sie merken, dass sie mit Bordmitteln auf der Straße nicht mehr weiterkommen – das soll ein präfaschistisches Land sein?
Aber unter meiner Rage liegt, gut versteckt, etwas wie Scham. Als wäre der gebürtige Afghane A., der als unbegleiteter Minderjähriger hierherkam, seit über zehn Jahren in Deutschland eine Heimat gefunden hat, der nach seiner Tat mit Sicherheit nach bestem Wissen und Gewissen medizinisch betreut wurde – als wäre der ein Verwandter, ein Cousin. Es beschämt mich, wenn "einer von uns" die Gastfreundschaft missbraucht (mehr war es bei A. nicht, politische Verfolgung konnte er nicht geltend machen). Wenn er großzügige Weltoffenheit wie die von Rouven Laur in den Dreck zieht, sie dadurch zum Gespött von Rechtsextremisten macht. Glaubt irgendjemand, von Laurs Kollegen wird sich noch einer um Arabischkenntnisse bemühen?
Da ist jetzt, nach dem großen Knall von Sachsen und Thüringen, vieles in Gang gekommen, was man längst hätte machen können – zum Beispiel nach dem Dublin-System abgelehnten Flüchtlingen nicht auch noch volle Sozialleistungen zu zahlen. Zu sehr vielen sinnvollen Änderungen wie den beschleunigten Rücküberstellungen in die Länder des ersten EU-Eintritts und vielem Überfälligen, das die Ampel zuvor schon beschlossen hat, kommen auch Maßnahmen, die die Hilflosigkeit nur neu illustrieren: Dass die Bundesinnenministerin als Riesendurchbruch preist, einen flüchtigen Asylbewerber künftig nicht mehr nur im eigenen Zimmer, sondern auch in angrenzenden Räumen einer Unterkunft suchen zu dürfen – soll man lachen oder weinen?
Es klingt eben noch immer so, als täte man etwas gezwungenermaßen. Etwas, das einem eigentlich gegen den Strich geht: Nein sagen. Kein Wunder, dass der Schutz der europäischen Außengrenzen so lange bestenfalls halb engagiert betrieben wurde. Er war vielen der politisch Verantwortlichen offenbar innerlich einfach nicht so wichtig. Grenzen sind was für Spießer – das war vermutlich lange der unausgesprochene Leitgedanke.
Mannheim, Solingen, München und zuletzt Hof, wo ein Syrer einen Anschlag auf Bundeswehrsoldaten mit Macheten geplant haben soll. Der ZDF-Moderator Jan Böhmermann hat die panischen Versuche der Bundesregierung, aus den Bluttaten politische Konsequenzen wie Grenzkontrollen zu ziehen, eine "dumme deutsche Idee" genannt. Für die Panik hatte er nur Spott übrig. Man könne da nur um Entschuldigung bitten. Seit den Neunzigerjahren sei das Land immer sicherer geworden. Mit anderen Worten: Kein Problem, bitte weitergehen!
Diesem Eindruck widersprach Innenministerin Nancy Faeser bei ihrer diesjährigen Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2023. Zwar sei die Bundesrepublik noch immer eines der sichersten Länder der Welt. Trotzdem liegt die Zahl der Straftaten auf dem höchsten Stand seit 2016, mit einem deutlichen Anstieg nach Corona.
Mit 34,4 Prozent ausländischen Tatverdächtigen liegt deren Anteil an der Gesamtzahl der Straftaten mehr als doppelt so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Gerade bei Straftaten gegen das Leben und gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist das so. Der Migrationsforscher Ruud Koopmans kommt in seinem Buch Die Asyl-Lotterie deshalb zu dem Schluss, dass unser aktuelles System "ungerecht, sicherheitsgefährdend und integrationsfeindlich ist". Es begünstige die jungen, fitten Männer, die eben gleichzeitig auch die mit dem höchsten Kriminalitätsrisiko seien. Koopmans spricht unter Berufung auf die PKS von 2.000 Opfern von Mord- und Totschlagsdelikten mit Flüchtlingen als Tatverdächtigen zwischen 2017 und 2020.
