Prolog
Berechtigterweise wird dieser Tage viel über schlechte Debattenkultur und eine Verrohung in der Gesellschaft geschrieben. Meist bezieht sich das auf die Diskussion um politische Themen. Die Voraussetzungen dafür, wie auf dieser Ebene gestritten wird, werden bereits im Privaten geschaffen. Viele Menschen fühlen sich an gesellschaftliche Absprachen, die lange Zeit als gesetzt galten, nicht mehr gebunden und benehmen sich wie die Axt im Walde, ohne zu bemerken oder sich dafür zu interessieren, ob ihr Verhalten negative Konsequenzen für andere hat. Um das zu bemerken, muss man nur eine Zugreise antreten oder den Fuß in ein Flugzeug setzen. Oder sich das eigene Umfeld anschauen. Klagen über Probleme in diesem Bereich hört man regelmäßig.
Nur wenige haben das Glück, sich ihr berufliches Umfeld aussuchen zu können. Privat kann dagegen jeder selbst entscheiden, mit wem er näheren Kontakt pflegt. Das persönliche Umfeld besteht im besten Fall aus Menschen mit positivem Einfluß. Was genau unter einem solchen zu verstehen ist, kann natürlich je nach Präferenzen variieren. Die Wichtigkeit eines gemeinsamen Wertegerüsts ist nicht zu unterschätzen. Es geht zwar nichts über leidenschaftliche Diskussionen und kaum etwas ist langweiliger als Gruppen, in denen sich alle einig sind. Uneinigkeit in grundsätzlichen Dingen führt allerdings zu regelmäßigen Grundsatzdiskussionen und damit verbundener Frustration. Wer sich das ersparen möchte verbringt seine Zeit mit Menschen, mit denen zum Beispiel Konsens bezüglich der Selbstverständlichkeit der Einhaltung von Grundregeln des menschlichen Miteinander besteht. Das sollte der absolute Mindeststandard sein. Wenn es dort bereits hakt, wird es auch nicht besser werden. Im Gegenteil. Wer die Welt retten möchte, sollte vorher den Abwasch erledigen.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Demokratie, Frankreich und Konformismus.
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Politik und Gesellschaft
Gestern kam es im Umfeld des AfD-Parteitags zu massiven linksextremen Ausschreitungen. Ein Geschenk für die Partei, welche diese Exzesse umgehend nutzte, um ihre Opferrolle zu zementieren. Auch wenn sie das bei anderen regelmäßig kritisiert, ist hier der Beweis einer strategischen Fehlleistung erbracht. Dass Gewalt grundsätzlich abzulehnen ist, versteht sich von selbst.
Der Versuch, den Parteitag einer rechtsextremen Partei mit SA-Methoden zu verhindern, ist genau mein Humor. Monty Python wären heute arbeitslos. Leider ist die Sache ernst und muss genauer beleuchtet werden.
Es ist legitim, im Rahmen angemeldeter Versammlungen gegen einen Parteitag zu demonstrieren. Der Versuch, ihn zu verhindern, belegt ein defizitäres Demokratieverständnis. Jede demokratisch legitimierte Partei (Nicht zu verwechseln mit “demokratisch”.) hat das Recht Parteitage abzuhalten. Leider wurde bereits im Vorfeld zu Störungs- und Verhinderungshandlungen aufgerufen. Das ist inakzeptabel.
Alexander Grau schreibt im “Cicero” über den in diesem Zusammenhang verwendeten entgrenzten Faschismusbegriff.
Es ist immer wieder dasselbe Spiel. Um die Regeln der Demokratie aus den Angeln zu heben, Rechtsverstöße zu legitimieren und die Einschränkung der Meinungsfreiheit zu rechtfertigen, greift man zum ganz großen Kaliber: dem Kampf gegen den Faschismus. Als Faschist gilt dabei jeder, der nicht linksextreme Meinungen vertritt.
