Prolog
Letzte Woche teilte der aktivistische Blog “Volksverpetzer” mit, dass er die Gemeinnützigkeit verloren habe. Der Aufschrei lies nicht lange auf sich warten, das gesamte Repertoire ritualisierter Empörungsformen wurde ausgeschöpft. Ich dagegen wunderte mich darüber, dass diese Publikation jemals gemeinnützig war. Meiner Meinung nach erfüllt sie keine der dafür notwendigen Kriterien. Es fielen mir noch weitere journalistisch unsauber arbeitende, politisch einseitig agitierende Medien ein, die ebenfalls keine Steuervorteile erhalten. Gut so. Interessant war auch, dass sich vor allem Menschen über diesen Umstand beschwerten, die sonst entschieden gegen Steuererleichterungen argumentieren. Es kommt eben immer darauf an, um wen es sich handelt. Eine ähnliche Doppelmoral ist auch bei der Diskussion über Gewalt gegen Politiker oder dem Verhältnis zum Rechtsstaat im Allgemeinen zu beobachten. Bei letzterem ist der selektive Verweis auf ihn hochgradig entlarvend.
Was mich nicht überraschte: Dass Angela Merkel lieber die Abschiedsfeier von Jürgen Trittin , einem der einflussreichsten linken Akteure in Deutschland, besucht, als Veranstaltungen ihrer eigenen Partei beizuwohnen. Zu glauben, dies sei ohne Hintergedanken geschehen, hieße, sie erneut zu unterschätzen. Davon hat sie immer profitiert. Dieser Termin war eine einmalige Gelegenheit, vor der gesamten grünen Machtprominenz zu sprechen. Ich habe nie in das Merkel-Bashing eingestimmt, weil ich sie, bei aller Kritik, für eine geniale Strategin halte.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Identität, Meinungsfreiheit und Debatte.
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Politik und Gesellschaft
Heiß diskutiert werden im Moment angebliche Gender-Verbote, die bei näherer Betrachtung gar keine sind. Was es gibt, ist ein nachvollziehbares Gebot, sich in öffentlichen Institutionen (z.b. Universitäten, Schulen oder Behörden) an die amtliche Rechtschreibung zu halten. Wie im Privaten gesprochen wird, ist auch weiterhin jedem selbst überlassen. Leider sitzen in der aktuellen Bundesregierung mehr Aktivisten, als je zuvor. Diese versuchen natürlich ihre ideologischen Ziele zu verwirklichen. Die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes hat nun ein fragwürdiges Gutachten vorgelegt.
Wie dieses Gefälligkeitsgutachten der anonym bleibenden Hausjuristen aus rechtlicher Sicht einzuschätzen ist, das können Rechtswissenschaftler sicher am besten beurteilen. Aber auch als Laie erkennt man schnell, dass die juristischen Argumente nur vorgeschoben sind und es in Wirklichkeit um etwas anderes geht. Worum, das erwähnt Ataman sogar selbst, wenn sie sagt: „Die sogenannten Genderverbote … dienen einem Kulturkampf auf dem Rücken von Minderheiten.“ Richtig, es geht um Kulturkampf; doch der wurde von denjenigen ausgerufen, die das Gendern – also das explizite Miterwähnen der grammatisch weiblichen Form oder das Verwenden von Gendersternchen, in der linguistisch irrigen Annahme, das generische Maskulinum mache Frauen und sogenannte Nonbinäre „unsichtbar“ – zur neuen Norm erheben wollen, gegen jede Sprachlogik und -ökonomie und gegen den Wunsch der überwiegenden Mehrheit aller Sprecher: Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, gendert im privaten Gespräch.
