Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #151
Liberalismus, Zukunft und die 90er Jahre als Sehnsuchtsort
Prolog
In der letzten Zeit erreichten mich wieder viele E-Mails, in denen darauf hingewiesen wurde, dass dieser Newsletter eine wichtige Stimme im Diskurs sei, die bisher gefehlt habe. Es freut mich, dass meine Leser das so sehen, denn ich selbst würde mir nie anmaßen, das zu behaupten. Ein Grund dafür, dass ich diese Publikation ins Leben rief war allerdings tatsächlich das Empfinden einer Leerstelle. Ein weiterer war und ist zu verhindern, dass ich mich - frei nach Loriot - auf den Boden werfe und in die Auslegeware beiße. Ist lange nicht passiert, funktioniert also.
Die Stimmung wäre fast gekippt, als ich von der Verleihung zweier Preise las. Als habe es die Causa Relotius nie gegeben, gewinnt zum einen der Correctiv-Artikel über eine bizarre Kaminrunde den “Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien”. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Kernbehauptungen dieses Machwerks nach mehreren (teilweise durch Gerichtsentscheidungen erzwungenen) Korrekturen in Gänze widerlegt sind, reibt man sich überrascht die Augen. Dass dieses Stück, welches als Negativbeispiel in die deutsche Journalismusgeschichte eingehen wird, eine Auszeichnung erhält, ist nur einer der Gründe, warum Journalistenpreise abgeschafft gehören.
Auf der Basis dieser vermeintlichen Recherche gingen über eine Million Menschen auf die Straße, es wurde wochenlang hitzig diskutiert. Obwohl sich das Ganze als unzutreffend herausstellte, hat sich im öffentlichen Gedächtnis das Narrativ eingenistet, in Potsdam sei die millionenfache Ausweisung deutscher Staatsbürger geplant worden. Fake News in Reinkultur.
Den zeigeistig in “Stern-Preis” umbenannten Henri-Nannen-Preis gewinnt die Aiwanger-Geschichte der Süddeutschen Zeitung, von der sich sogar der Chefredakteur distanzierte. Vergleichweise harmlos Die Auslegeware kommt dennoch näher.
Nun aber los.
Heute geht es unter anderem um Liberalismus, Zukunft und die 90er Jahre als Sehnsuchtsort.
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Politik und Gesellschaft
Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat Sabine Döring, die Staatssekretärin mit dem besten Musikgeschmack aller Zeiten, als Bauernopfer in die Wüste geschickt. Diese Geschichte ist noch lange nicht vorbei und offenbart zusätzlich ein tiefergehendes Problem der Liberalen. Jochen Bittner formuliert in einem lesenswerten Artikel, wie es gehen könnte. Leider wird dieser Appell ungehört verhallen. Die liberale Partei hat nicht nur grundlegende Probleme, sondern auch kaum Möglichkeiten sie zu lösen. Innerparteiliche Richtungsstreits wirken lähmend, ein Profil ist nicht mehr erkennbar. Das zeigt sich an Wahlergebnissen und wird spätestens bei der Bundestagswahl die volle Schleudersitzwirkung entfalten. So ärgerlich wie verdient.
Dieses ernüchternde Ergebnis dürfte damit zusammenhängen, dass sich der klassische Liberalismus seit gefühlt mindestens zehn Jahren nicht imstande zeigt, angemessen auf neue Bedrohungen von vermeintlich progressiven Bewegungen zu reagieren, die das gefährliche Spiel von Richtigkeitsanmaßung betreiben und Kritiker als Ketzer ausgrenzen. Wer wie Liberale davon ausgeht, dass die Freiheit aller am besten verteidigt ist, wenn die Freiheit des Einzelnen maximiert ist, muss deshalb schon länger ein Beklemmungsgefühl empfinden.
Unübersehbar kulthafte und autoritäre Züge jedenfalls kennzeichnen seit Längerem Teile der Klimabewegung, der Genderdebatte sowie die Diskussion über die Migration und den Islam. Es gibt Heiligenverehrung (Greta), Bekenntnisformeln ("Klimakatastrophe" statt Erderwärmung), codierte Symbole (die Intersex Progress Pride Flag zu verstehen, erfordert ein wenig Einarbeitung) und, am wichtigsten, Fluchformeln, die gegen Häretiker ausgestoßen werden: Klimaskeptiker, Terf, Menschenfeind, antimuslimischer Rassist. Es ist eine durchaus beeindruckende Denunziationsdominanz, die da aufgebaut wurde. Klar, dass kaum jemand in Reichweite dieses Diffamierungsarsenals kommen möchte.
In der Klimadebatte etwa könnte er sagen: Die Erderwärmung muss so schnell wie möglich gebremst werden. Um dies in einer Welt zu schaffen, in der immer mehr Menschen immer mehr Energie verbrauchen werden, müssen Erneuerbare so billig wie möglich werden. Dazu sind wir auf einem ganz guten Weg. Die Preise für Solarstrom sind in den vergangenen zehn Jahren um das Zehnfache gefallen, die für Windstrom um mehr als zwei Drittel. Das zeigt: Greta irrt. Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung.