Im Kern beruht dieses „Verständnis“ von Faschismus auf der Faschismus-Definition der Komintern der 30er-Jahre, wonach der Faschismus eine Diktatur der besonders reaktionären Elemente des Finanzkapitals ist. Das bedeutet zugleich, dass die gesamte bürgerliche Gesellschaft im Kern faschistisch ist. Oder anders: Faschist ist jeder, der kein Kommunist ist.
Solange dieser einfältige Faschismusbegriff von sektiererischen Grüppchen verwendet wurde, konnte man noch darüber hinweggehen. Zum Problem wird er, wenn Parteiorganisationen oder hoch alimentierte Vertreter der sogenannten Zivilgesellschaft sich ihn zu eigen machen, um damit Gesetzesbrüche und Verstöße gegen das Grundgesetz zu legitimieren.
Denn Demokrat ist nicht nur jemand, der linke Glaubenssätze von Buntheit, Diversität und Multikulturalität herunterbetet. Auch wenn es sich die linken Aktivisten im Umfeld von „Widerstand“ nicht vorstellen können: Man kann gegen linke Gesellschaftsprojekte sein und dennoch demokratischer Gesinnung.
Der entgrenzte Faschismus-Begriff - Cicero
Heute wird in Frankreich gewählt. Hitzige Diskussionen über die politische Situation dort fanden im Vorfeld statt. Lautsprecher aller Lager dominierten die Debatte. Was wie immer fehlte beziehungsweise deutlich leiser zu vernehmen war, waren die differenzierten Positionen. Der beste Artikel, den ich dazu gelesen habe, ist der von Wolfgang Matz in der “FAZ”.
Ist Macrons Schritt Dokument eines Scheiterns? Natürlich, was sonst. Auch für den Beobachter, der seine Wahl 2017 mit großen Hoffnungen begleitet hat (F.A.Z. vom 18. Dezember 2018), ist klar, dass etliches davon sich nicht erfüllt hat, vor allem aber das Ziel, das altfranzösische Schema von Links und Rechts zu überwinden. Die Gründe für dieses Scheitern liegen ganz nah bei denen, die zunächst den Erfolg ermöglicht haben. Christoph Schönberger hat in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 15. Juni 2024) diagnostiziert, „dass Macron nie wirklich zum Politiker geworden ist, sondern diesen immer nur gespielt hat“.
Solche Poesie über ein angebliches „Wunderkind außer Dienst“ erklärt gar nichts. Aber irreführend ist auch die sachliche, oft wiederholte Interpretation, Macron „schob die Sozialisten seines Mentors François Hollande ebenso beiseite wie die Gaullisten“. Nein, ohne die jahrelange Selbstzerstörung der beiden großen Parteien hätte Macron den Élysée-Palast niemals erreicht, ja hätte es wahrscheinlich nicht einmal versucht, zumindest nicht auf diesem kurzen Weg.
Die zweite, hochproblematische Legende, von der extremen Linken und Rechten bereits am Wahlabend 2017 befeuert: Macrons Siege seien irgendwie minoritäre, nicht vollgültige Erfolge. Auch Schönberger wiederholt sie: „Seine Wiederwahl im Jahr 2022 war bereits nur noch ein mühsamer Arbeitssieg, der allein darauf beruhte, dass als Alternative Marine Le Pen zur Wahl stand.“ Tatsache ist: Seit Georges Pompidou 1969 ist kein Staatspräsident – ausgenommen das groteske Le-Pen-Jahr 2002 – mit annähernd großen Mehrheiten gewählt und wiedergewählt worden wie Emmanuel Macron.
Und eine jede Wahl steht immer „nur“ in einer momentanen Situation, zwischen den angebotenen Konstellationen und Personen. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen vollgültigen Wahlsiegen und sozusagen zweitrangigen, die „allein darauf beruhten“, dass dies oder jenes der Fall gewesen sei, vor allem deshalb die Lieblingsparole der Extreme, weil sie nichts anderes bezweckt als die populistische, antidemokratische Delegitimierung einer demokratischen Wahl. Noch einmal: Macrons Wahl wurde nicht von Le Pen möglich gemacht, sondern von den beiden großen Parteien, die keine vermittelbaren Kandidaten und Programme mehr anzubieten hatten.