An Orten wie dem Frankfurter Hauptbahnhof, dem Jungfernstieg in Hamburg oder dem Görlitzer Park in Berlin sieht man, dass es nicht nur um ein Sicherheitsthema geht. Wenn es für Frauen unangenehm oder sogar riskant wird, sich dort abends oder nachts aufzuhalten, in welcher Kleidung auch immer, dann geht es schlicht um Freiheit.
Über Debattenkultur macht sich auch Svenja Flaßpöhler seit Jahren Gedanken. Durch ihr Buch über die Metoo-Debatte geriet sie vor einigen Jahren in die Schußlinie und auch während der Corona-Pandemie wurde sie aufgrund ihrer Äußerungen - die heute Konsens sind - geschmäht. Nun hat sie ein neues Buch geschrieben und spricht aus diesem Anlaß in einem Interview erneut über das Thema Diskussionskultur.
Flaßpöhler: Es braucht einen aggressiven Impuls, um die eigene Sicht gegen eine andere in Stellung zu bringen. Rhetorische Mittel wie die Polemik dienen als Waffe, man versucht durch Zuspitzung zu punkten, die andere Seite außer Gefecht zu setzen. Im Streit sucht man eben keinen Konsens, sondern man will gewinnen, so wie im Sport. Deshalb grenze ich den Streit auch klar vom Diskurs ab. Habermas zufolge zeichnet sich der Diskurs durch die Fähigkeit zum Perspektivwechsel aus, man folgt dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments, lässt seine Erfahrungen, seinen Egoismus außen vor. Eine erklärtermaßen idealtypische Sprechsituation. Umso bezeichnender, dass auch Habermas sein Leben lang gestritten und polemisiert hat. Denn Streit und Diskurs haben eines gemeinsam: Es braucht Argumente, damit überhaupt so etwas wie Kommunikation möglich ist. Ich kann nur streiten, wenn ich die Hoffnung habe, den anderen zu überzeugen. Anders als Habermas glaube ich aber nicht, dass menschliche Kommunikation jemals frei von Affekten oder Erfahrungen sein kann.
WAMS: Welche Rhetorik – neben der Polemik – ist typisch für den Streit?
Flaßpöhler: In Liebesbeziehungen werden oft Lappalien aufgebauscht. Signalwörter sind etwa „immer“ und „typisch“. Ich ziele auf eine Kleinigkeit – die nicht zugedrehte Zahnpastatube – und mache daran das Wesen einer ganzen Person fest. Was Georg Simmel 1908 als Intimkrieg unter Paaren beschrieben hat, prägt in unserer Digitalkultur mehr und mehr auch den öffentlichen Raum. Wenn Armin Laschet am Rande einer Katastrophe lächelt, wird diese Kleinigkeit gefilmt und herausgestellt. Natürlich beeinflussen solche Dynamiken die Meinungsfreiheit. Man wird vorsichtiger bei öffentlichen Auftritten. Weil man immer damit rechnen muss, dass irgendein Halbsatz aus dem Kontext herausgerissen und man als ganze Person plötzlich daran gemessen wird.
WAMS: Wie gut wird in deutschen Talkshows gestritten? Sie schildern im Buch eine eigene Erfahrung aus der Zeit der Corona-Pandemie. 2021 waren Sie zu Gast bei „Hart, aber fair“, damals noch mit Moderator Frank Plasberg.