In der Gender- und Minderheitendebatte könnte der Liberalismus diesen Punkt wagen: Hinter der Forderung nach Vielfalt verbirgt sich oft ein neues Gruppendenken, das davon ausgeht, dass eine Gesellschaft bunt wird aufgrund unterschiedlicher Hautfarben und sexueller Orientierungen. So sehr es richtig ist, Diskriminierung anzuprangern, wo sie stattfindet: Menschen sind keine Lego-Figuren. Gesellschaften werden bunt durch freie und unterschiedlich denkende Individuen, egal, wie sie aussehen oder mit wem sie schlafen.
In der Migrationsdebatte: Flüchtlinge haben Anspruch auf Schutz. Die eigene Bevölkerung aber auch. Um beides übereinzubringen, darf es keine unkontrollierten Einreisen geben.
In der Islamdebatte: Menschen, die die Grundlagen unserer freiheitlichen Gesellschaft ablehnen, etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter oder den Vorrang der Redefreiheit gegenüber religiösen Gefühlen, müssen entschlossene intellektuelle, politische und rechtliche Gegenwehr zu spüren bekommen. Wenn der Islam zu Deutschland gehört, gehört auch die Islamkritik dazu, und antimuslimischer Rassismus ist ein Nonsens-Begriff, es sei denn, man versteht Religion als ein unveränderliches Merkmal, was extrem illiberal wäre.
Der Lappen-Liberalismus - Zeit
Natürlich bestätigen auch bei den Liberalen Ausnahmen die Regel. Eine einsame Ruferin in der Wüste ist Linda Teuteberg, die das vertritt, was die (ehemalige) Basis der Partei immer noch für richtig hält. Ich habe nie einen Hehl aus meiner liberalen Grundeinstellung gemacht. Gleichzeitig bin ich einer der schärfsten Kritiker der sich als liberal verstehenden Partei, die ich im derzeitigen Zustand für überflüssig halte. Trotzdem wäre eine konsequent liberale Partei in einer Zeit, in der freiheitsfeindliche Bewegungen aller Richtungen immer stärker werden, wichtiger denn je.
Das ist eine Zustandsbeschreibung.
Die von einigen wahlweise geleugnet oder faktisch ignoriert wird. Was daher fehlt, ist eine tragfähige Strategie zum Umgang mit Migration. Die Menschen in Deutschland haben ein Gespür dafür, dass dieselben politischen Kräfte, die bei Themen wie Klimaschutz einen unheimlichen Gestaltungsanspruch haben, bei klassischen Kernaufgaben des Staates wie innerer Sicherheit und Migrationskontrolle seltsam fatalistisch sind. Illegale Migration einfach hinzunehmen, wird als alternativloser Pragmatismus verkauft. Kontrollverlust ist aber nicht fortschrittlich.
Es gibt von links bis in die Mitte hinein die starke Tendenz, immer nur von einer Bringschuld der Aufnahmegesellschaft auszugehen und Wunschzettel zu formulieren, was diese noch alles tun und finanzieren müsse. Fragen der Integrationsbereitschaft und die legitimen Interessen des Aufnahmelandes, die eigene innere Sicherheit und Liberalität zu bewahren, werden kaum thematisiert. Ein liberaler Rechtsstaat, der sich selbst ernst nimmt, darf nicht hinnehmen, dass seine Regeln und seine ungeschriebenen Voraussetzungen missachtet werden.
Was meinen Sie mit «ungeschriebenen Voraussetzungen»?
Der freiheitliche, säkulare Verfassungsstaat ist auf Voraussetzungen angewiesen, die er selbst nicht garantieren kann. Dazu gehört die unbedingte Akzeptanz des Gewaltmonopols des demokratischen Rechtsstaates. Zudem setzt Hilfsbereitschaft selbstverständlich voraus, dass man diejenigen, deren Schutz man in Anspruch nimmt, nicht über seine Identität täuscht und schädigt. Ein robuster Liberalismus muss sich damit auseinandersetzen, dass wir manches nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen können.
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes. Florence Gaub macht sich Gedanken über die Zukunft. Nicht alle Ansichten teile ich, aber der Ansatz gefällt mir.
Florence Gaub arbeitet als Zukunftsforscherin für die NATO. Sie untersucht, wie man aus einer potenziell schlechten Zukunft eine gute machen kann. Aus ihrer Sicht braucht es dafür drei wichtige Eigenschaften. Eine davon: Weisheit.
Mit Weisheit in ein besseres Morgen - Deutschlandfunk
Michael Wolffsohn spricht beim Deutsch-Amerikanischen Institut in Heidelberg über alten und neuen Antisemitismus.
Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz!“, hört man derzeit immer wieder entschieden aus der Politik. Doch was wir erleben, ist etwas anderes. Statt „Nie wieder!“ ist es ein „Schon wieder!“, und zunehmend ist der Antisemitismus nicht nur rechtsextrem, sondern habe, so Wolffsohn, „Geschwister“ bei Linksextremisten, deren linksliberalen Unterstützern sowie bei muslimischen Antisemiten. Die Reaktionen auf die Mordorgie der Hamas am 7. Oktober 2023, die einen wirklichen Bruch darstellt, hat Wolffsohn in sehr persönlichen Texten verarbeitet. Sein jüngstes Buch (2024) ist eine scharfe Abrechnung und ein leidenschaftlicher Aufruf, auf kurzlebige Empörung zu verzichten und stattdessen politische und gesellschaftliche Konsequenzen aus dem alten und neuen Antisemitismus zu ziehen. Prof. Dr. Michael Wolffsohn, geboren 1947, ist Historiker und Publizist. Er lehrte Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München und erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. 2018 der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen. Einführung: Prof. Dr. Johannes Becke, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
Kultur
Jörg Scheller hat die Band Body Count in Zürich gesehen. Der Bericht geht, wie nicht anders zu erwarten, weit über “Und dann haben sie Song XYZ gespielt.” hinaus. Deshalb sei er hiermit zur Lektüre empfohlen. Ich habe die Band in meiner Jugend mehrmals live gesehen und kann das Geschriebene gut nachvollziehen.
Seit Jahrzehnten verficht der Rapper Antirassismus ohne identitäres Scheuklappen-Denken. Anstatt Menschen mit immer mehr Identitäts-Labels zu markieren und zu klassifizieren, auf dass sie von Kulturkämpfern gegeneinander ausgespielt werden, kombiniert er altlinken Klassenkampf und Universalismus mit liberalem Empowerment: Arbeite hart, gefalle dir nicht in der Opferrolle! Rassismus ist für ihn nur eine Chiffre für Machtstreben; Armut und Machtlosigkeit sieht er als das wahre Problem.
Die Rechte hat sich alles Mögliche von der Linken aneignen können, von Kapitalismuskritik über Identitätspolitik bis zu gegenkultureller Ästhetik – nicht aber den Universalismus. Ausgerechnet der wird in diskursmächtigen Teilen der Neuen Linken heute als «westliches Konstrukt» und Feigenblatt einer imperialistischen Haltung denunziert.
«Momma» erzählt die Geschichte eines Schwarzen, dessen Mutter seine weisse Freundin ablehnt. Während heute wie ein Mantra betont wird, es gebe «keinen Rassismus gegen Weisse», wusste es Ice-T damals schon besser: Es gibt ihn sehr wohl! Weil Menschen nicht in Statistiken leben, sondern in konkreten Situationen.
Ice-Ts Anliegen: Wiederholt nicht die Fehler der alten Rassisten, macht es anders und besser! In «No Lives Matter», einem Höhepunkt des Auftritts in Zürich, stellt der Rapper klar: «Ehrlich gesagt geht es nicht nur um Schwarze / Es geht um Gelbe, um Braune, um Rote / Es geht um alle, die kein Geld haben / Auch um arme Weisse, die sie ‹Trash› nennen.» Diese universelle Botschaft ist rar geworden, vor allem wenn sie mit dem Lob der Eigenverantwortung einhergeht.
Im Rückblick war es ein Glück, in den 1990er Jahren als Teenager mit Ice-T und Body Count sozialisiert zu werden. Man baute seine antirassistische Haltung nicht über politische Korrektheit auf, sondern über das Gegenteil. Body Count bot kein Sensibilitätstraining, vielmehr verletzte die Band konsequent alle Gefühle – die von «weissen» Rassisten wie auch die von akademischen Feministinnen.
Coverversion der Woche: Frank Sinatra - Strangers In The Night
Heute im Jahr 1980 starb Bert Kaempfert. Das erleichterte die Auswahl.
„Strangers in the Night“ wurde von Bert Kaempfert ursprünglich mit dem Titel Beddy Bye” komponiert. Die englischen Texte lieferten später Charles Singleton und Eddie Snyder. Das Instrumental für den Film “A Man Could Get Killed.” wurde 1966 durch Frank Sinatra bekannt. Dessen Sinatras Aufnahme erreichte Platz 1 sowohl der Billboard Hot 100-Charts als auch der Easy Listening-Charts. Gleichzeitig war es Nr. 1 der britischen Single-Charts.
Der Erfolg des Liedes führte zur Veröffentlichung des gleichnamigen Albums, welches bis heute Sinatras kommerziell erfolgreichstes Album ist. Er gewann dafür die Grammy Awards “Beste männliche Pop-Gesangsdarbietung”, “Schallplatte des Jahres” und “Bestes Arrangement mit Begleitung eines Sängers oder Instrumentalisten”.
Epilog
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