Die Sozialisten konkurrieren im gleichen Sinne mit den Grünen und La France insoumise, der linkspopulistischen Bewegung von Jean-Luc Mélenchon. Die dahinterliegende Grundfrage ist hier wie dort ungelöst und wird am liebsten unter den Teppich gekehrt: Nämlich ob die Bildung eines strikt rechten und eines strikt linken Blocks Vorrang haben darf vor der demokratischen Gemeinsamkeit in der Mitte der Republik. Die Ausschreibung der Neuwahlen hat diese fundamentale Problematik zur Explosion gebracht – mit noch völlig ungewissen Folgen und womöglich sehr gefährlichen.
Die „Neue Volksfront“ jetzt, ein zum Kitsch entstellter Rückgriff auf die linke Regierung 1936, desavouiert vor allem die demokratischen Linken, die sich aus rein wahltaktischen Gründen mit der antidemokratischen, russophilen, antisemitischen France insoumise verbinden. Kein Mensch glaubt den Lippenbekenntnissen und Leerformeln, mit denen Mélenchons Leute einen Positionswechsel von heute auf morgen vorgeben, und eine eventuelle Regierungsmehrheit wäre noch katastrophaler zerstritten als seinerzeit unter Hollande. Die inhaltlichen Differenzen sind, sei’s innenpolitisch, sei’s in Sachen Russland, Ukraine, Israel, nach vernünftigen Maßstäben unüberwindlich.
Wenig spricht also für die grundsätzliche Klärung durch Macrons präsidentialen, „gaullistischen“ Coup, der dennoch kein Coup d’État ist. Eine absolute Mehrheit für das Rassemblement National ist nicht undenkbar, aber wenig wahrscheinlich; eine relative Mehrheit führte zu „Cohabitation“ und Blockade. Die Neue Volksfront erklärt sich zum „Bollwerk gegen das Rassemblemt National“, doch wie soll sie das glaubwürdig sein, vereint mit einer Partei, gegen die es ebenfalls ein Bollwerk braucht, und unterschlagend, dass sie vor allem ein Bollwerk gegen Macron ist?
Bernard-Henri Lévy hat deshalb leider recht mit seiner Feststellung: Es gibt heute keine andere demokratische Wahlmöglichkeit als die Kandidaten im Umkreis der „Macronie“. Leider – denn die Konstellation von einer Partei allein gegen die Extreme ist auch künftig keine Basis der Demokratie. Das ultimative Schreckensszenario bleibt die mögliche Stichwahl zwischen Rassemblement National und La France insoumise, eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Erklärung des jüdischen „Nazijägers“ Serge Klarsfeld, er wähle in diesem Fall RN, kann nur den überraschen, der sich nie näher mit Mélenchons Truppe befasst hat.
Eine Regierung des Rassemblement National wäre für Frankreich und Europa ein schwerer, ein extremer Schlag, ein unberechenbarer Unsicherheitsfaktor für die Außenpolitik, für die Verteidigung, für die EU und nicht zuletzt für die Ukraine. Die exklusive Zuspitzung auf diese Gefahr verschleiert dennoch, dass der Erfolg der Partei nicht schicksalhaft aus heiterem Himmel fällt und dass die Neue Volksfront keine Alternative ist.
Land ohne Mitte - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Bernard-Henri Lévy, auf den im vorigen Artikel Bezug genommen wurde, hat - ebenfalls im Zusammenhang mit der Wahl in Frankreich einen lesenswerten Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung verfasst. Der dem Spruch “Der Feind meines Feindes ist mein Freund” zugrunde liegende Irrtum lässt sich leider schwer beseitigen.
Zunächst haben wir eine Partei, La France insoumise („Unbeugsames Frankreich“), die offen antisemitische Positionen vertritt. Kommentatoren sprechen zwar von „Anklängen“, von „Ausrutschern“, von einer „machiavellistischen“ Taktik, um die Wähler in den Vororten zu gewinnen ... Ich glaube das nicht. Ich finde, dass solche Argumente eine Beleidigung für Machiavelli und vor allem für die Vororte sind.