Eine woke und aktivistische Minderheit will der Mehrheit einen veränderten Sprachgebrauch aufzwingen. Dem Schutz der Mehrheit vor solchem Zwang und der Durchsetzung ihres Rechts, im Sprachgebrauch weiterhin Common Sense walten zu lassen, dienen Gesetze wie etwa das bayerische Gender-Verbot. Denn dass es in Schulen, Unis und Medien doch jedem selbst überlassen bleiben soll, ob er denn gendern wolle oder nicht, ist zwar eine schöne liberale Idee, die sich aber als realitätsfern erweist angesichts eines De-facto-Zwangs, die neuen Gender-Formen zu verwenden, wenn man etwa als Schüler gute Noten oder als Student einen Schein für seine Hausarbeit bekommen will. Auch das Recht, in öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen oder in Behördenschreiben nicht passiv dem auftrumpfenden Gendern ausgesetzt zu sein, lässt sich offenbar nur noch durch neue Gesetze schützen. Schwerer noch wiegt der Schutz von Kindern oder ausländischen Sprachschülern vor dem Erlernen von unnötig schwerfälligem oder schlicht falschem Deutsch.
Es tritt nämlich das ein, was der britisch-amerikanische Historiker Robert Conquest als eines seiner „drei Gesetze der Politik“ formuliert hat: „Jede Organisation, die nicht ausdrücklich rechts ist, wird früher oder später links.“ In einer Organisation mit anfänglich pluralistischer Mitarbeiterschaft tendieren Linke nämlich zur Cliquenbildung, nehmen die moralische Oberhoheit für sich in Anspruch, sorgen bei Neueinstellungen dafür, dass nur noch Ihresgleichen Jobs bekommen, und widmen sich fürderhin nur mehr der Durchsetzung ihrer Interessen statt dem ursprünglichen Zweck der jeweiligen Organisation. Schulen und Universitäten dienen dann nicht mehr in erster Linie der Bildung, das Fernsehen nicht mehr der Information und Unterhaltung, die öffentliche Verwaltung nicht mehr dem Dienst am Bürger, sondern der Belehrung, Zurechtweisung und Indoktrinierung – in diesem Fall durch die Verwendung von Gender-Sprache.
Es geht um Kulturkampf - Cicero
Jürgen Kaube hat einen lesenswerten Artikel über Meinungsfreiheit geschrieben. Als Anlaß dient ihm der Diskurs über den Nahostkonflikt, der nicht nur in Deutschland immer groteskere Formen annimmt. Bemerkenswert, dass er einen - bezüglich dieses Themas leider falsch abgebogenen - Feuilleton-Redakteur mehrfach nicht erwähnt. Im Neudeutsch der sozialen Medien, nennt man das “Nonmention”. Ich kann mich mich an keine derartigen Watschen eines Herausgebers in letzter Zeit erinnern.
Diese Einstellung kennzeichnet derzeit den Diskurs. Es gibt Zeitgenossen, die sich an der Diskussion um Israel vor allem als Advokaten beteiligen. Das heißt: Sie fragen nicht nach den Tatsachen, sondern nur noch danach, welches Recht jemand hat, irgendetwas zu behaupten. Alles Recht natürlich. Man darf auch sagen, die Juden strebten die Weltherrschaft an. Kein Gedanke, aber eine Meinung. Wenn bei Demonstrationen antisemitische Äußerungen fallen, empfiehlt der Direktor des Hamburger Max-Planck-Instituts für internationales Privatrecht, Ralf Michaels, solle man keine Strichlisten führen. Will sagen: Solche Demonstrationen sind für ihn auch dann absolut geschützt, wenn es solche Äußerungen gibt. Ob er mit demselben Engagement auch für Demonstrationen eintreten würde, bei denen Nazis mitdemonstrieren, bleibt eine offene Frage.
Typisch für Einlassungen wie die von Michaels ist, dass ihnen vorangestellt wird, man schließe sich selbst den Meinungen, deren Freiheit man schützen möchte, durchaus nicht an. Man gibt sich neutral. Man teile die Ansichten des BDS nicht, der Boykottbewegung gegen Israel, heißt es regelmäßig, bevor insistent dafür gestritten wird, dass ihre Boykottaufrufe legal seien. Ob sie auch legitim sind, einen Sinn haben, ein nachvollziehbares Argument beinhalten, bleibt unerörtert. Die Gedankenfreiheit haben wir, aber sind es auch Gedanken, die von ihr geschützt werden, oder nur dahingeredeter Unfug? Recht wohl, auch die Äußerung von Unfug soll geschützt werden, aber es ist kein Ruhmesblatt der Professoren und ihrer journalistischen Begleiter, nicht zu fragen, welche Qualität manche Redensarten haben, außer der, frei zu sein.
