Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #15
Am 11. September 2001 saß ich in meinem Büro in Hamburg und telefonierte. Während dieses Telefonats kam ein kreidebleicher Kollege ins Zimmer und sagte zu mir:”Mach mal den Fernseher an.”. Ich beendete das Gespräch, drückte auf die Fernbedienung und konnte nicht fassen, was ich sah. Im Laufe des Tages flogen zwei Passagiermaschinen ins World Trade Center, welches daraufhin einstürzte, und eine ins Pentagon. Es starben mindestens 2.989 Menschen. Grund für den, von Osama bin Laden geplanten, Anschlag war laut eigenen Aussagen die Anwesenheit militärischer Truppen der USA im nahen und mittleren Osten. Es gab allerdings noch eine weitere Komponente. Das World Trade Center wurde nicht zufällig als Ziel gewählt. Es war ein Symbol westlicher Werte/Lebensweisen (Kapitalismus, Religionsfreiheit, Individualismus, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, etc.), die von Islamisten in Gänze abgelehnt werden. Die Tatsache, dass sich die USA seit der Präsidentschaft Obamas immer weiter aus den oben genannten Regionen zurückziehen, islamistische Anschläge allerdings nicht weniger werden, spricht dafür, dass es mindestens genau soviel um einen Angriff auf den verhassten, als dekadent verschrienen Westen ging, wie um militärische Aspekte.
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Es gibt Neuigkeiten bezüglich des “Appells für freie Debattenräume”, den auch ich unterzeichnet habe und den ich nach wie vor für richtig halte. Einer der Initiatoren, Milosz Matuschek, hat aktiv der Zweitverwertung seiner letzten Kolumne für die NZZ auf der Internetseite des Verschwörungstheoretikers Kayvan Soufi Siavash, besser bekannt als Ken Jebsen, zugestimmt. Persönlich befremdet mich diese Enscheidung, denn der Feind meines Feindes ist nicht automatisch mein Freund. Mit solchen Leuten macht man sich nicht gemein. Damit hat er der Seriösität und Wahrnehmung dieses wichtigen Appells großen Schaden zugefügt und den Kritikern weiteres Futter geliefert. Unglaublich ärgerlich.
Nun aber los.
Diese Woche geht es unter Anderem um Demokratie und Identitätspolitik.
Politik/Gesellschaft
Ich hatte bereits über den offenen Brief von Greta Thunberg und Luisa Neubauer berichtet, welchen sie im Rahmen eines Treffens der Bundeskanzlerin überreichten. Einen Aspekt, den ich bisher noch nicht thematisiert hatte ist der, dass in diesem Brief ein weiteres Mal, zumindest indirekt, das Ende von Marktwirtschaft und Demokratie gefordert wird. Das war von Anfang an einer meiner Hauptkritikpunkte an “Fridays For Future”: Mit demokratisch-rechtsstaatlichen Mitteln sind die Forderungen der Bewegung nicht erfüllbar.
Wären sie wirklich ausschließlich am Klima interessiert (und nicht an der Abschaffung des Kapitalismus und der Erlangung von Macht), würden sie das Instrumentarium, dass der Wettbewerb und die Marktwirtschaft bieten, mit Augenmaß aufgreifen. Gerade das große Innovationspotential von privaten Unternehmen würden sie anzapfen wollen – anstelle eines statischen Command-and-Control-Denkens. Wenn die Rahmenbedingungen richtig gesetzt sind, werden unternehmerische Typen zu Treibern des Klimaschutzes, und das sogar mit der Aussicht auf gute Einkommen. Schaffen wir Marktwirtschaft und Rechtsstaat ab, werden diese Typen zu Unterlassern – dem Klima wäre nicht geholfen.
Braucht Klimaschutz die Diktatur? - WirtschaftsWoche
In Bezug auf die Demokratie ist auch die Tatsache interessant, dass die hessische Linken-Fraktionsvorsitzende Janine Wissler Parteichefin werden möchte. Das ist deshalb erwähnenswert, weil Wissler bis vor ein paar Tagen Mitglied in zwei Parteiorganisationen (Marx21, Sozialistische Linke) war, die vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuft und beobachtet werden. Nun hat sie diese Gruppen verlassen. Man kann davon ausgehen, dass das ein rein taktisches Manöver war, denn die Weltanschauung legt man mit einem Austritt natürlich nicht ab. Das zeigt auch eine persönlichen Stellungnahme (Screenshot und Link liegen mir vor.) dazu, die Bände spricht:
Ich kandidiere als Parteivorsitzende, da ist es üblich und richtig, die Mitgliedschaft in innerparteilichen Strömungen zu beenden. Das war für mich eine Selbstverständlichkeit. Die Einschätzung des sogenannten Verfassungsschutzes spielt dabei überhaupt keine Rolle.