Flaßpöhler: Talkshows sind oft viel zu einseitig besetzt. In meinem Fall gab es die eine Abweichler-Position, die ich innehatte. Was ich damals gesagt habe, wäre heute überhaupt kein Skandal mehr: Ich habe mich gegen die allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Ich habe gesagt, dass Nicht-Geimpfte keine Tyrannen sind, denen man die Schuld an der Fortdauer der Pandemie in die Schuhe schieben kann. Die vor zwei Monaten geleakten RKI-Protokolle haben genau das bestätigt. Damals aber war es unsagbar. Plasberg als Moderator bezog eindeutig Position und verbündete sich mit den anderen vier Diskutanten. Das war keine sportliche Gegnerschaft. Das war Vernichtung.
Flaßpöhler: In meinem Jahr beim Radio fiel die Aufregung um das Buch des Historikers Rolf Peter Sieferle (Seine Polemik „Finis Germania“, posthum im neurechten Antaios-Verlag publiziert, sorgte nach Nominierung auf der damaligen NDR-Bestenliste für einen Eklat, d. Red.). Auch in meinem Sender herrschte schiere Panik, Sieferle leugne den Holocaust, spreche von „Mythos“. Eine genaue Lektüre aber zeigt, dass Sieferle an besagter Stelle nicht Lüge meint, sondern: Durch seine Singularisierung werde dem Holocaust eine mythische Bedeutung verliehen. Das ist etwas anderes als eine Leugnung. Die Hysterie führte schlussendlich zum Gegenteil dessen, was man erreichen wollte: „Finis Germania“ wurde ein Bestseller. Ich konnte dann aber durchsetzen, dass Rüdiger Safranski in einem Interview die Sachlage geraderückt. Insofern ist es auch völliger Quatsch, von Meinungsdiktatur zu sprechen.
WAMS: Aber?
Flaßpöhler: Das Kernproblem des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wie ich ihn erlebt habe, liegt darin, dass man Positionen, die man selbst nicht teilt, vielleicht abbilden will, wenn überhaupt, aber nicht wirklich diskutieren will. Was man selbst ablehnt, darf nicht vorkommen. Diese Strategie der Dethematisierung, die übrigens auch Habermas mit Blick auf die AfD anempfohlen hat, ist aber kontraproduktiv. Sie stärkt die, die man schwächen will. „Die unsägliche Truppe“, so hat Habermas die AfD 2016 genannt, treibt heute alle vor sich her. Die, die man aus dem Diskurs ausschließt, inszenieren sich erfolgreich als Opfer. Und es wird ihnen leicht gemacht, die Parrhesia, den Mut zur Wahrheit, für sich zu reklamieren: „Glaubt nicht der Lügenpresse! Wir sprechen aus, was ausgesprochen werden muss!“ Und so weiter. Wer Feindschaft verhindern will, muss Gegnerschaft zulassen. Migrationskritische Meinungen müssen erlaubt sein, auch wenn man sie selbst für falsch hält.
Flaßpöhler: Um es ganz deutlich zu sagen: Ich kritisiere den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht mit der Absicht, ihn abzuschaffen. Das Gegenteil ist der Fall: Ich will, dass er sein Potenzial entfaltet! Dafür aber muss er seinen behördlichen Charakter ablegen und die Parrhesia zurückerobern. Er muss mutig sein, ungemütlich, widerspenstig. Ich selbst fand die Atmosphäre in meinem Sender irgendwann leider unerträglich. Für viele war ich die „rechte“ Redakteurin, der „AfD-Maulwurf“, weil ich auch solche Meinungen, die ich persönlich überhaupt nicht vertrete, mitunter sogar gefährlich finde, erst einmal genau hören und verstehen will.
„Für viele im Sender war ich der AfD-Maulwurf“ - Welt am Sonntag
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes. Am 11.09. war ich in der TAZ-Kantine bei einem sehr interessanten Talk mit Jens Balzer, der auch vollständig auf Youtube zur Verfügung steht. Gesprächspartner war Jan Feddersen.
Angesichts mancher Reaktionen auf das von unfassbarer Grausamkeit gekennzeichnete Massaker der islamistischen Terrorgruppe Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel stellt sich vielerorts die Frage: Ist es an der Zeit, sich von jeder Art von „Wokeness“ konsequent zu verabschieden?