Ich hörte einen sagen, dass die Präsidentin der Nationalversammlung, die nach Israel gereist war, „in Tel Aviv campieren“ würde; ein anderer nannte einen jüdischen Parlamentskollegen „Schwein“; ein weiterer rühmte sich, nicht zur „gleichen menschlichen Spezies“ zu gehören wie die Juden, deren Ansicht er nicht teilt. Eine andere verdächtigte den Außenminister, eine Marionette des französischen Zentralrats Crif zu sein; und es gibt noch viele weitere Beispiele. Ihre Sprache ist eindeutig und lässt nur einen Schluss zu: La France insoumise ist eine antisemitische Partei.
Die zweite Besonderheit dieser Zeit ist, dass diese antisemitische Partei eine dominierende Position in der frisch gegründeten „Neuen Volksfront“ einnimmt. Die ursprüngliche Idee von François Ruffin, die am Abend der Auflösung des Parlaments entstand, war schön. Aber zwischen der Volksfront von 1936 und ihrem Remake gibt es einen großen Unterschied. Die erste wurde von den Radikalen und Sozialisten dominiert. Diese hatten im Parlament viermal mehr Abgeordnete als die Kommunisten von Thorez. Und in herausragender Position stand die große Figur Léon Blum.
Wer ist der Blum von heute? Wer kann Mélenchon widersprechen? Wer kann die Menge zum Schweigen bringen, die in der Nacht der Parlamentsauflösung auf der Place de la République skandierte: „Israel Mörder, Glucksmann Komplize“? Niemand, fürchte ich. Und da Politik auch eine Frage des Kräfteverhältnisses ist, befürchte ich, dass weder Raphaël Glucksmann noch François Hollande noch jemand anderes in der Lage sein wird, den Teufel im Zaum zu halten und die Truppen von Mélenchon zu bändigen.
Nun taucht links eine neue Unterscheidung auf. Hier ist es ein Artikel in Le Monde, der zwischen „kontextuellem“ Antisemitismus (im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza, entschuldbar) und „ontologischem“ Antisemitismus (in der langen Geschichte verankert, unverzeihlich) unterscheidet. Dort ist es eine akademische Auseinandersetzung in der Zeitschrift AOC über das Versprechen, das 1945 gemacht wurde, den Antisemitismus nie wieder zuzulassen: Was wäre mit dem Begriff des Versprechens gemeint? Soll man John Rawls und seiner Philosophie des zwingenden Versprechens folgen? Oder Stanley Cavell und seiner Idee eines bedingten Versprechens, das durch die Notwendigkeit, die extreme Rechte zu blockieren, aufgehoben werden könnte? Kurz gesagt, es ist die ewige Rückkehr der Debatte, ob Judenhass toleriert werden kann, wenn er von der linken Seite des ideologischen Spektrums kommt. Diese Debatte ist weltfremd. Aber in Zeiten des Verbrechens von Courbevoie, wo ein Mädchen misshandelt und vergewaltigt wurde, weil sie Jüdin ist, ist sie vor allem obszön.
Deshalb werde ich nicht dazu aufrufen, am Sonntag für die Kandidaten der Neuen Volksfront zu stimmen. Natürlich wünsche ich mir die Niederlage des Rassemblement National. Und ich warte, nebenbei bemerkt, auf die Klage, die ihr Frontmann Jordan Bardella gegen mich anstrengen möchte, weil ich im Fernsehen behauptet habe, dass seine Partei natürlich nicht mit ihrem antisemitischen Erbe gebrochen hat.
Die antisemitische Linke ist zurück - Süddeutsche Zeitung
Dass auch Peter Sloterdijk sich weiterhin regelmäßig zu Wort meldet, begrüße ich sehr. Seine Stellungnahmen sind immer interessant und die Cancelversuche wegen seiner kritischen Anmerkungen zur Migrationspolitik scheinen glücklicherweise nicht erfolgreich gewesen zu sein.
ZEIT: Sie meinen die völkerrechtswidrige Aneignung der Krim durch Russland?