Die Formulierung “sogenannter Verfassungsschutz” und der Hinweis darauf, dass dessen Einschätzung für nicht von Relevanz sei, lässt keine Fragen offen. Dass solche Leute in der Partei nicht nur geduldet, sondern sogar als Kandidaten für den Parteivorsitz in Betracht gezogen werden, ist ebenfalls vielsagend.
Ziel von Marx21 ist es, auf die Überwindung des Kapitalismus hinzuwirken. Statt mitzuregieren, setze man auf Massenbewegungen, die bereit und in der Lage seien, "die herrschende Klasse zu enteignen und den bestehenden, undemokratischen Staatsapparat durch Organe der direkten Demokratie zu ersetzen".
Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Eckhard Jesse ist Marx21 klar verfassungsfeindlich, weil die Gruppe auf einen revolutionären Wandel setze. Zwar habe der Kapitalismus keinen Verfassungsrang, sagt Jesse. Damit bestätigt er ein Argument, das auch die Linken in dieser Debatte oft bemühen, um zu belegen, dass sie quasi zu Unrecht vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Allerdings mache das Netzwerk auch deutlich, dass der Kapitalismus nicht durch Parlamentsabstimmungen überwunden werden könne. Dies lege die Schlussfolgerung nahe, dass die gesellschaftliche Veränderung durch Gewalt erreicht werden solle, sagt Jesse. Marx21 trete zudem entristisch auf, das heißt, es tarne seine eigentlichen Absichten und Ziele.
Janine Wissler beendet Mitgliedschaft in Netzwerk Marx21 - Die Zeit
Auch die AfD, hat erneut bewiesen, dass sie mitnichten eine Alternative ist. Bei der Ehrung der Polizisten, welche die Reichstagstreppe wacker gegen die Erstürmung der wirren Horden verteidigten, gab es im Plenarsaal stehende Ovationen. Nur die AfD, die sich oft und gern als “Rechtsstaatspartei” bezeichnet, blieb sitzen. Nicht das erste Mal, dass man hier die Abwesenheit einer Kinderstube attestieren muss. Man wollte es sich wohl nicht mit dem Teil der Wählerschaft (Den man offensichtlich als relevante Größe einschätzt.) verscherzen, der diesen “Sturm auf den Reichstag” guthiess.
"Was in den Köpfen der AfD-Abgeordneten vorging, kann ich mir nicht erklären, zumal aus dieser Partei sonst immer andere Signale an die Polizei gesendet werden", sagt Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft.
"Da scheint es die Erwartungshaltung zu geben, dass die Polizisten mit markigen Sprüchen zufrieden zu stellen sind, während echte Zuwendung und das Bekenntnis zu den Einsatzkräften als Menschen fehlen." Wenn es signifikante Sympathie aus den Reihen der Polizei für die AfD jemals gegeben hat, "hat sie es nicht zuletzt mit diesem Verhalten verspielt."
Auch der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek attackiert die AfD: "Im Einsatz der Polizisten zeigt sich wahre Verfassungs- und Staatstreue. Sitzenbleiber offenbaren ihre Geringschätzung gegenüber der Hingabe für unser Land."
Polizei attackiert "Sitzenbleiber" der AfD - Tagesspiegel
Im Zusammenhang mit dem Reichstagstreppenaufstieg hat sich auch der immer lesenswerte Alan Posener geäussert. Er schaut in die Vergangenheit und zieht Vergleiche zu früheren Entwicklungen und Tohuwabohu. Ich bin froh, dass die “Zeit” - zumindest in Teilen - langsam wieder zu alter Größe zurückfindet.