Die einzige Ansicht zu den Boykottaufrufen ist, sie seien legal. Rufen die Demonstranten, „From the river to the sea“ solle ein palästinensischer Staat den israelischen ersetzen, findet man, das sei kein Antisemitismus und insofern nicht volksverhetzend. Von den Ansichten der Palästinenser in Gaza wird abgesehen. Wird behauptet, „There is only one solution, intifada revolution“, führt die advokatorische Tiefenhermeneutik dazu, den Begriff der „Intifada“ von den Terrortaten zu lösen, die in seinem Namen begangen worden sind. Es könne damit auch etwas anderes als Terror gemeint sein. Wir wollen die Möglichkeit nicht ausschließen, aber ist damit etwas anderes als Terror gemeint?
Es heißt dann, solche Parolen seien „nicht notwendig“ mit der Zerstörung des Judenstaates verbunden. Dass sie empirisch auf das Ende Israels hinauslaufen und dass dieses Ende weltweit von den Antisemiten gewünscht ist, bleibt außer Betracht. Die Vorgänge um den Schlagerwettbewerb in Malmö, bei dem die bloße Tatsache, dass eine Teilnehmerin aus Israel kam, ausreichte, um sie auf ekelhafte Weise an den Pranger zu stellen, belegen diesen Antisemitismus. Es genügt, aus Israel zu kommen, um Aggressionen zu mobilisieren. Gegen die Sängerin wendeten sich auf widerwärtige Weise die Kandidaten aus den Niederlanden, der Schweiz, Irland, Norwegen und Griechenland. Weil es so Usus ist. Weil die euphemistische Betrachtung der Hamas und der Palästinenser bei der sich links wähnenden Jugend wie bei ihren in die Jahre gekommenen Unterstützern inzwischen zum argumentativen Standard gehört.
Man will das alles sagen dürfen, ohne antisemitisch genannt zu werden. Das alles sei nämlich nur eine Meinung. Und natürlich will man mit dem Judenhass der Rechten nichts zu tun haben. Für die Hamas, die unter europäischen Umständen nicht anders als faschistisch genannt werden könnte, will man aber durchaus Verständnis aufbringen. Dass irische Schlagersängerinnen an dieser Stelle verwirrt sind und Nonsens reden, ist von der Meinungsfreiheit gedeckt. Doch dass Professoren und Feuilletonisten in diesen Chor einstimmen, kann nur als Opfer ihres Intellekts gedeutet werden.
Ist die Meinungsfreiheit in Gefahr? - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Zur eingangs erwähnten Debatte um Gewalt gegen Politiker hat Sabine Rennefranz im “Spiegel” die richtigen Worte gefunden.
Die einzelnen Übergriffe werden benutzt, um sich mit eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zu positionieren und die eigene moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Woher kommt der Hass? Die Bereitschaft zum Zuschlagen? Es ist etwas anderes, am Handy ein Like bei einer rechten Gruppe zu setzen, als einem Menschen aus Fleisch und Blut ins Gesicht zu schlagen. Es braucht eine andere Desensibilisierung, eine Entfernung von den Werten einer Gemeinschaft, die nicht über Nacht entsteht. Dieser Unterschied scheint viel weniger zu interessieren.
Die gegenwärtige Gewaltwelle gegen Politiker ist keine neue Dimension, schreibt richtigerweise die Journalistin Antonie Rietzschel (»Leipziger Volkszeitung«). Sie erinnert daran, dass Bürgermeister vor allem in Sachsen und Thüringen seit Jahren mit psychischer und physischer Gewalt eingeschüchtert werden, auch die Coronapandemie habe viele Menschen radikalisiert. Wut und Frust schlagen schneller in Gewalt um, schreibt Rietzschel.
Dazu haben – nebenbei bemerkt – auch die Social-Media-Plattformen beigetragen, über deren Rolle bei der Polarisierung der Gesellschaft in Deutschland eine geradezu kindliche Naivität herrscht.
Die AfD nutzt den Frust und die Wut, sie verstärkt ihn, aber sie ist nicht die Ursache. In den vergangenen Jahren waren es überwiegend Vertreter der AfD, die der Hass traf und die Opfer von physischen Angriffen wurden. Das sorgte aber nicht für einen Aufschrei. Warum nicht?