Sloterdijk: Die Europäer haben damals nicht genügend reagiert. Man meinte, mit ein bisschen Wohlstandsverwaltung, die von Mangelverwaltung unterspült war, ganz gut weiterzukommen. Heute zeigt sich eine starke Politisierung des unpolitischen oder vorpolitischen Unbehagens in den Demokratien. Der Versuch des französischen Präsidenten, sein Wählervolk genau mit dieser Diagnose zu konfrontieren, wird von den meisten seiner Kollegen in Europa mit Entsetzen wahrgenommen.
Sloterdijk: In einer Zeit, in der Sozialpsychologie noch schlagkräftiger war als heute, gab es ein Theorem, das von einem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens von Verbesserungen sprach. Das lässt sich psychologisch direkt übertragen auf ein anderes Theorem – das sogenannte Gesetz, wonach die Unzufriedenheit schneller wächst als die Verbesserung. Was ich damit sagen will: Je besser es Menschen geht, desto eher vergleichen sie sich nach oben. In Zeiten, in denen es noch wirkliche Armut gab, hat man sich eher nach unten verglichen. Ich höre noch meine Großmutter sagen: Man muss daran denken, dass es Leute gibt, denen es schlechter geht. Das war eine Art vorpolitische Lebensklugheit, die die Menschen davor gerettet hat, sich selbst zu vergiften. Heute möchte man fast glauben, die Deutschen erleben ihr In-der-Welt-Sein als ein vergleichendes Schierlingsbechertrinken – und der eigene Becher ist immer der bitterste.
ZEIT: Hat die EU die Rolle des moralischen Gewissens nicht lange genug gespielt?
Sloterdijk: Hier kann man den Unterschied zwischen Moralismus und Systemtheorie bemerken. Der Großmeister der letzten soziologischen Generation, Niklas Luhmann, würde auf dieser Differenz insistieren. Das heißt: Um den Moralismus abzubauen, ist es gut, ein Klima von Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung zu schaffen, in dem andere sich inkludiert fühlen können, ohne dass man bei ihnen den antimoralischen Reflex hervorruft. Niemand wird gerne moralisiert. Und die alteuropäische Kultur des Geständnisses – über die ich an den Vorlesungen am Collège de France ausführlich spreche – ist weitgehend erloschen.
ZEIT: In Frankreich hat sich mit dem Nouveau Front populaire ein neues Linksbündnis aus Sozialisten, Linken, Grünen und Kommunisten gebildet. Liegt darin eine Chance gegen Le Pen?
Sloterdijk: Im Gegenteil. Wirklich fatal daran ist die Tatsache, dass der eigentliche Hoffnungsträger, der auch als Nachfolger von Macron in den nächsten Jahren hätte an Profil gewinnen können, Raphaël Glucksmann, sich aus strategischen Gründen mit Jean-Luc Mélenchon verbündet und damit dem falschen Reflex folgt.
ZEIT: Warum?
Sloterdijk: Sehen Sie, in Frankreich wird der Präsident in zwei Wahlgängen gewählt: Im ersten herrscht die Karnevalisierung der Politik, jeder wählt frei von der Leber weg. Die beiden Erfolgreichsten gehen dann in ein Stechen, von da an sind die politische Überlegung, die politische Reife, das Ergebnisdenken gefragt. Vorher der Mardi Gras, der Karnevalsdienstag, mit bis zu 50 Prozent völlig verrückten und unverantwortlichen Voten, danach die Rückkehr zur Aschermittwochswirklichkeit. Ich glaube, dass Macron mit diesem Schema rechnet. Er setzt darauf, dass die vernünftige Linke dann doch lieber seinen Kurs unterstützt als den des linksfaschistischen Krakeelers Mélenchon. Doch er unterschätzt die Macht der Aversionen. Die Linken ziehen Le Pen inzwischen Macron vor. Macron hat dem Wählervolk die Entscheidung vor die Füße geworfen: Ihr bekommt diesmal eine zweite Runde, nicht nur für die Präsidentschaft, auch für die Nationalversammlung. Die Europawahlen waren ein Narrenfest für politische Expressionisten. Die Neuwahlen sind eine Gelegenheit für das französische Wahlvolk, politische Reife zu zeigen. Und natürlich sind jetzt alle aus dem Häuschen und sagen: Wir lassen uns doch nicht zur Reife zwingen!