Kurz und gut: Wir haben 2020, nicht 1933, und auch nicht 1968. Eine alternde Republik macht keine Revolutionen. Überhaupt waren die Demonstrationen in Berlin mindestens genauso stark von Althippies geprägt wie von Neonazis. Auch das darf man nämlich nicht vergessen: Das Misstrauen gegen Autoritäten und Experten, Technik und "Schulmedizin", die Begeisterung für allerlei Propheten und Quacksalber, für eine verklärte Natur und "alternative" – sprich wirkungslose – Medizin ist ja ebenso ein Erbe von '68 wie der Glaube an eine umfassende mediale Manipulation des dummen "Mainstreams" durch eine globalkapitalistische Elite. Das Berliner Wochenende der Maskengegner und Impfskeptikerinnen war voller Flashbacks, auch an die Anfänge der Grünen, als Ex-Spontis und Ökofaschisten zusammenfanden.
So nah ist das Ende nicht - Die Zeit
Am 28. September wird der Essay „Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen“ von Wolf Lotter, Mitgründer des Wirtschaftsmagazins “Brand Eins” erscheinen. Eine Zusammenfassung des Textes war nun vorab zu lesen. Ich unterschreibe jedes Wort.
Es bedarf nicht des falschen Stolzes der Experten und Fachidioten, sondern eines geradezu missionarischen Eifers in der Darstellung der eigenen Arbeit. Das ist ja ein Grund für die allgegenwärtige Entfremdung, nicht nur in Organisationen, auch in der Politik, in den Gesellschaften und ihren Teilen. Es fehlt an Grundlagenwissen über Wirtschaft, Finanzen, Technologien, die wir täglich nutzen. Blackboxes, wohin das Auge reicht. Ursprünglich nutzte man den Begriff im Militär, wo man Sprengfallen an Kommunikationseinrichtungen anbrachte, falls die mal dem Feind in die Hände fallen.
So verhalten sich heute viele Fachidioten. Sie behaupten Relevanz, aber sie können sie nicht darstellen, sie wähnen sich als Wissensarbeiter und sind doch nur die Bewohner geschlossener Anstalten, ein Silo neben dem anderen, jeder unzugänglich für den Nachbarn. Die wohlständige Erbengeneration hat keine Lust, sich mit all den schwierigen Fragen auseinanderzusetzen, die vielleicht etwas Licht ins Dunkel ihrer Kapitalismuskritik brächten: nämlich was Marktwirtschaft für die Menschen getan hat und nach wie vor tut.
Diskurse setzten voraus, dass die Silos, die neuen Geschlechtertürme der Identitätspolitik und der Identitären, sich auf ein wenig Aufklärung und humanistische Bildung einigen, Zusammenhänge herstellen, die nicht der Selbstbestätigung, sondern dem Wissenserwerb dienen. Context is king. Zusammenhänge tragen den demokratischen Grund-Code von Lösungen und notwendigen Kompromissen in sich, sie liefern Sinn und Zweck, wo bisher nur Angst und Vorurteil herrschen. Statt identitärer Abgrenzung geht es um soziale Erweiterung.
Es ist Zeit, die Lager der Identitätspolitik zu verlassen - Welt
Seit Jahren weise ich darauf hin, dass Extremismus per se abzulehnen ist. Völlig unabhängig davon, ob er politisch oder religiös motiviert ist. Leider wird gesamtgesellschaftlich wenig über Linksextremismus diskutiert. Es scheint immer noch der Gedanke vorzuherrschen, dass dieser weniger schlimm, weil ja für “das Gute” sei. Das ist nicht nur historisch, sondern auch auf der Grundlage aktueller Fakten falsch. Natürlich kann man Extremismen nicht inhaltlich gleichsetzen, das tut aber auch niemand. Die Juristin und Publizistin Liane Bednarz hat im Spiegel einen sehr klugen Gastbeitrag dazu geschrieben, der leider am vergangenen Wochenende eine traurige Aktualisierung erfuhr, als drei Tage lang Linksextremisten in Leipzig randalierten.
Um es klar zu sagen: Gewalt ist niemals ein probates Mittel gegen Rechte, auch nicht gegen Rechtsextremisten. Wer sie relativiert, stellt das staatliche Gewaltmonopol ebenso infrage wie rechte Gewalttäter dies tun. Gleiches gilt für verständnisvolle Äußerungen bei Angriffen auf AfD-Vertreter, etwa dergestalt, diese seien selbst schuld daran und erhielten nur die Quittung für Hass und Hetze. So kann, so darf niemand reden, dem die freiheitlich-demokratische Grundordnung etwas wert ist. Wer es dennoch tut, übernimmt letztlich die Pseudologik von Rechtsextremisten, die ganz ähnlich denken und sich im "Widerstand" oder einer Art "Notwehr" wähnen.