Oder ist es nicht vielmehr notwendig, in Bezug auf diesen umkämpften Begriff zu den ursprünglichen Impulsen postkolonialer und queerfeministischer Theorien zurück zu finden?
Pointiert weist Jens Balzers aktueller Essay „After Woke“ einen Weg vorbei an erstarrten, essentialistischen Identitätskonzepten und zeigt: Nur indem Identität allzeit als fluide begriffen wird, kann sie zu einem dringend benötigten Gegenentwurf werden.
Constantin Schreiber spricht mit Sandra Maischberger über Meinungsfreiheit und Streitkultur.
In seinem kürzlich erschienen Buch „Lasst uns offen reden“ plädiert Schreiber für einen besseren Umgang miteinander. So betont er auch jetzt: „Eigentlich wollen wir alle besser miteinander reden und auch streiten.“ So gebe es in der Gesellschaft einen tiefen Wunsch nach besserer Kommunikation und einem konstruktiveren Streitklima. Dieses gehe nur auch aufgrund der Einflüsse von Social Media zunehmen verloren. Es sein bei einer Vielzahl an Themen schwierig, „in den inhaltlichen Diskurs zu gehen.“ Für seine eigenen Aussagen erfuhr Schreiber in der Vergangenheit teils heftige Attacken – insbesondere zu Aussagen und Veröffentlichungen zum Thema Islam. Infolgedessen kam es auch zu einem Tortenangriff bei einer Vorlesung. Dass eine Kollegin ihm danach sagte, er hätte „es aber auch darauf angelegt“, empört ihn noch immer. Es könne nicht sein, dass man für Dinge, die man schreibe oder denke, körperlich angegangen werde. Im Nachhinein hätte ihn diese Reaktion noch mehr erschreckt als der Angriff selbst. Zum Thema Islam will sich Schreiber in Zukunft nicht mehr öffentlich äußern. Insgesamt gebe es laut Schreiber eine „Tendenz zur Delegitimierung von Ansichten und Themen“. Er fordert: „Wir müssen offener reden – aber mit Regeln.“ Die Form müsse strenger werden, der Inhalt jedoch freier. So brauche es klare Regeln im Umgang miteinander, aber die Möglichkeit, jedes Thema breit und konstruktiv zu diskutieren. Momentan würden „Inhalte auf der Strecke bleiben“, so Schreiber.
Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, spricht mit Robin Alexander über Kritik an grüner Politik.
Sollten „Triggerpunkte“ (wie der „Veggie Day“) vermieden werden, weil sie politisch „zu viel kosten“ – oder ist ihre Symbolkraft und praktische Wirkung wichtig? Lässt sich das gigantische Infrastrukturproblem hierzulande mit einer Reform der Schuldenbremse lösen - oder braucht es dazu (noch) etwas anderes? Ist die Sprache der Grünen tatsächlich unklarer als die der anderen demokratischen Parteien - oder ist das eine unfaire Kritik? Und wo liegt der Unterschied in der feministischen Außenpolitik?
Kultur
Coverversion der Woche: The Rolling Stones - Fortune Teller
Das Lied wurde von Allen Toussaint unter dem Pseudonym Naomi Neville geschrieben und erstmals von Benny Spellman aufgenommen. Es wurde 1962 als B-Seite der Single „Lipstick Traces (on a Cigarette)“ auf Minit Records veröffentlicht. Es erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der erfreut ist, von einer Wahrsagerin zu erfahren, dass er die Liebe finden wird. Am nächsten Tag kehrt er zurück, wütend darüber, dass nichts passiert ist, verliebt sich aber in die Wahrsagerin. Sie heiraten und sind glücklich.
Epilog
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Ich würde mich allgemein über Quellennennung fürs Intro freuen. Ich beziehe mich heute konkret auf die 97% bzw. 3%. Vielen Dank!