Erklären Sie's uns, Herr Sloterdijk - Zeit
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes. Gregor Gysi spricht im Rahmen seiner Sendung “Missverstehen Sie mich richtig” mit Boris Palmer.
Linda Teuteberg ist in der Auftaktfolge des “Frei Heraus”-Podcasts der Denkfabrik R21 zu Gast.
Zu den kontrovers diskutierten Gesetzesvorhaben der Ampel gehört das so genannte Demokratiefördergesetz. Stärkt es unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung oder ist es der Versuch der Regierung, über mehrheitlich linke NGOs Einfluss auf die politische Willensbildung zu nehmen? Darüber spricht R21-Geschäftsführer Martin Hagen mit der FDP-Politikerin Linda Teuteberg.
Demokratiefördergesetz – mit Linda Teuteberg
Kultur
Der Künstler Jonathan Meese hat der “NZZ” ein Interview gegeben, das einige Äußerungen enthält, die für diesen Newsletter relevant sind.
Der Straftatbestand heisst «Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen». Kürzlich wurde Björn Höcke angezeigt, weil er den Slogan «alles für Deutschland» zitiert hat. Er wurde verurteilt. Weil er nicht Künstler ist?
Ganz genau! Und Höcke ist ein Weichei. Er hätte sagen müssen: «Ja, ich wusste, dass das eine SA-Parole ist, und fertig.»
Glauben Sie, er hat das gewusst?
Natürlich. Und das ist für mich rückgratlos. Das wäre so gewesen, wie wenn ich gesagt hätte: «Oh, ich wusste ja gar nicht, was diese Geste ‹Meese-Hitlergruss› bedeutet.» Man muss zu dem stehen, was man tut. Schlau wäre gewesen, wenn Höcke gesagt hätte: «Ich habe es der Kunst wegen getan.» Aber der ist halt nicht schlau, und vor allem will er eine Klientel bedienen. Ich will keine Klientel bedienen. Ich will Kunst machen. Ich habe keine Klientel, von der ich Jubel erwarte.
Solange man Slogans wie «Arbeit macht frei», «jedem das Seine», «alles für Deutschland» unter Strafe stellt, sagt man doch: «Da schwingt etwas mit, was wir nicht vergessen dürfen.» Plädieren Sie dafür, das alles zu vergessen?
Nein, überhaupt nicht! Nur in der Kunst müssen wir es neu füllen, so lange, bis wir damit jonglieren können. In einer liebevollen, zukünftigen Form. Deutschland ist ein tolles Wort. Richard Wagner wollte ein Gesamtkunstwerk, ein Gesamtkunstwerk Deutschland, ein Gesamtkunstwerk Europa und ein Gesamtkunstwerk aller Welten. Ludwig II. von Bayern auch. Diese Leute sollte man ernst nehmen. Wenn man Deutschland aber mit politischem Quark füllt, dann spaltet man die Gesamtheit immer mehr, und das ist kleinkariert und zukunftslos. Natürlich darf es keine Bücher geben, die man verbietet. Es darf auch kein Wort geben, was man verbietet. Es darf auch keine Kostümierung geben, die man verbietet. Aber wir müssen in die Sachen hineingehen, in die Sachen reinkriechen, um sie neu auszubeulen, auszuloten. Gucken: Ist da noch Dreck drin? Müssen wir den rausholen?
Jonathan Meese: Wir werden heutzutage verhindert, behindert durch eine zu grosse Ideologisierung. Heutzutage soll alles ideologisiert werden: Essen, Sprache, Kino, was ich lesen darf, was nicht. Überall kommt eine Gruppe, die meint, irgendwas sei richtig oder falsch. Die sollen mal alle spazieren gehen, um den Kopf wieder klar zu machen.