Wer die liberale Gesellschaftsordnung stärken und in der Auseinandersetzung mit autoritären Rechten glaubwürdig bleiben will, darf nicht mit zweierlei Maß messen. Selbstermächtigungen zur Gewalt sind in einem Rechtsstaat vorbehaltlos zurückzuweisen, ganz egal, aus welcher Richtung sie kommen und gegen wen sie sich richten. Das gilt auch für Gewaltandrohungen gegenüber Gastwirten, die Räume an die AfD vermieten wollen und ebenso für linksextremistische Ausschreitungen gegenüber Polizisten wie in der letzten Silvesternacht in Leipzig-Connewitz. Überhaupt ist beim Linksextremismus genauer hinzusehen, als das heute geschieht. Mehr noch: Die Relativierungen müssen endlich aufhören.
Gewalt darf niemals Argumente ersetzen - Der Spiegel
Der Deutsche Presserat hat in Bezug auf die TAZ-Kolumne, in der eine Autorin Polizisten mit Müll gleichsetzte klargestellt, dass Hass doch eine Meinung ist. Daran werde ich in Zukunft an geeigneter Stelle erinnern.
Der Deutsche Presserat hat Beschwerden gegen die umstrittene Kolumne „Abschaffung der Polizei: All cops are berufsunfähig“ in der taz als unbegründet zurückgewiesen. Das Gedankenspiel der Autorin, der als geeigneter Ort für Ex-Polizisten nur die Mülldeponie einfällt, ist von der Meinungsfreiheit gedeckt.
taz-Polizeikolumne verstößt nicht gegen den Pressekodex - Deutscher Presserat
Bei der Diskussion um Verschwörungstheorien und Faktenleugnung bezüglich Covid-19 traut sich kaum noch jemand darüber zu sprechen, dass es durchaus auch berechtigte Kritik an der Informationspolitik und bestimmten Maßnahmen gibt. Niemand möchte mit Menschen in einen Topf geworfen werden, die Tatsachen bestreiten. Dennoch wäre es dringend notwendig, endlich seriös über dieses Thema zu sprechen.
Ich empfinde keinerlei politische Sympathie für die Corona-Protestierenden, die sich vergangenen Samstag in Berlin von Rechtsextremen die Aufmerksamkeit haben stehlen lassen und sich von Nazis nicht abzugrenzen wissen. Paradoxerweise lenken die medienwirksamen, doch in weiten Teilen hohlen Proteste von den wirklichen Problemen dieser Krise ab. Meist hört man nur krudeste Theorien vor den Kameras und winkt ab. Verschenkt ist der Raum für wichtige Kritik und schwierige Schicksale. Vielleicht wären weniger Bürger auf Verschwörungszyniker hereingefallen, wenn es schon früher kluge kritische Stimmen gegeben hätte.
Das Schweigen - Süddeutsche Zeitung
Kultur
Lennart Adam schreibt herrlich über seine kulinarische Vergangenheit in Ostfriesland.
Zum Schneiden der Wurst holte mein Opa dann sein altes Klappmesser aus der Tasche seiner Cordhose, dessen Klinge durchs jahrelange Schärfen schon rund die Hälfte ihrer ursprünglichen Breite eingebüßt hatte. „Das ist das Messer von meinem Vater, damit hat er sich und uns morgens die Fußnägel geschnitten und abends Pümmelwurst“, hat er irgendwann stolz erzählt, woraufhin ich begann, die Wurst selbst zu schneiden. Mit dem Küchenmesser.
Was für ein kulinarisches Glück, Ostfriese zu sein!
Coverversion der Woche: Cindy & Bert - Der Hund Von Baskerville (1971)
Viele finden diese obskure Version sogar besser, als das Original von Black Sabbath aus dem Jahr 1970, was ich durchaus nachvollziehen kann. Aufmerksamen Lesern ist zudem aufgefallen, dass ich die Coverversion von letzter Woche bereits zum zweiten Mal gebracht habe. Vielleicht sollte ich mal eine Liste machen.