Ich persönlich habe kaum Ideologisierung erfahren. Ich bin in die Kunst hineingeschlittert, weil ich einen Ort der Freiheit gesucht habe. Ich bin sehr verblüfft, dass heute ganz viele Menschen gar keine Freiheit wollen. Ich kann nicht verstehen, wie man Kunst ohne totalsten Freiheitsdrang studieren kann. Ich verstehe überhaupt Menschen nicht, die an die Universität gehen, um Unfreiheit zu lernen, und sich darin auch noch suhlen und angeblich wohlfühlen. Und dann noch dieser Gruppenzwang und dieser Herdentrieb! Als ich an der Kunsthochschule war, ging es nur um Freiheit. Ich war nie konfrontiert von diesen Fragen, die es heute gibt, welche Hautfarbe jemand hat und so weiter.
Den Begriff «politische Kunst» verstehen Sie nicht?
Das gibt es überhaupt nicht. Es gibt Politik als Motiv in der Kunst. Ich kann eine politische Debatte malen, aber das Bild selber strahlt das nicht ab. Die Natur ist nicht politisch organisiert, sie bildet keine Parteien, genauso wie sie keine Tempel hat. Und das kann die Kunst auch nicht. Das ist nicht auf der Liste der Kunst. Also wenn ich politisch sein will, muss ich Politiker werden. Es ist sonst Etikettenschwindel.
Im Augenblick wird überall an den Hochschulen demonstriert, ist das auch Kunst oder ein Aufbruch, eine Befreiung?
Nein, das ist Politik. Die suhlen sich in ihrer Unfreiheit, sind ideologisch Gefangene, gesichtslos. In Japan ist es das Schlimmste, das Gesicht zu verlieren. Das sehe ich genauso. Diese Leute haben kein Gesicht mehr. Das sind alles psychisch gestörte Leute. Das ist auch nicht schlimm. Aber die müssen sich Hilfe holen. Zwangskollektivierte Menschen sind immer unfrei und schwach.
Bei Instagram hat neulich jemand geschrieben: «Jonathan, wenn du dich nicht positionierst, bist du ja feige.» Nein! Es ist genau das Gegenteil. Sich ideologisch zu positionieren, ist feige. Dann hast du zwar oft 50 Prozent gegen dich und 50 Prozent für dich. Wenn du im Abseits bist, hast du alle gegen dich. Aber das ist nicht schlimm. Die Schweiz geht da übrigens immer mit gutem Beispiel voran. Das Wort Neutralität ist super. Das ist nämlich nicht, dass ich keine Haltung habe. Ich habe ein Rückgrat, ich bin neutral. Ich habe privat eine totalste Haltung, aber war noch nie auf einer Demonstration. Ich werde mich niemals irgendeiner ideologischen Bewegung anschliessen.
Coverversion der Woche: Paul Heaton und Norman Cook - Happy Hour
Beim Glastonbury-Festival kam es am Wochenende zu einer überraschenden Teil-Reunion der Housemartins. Norman Cook und Paul Heaton standen wieder zusammen auf einer Bühne und spielten den alten Gassenhauer “Happy Hour”. Mich erstaunt immer wieder, dass viele gar nicht wissen, dass Fatboy Slim der Bassist der Band war.
Der Song war die dritte Singleauskopplung des Albums “London 0 Hull 4”und erreichte Platz drei der britischen Single-Charts. Ursprünglich hatte das von Paul Heaton geschriebene Stück den Titel “French England” und wurde am 22. Januar 1986 fertiggestellt. Am selben Tag schrieb er auch “Me And The Farmer“. Gitarrist Stan Cullimore hatte eine Akkordfolge für die Strophen geplant, wollte das Lied aber schnell fertigstellen, um Kuchen zu kaufen. Also verwendete er dieselben Akkorde für den Refrain und nahm ein kurzes Demo auf. Der gesamte Vorgang dauerte weniger als 10 Minuten. Der erste große Hit der Band blieb 13 Wochen lang in den Single-Charts und erreichte in der Woche vom 28. Juni 1986 seine höchste Positionierung.