Wer darauf hinweist, dass auch die Gewalt gegen die AfD ein Problem darstellt, dem wird Verharmlosung der Partei vorgeworfen. Das ist aber Teil des vergifteten Meinungsklimas.
Bevor gedacht wird, wird zurückgefeuert - Spiegel
Die kontraproduktive Moralisierung des Diskurses ist hier bereits häufig Thema gewesen und wird es in Zukunft noch oft sein. Sie ist es nämlich, die konstruktive Debatten verhindert. Philipp Hübl und Emilia Roig haben für das “Philosophie Magazin” darüber diskutiert. Raten Sie gern, wessen Argumente ich für schlüssiger hielt.
Hübl: […] Man weiß, dass unter den Wählern der AfD ein Teil rechtsextrem und völkisch-nationalistisch ist. Deren Gesinnung kann man wahrscheinlich nicht ändern. Aber die AfD wählen auch frustrierte Konservative und zurückgesetzte Protestwähler, die zunächst einmal ihren Unmut über die Eliten äußern, indem sie die Rechtspopulisten wählen. Wenn man nun all diese Menschen als „rechtsradikal“ aburteilt, hat das auch mit moralischer Selbstdarstellung im progressiven Lager zu tun. Wir wollen moralisch meist besonders klare Signale an unsere eigene Gruppe senden, wollen besonders „rein“ sein in unserer Botschaft. Das ist aber nicht immer der beste Weg. Wenn man Wähler zurückgewinnen will, sollte man strategischer denken. Wenn ein Mensch einmal geliebäugelt hat mit den Rechtsextremen, mit religiösem Extremismus oder Verschwörungstheorien, dann sollte man nicht sagen: Er darf nie wieder in die Gemeinschaft zurückkehren. Im Gegenteil, man sollte versuchen, die Leute zurückzuholen, zum Beispiel mit Aussteigerprogrammen.
Hübl: […] Man muss allerdings sagen, dass die moralische Identität für eine kleine Gruppe in der Außendarstellung besonders wichtig ist – das ist die kreative Klasse, also Leute, die in den Universitäten, in den Medien, im Kulturbereich, in innovativen Unternehmen arbeiten. Die meisten Menschen sind politisch eher uninteressiert, verfolgen auch nicht die Tagespolitik, aber für diese gebildete akademische Schicht ist die politische Identität Teil der moralischen Identität. Dementsprechend wollen sie ganz klare politische Signale senden. Das führt dazu, dass oft das Signal wichtiger ist als das eigentliche Problem, das man lösen möchte.
Hübl: Ich glaube auch nicht, dass es richtig ist, die Gesellschaft als ein Nullsummenspiel darzustellen, wo es Unterdrücker und Unterdrückte gibt, also die einen nur auf Kosten der anderen Privilegien genießen. Zumindest in der westlichen Welt hat das mit der Realität nichts mehr zu tun. Frauen beispielsweise sind in der westlichen Welt nicht unterdrückt. Im Gegenteil, sie leben länger, gesünder, und haben einen besseren Zugang zu Bildung als Männer und sie sind genauso zufrieden und fühlen sich sogar noch etwas freier als Männer in ihren Beziehungen.
[…] Und die größten empirischen Studien zeigen kein Patriarchat: Männer mit dem gleichen Lebenslauf werden deutlich seltener in Deutschland zu Jobs eingeladen als Frauen. Und eine der größten repräsentativen Studien hierzulande ergab, dass „nur“ etwa 5 Prozent der Frauen sagen, dass sie in den letzten zwei Jahren diskriminiert worden sind. Also auch nur ein kleiner Teil fühlt sich subjektiv benachteiligt. Die These von der großen Unterdrückung ist so nicht haltbar. In anderen Teilen der Welt ist das anders.
Hübl: Es gibt, glaube ich, folgendes Phänomen. Wenn eine Person eine moralische Aussage trifft, zum Beispiel: „Ich bin für die Einwanderung“, dann sagt sie nicht nur etwas über Einwanderung, sondern sie sagt auch etwas über sich selbst. Man kann gar nicht verhindern, dass man sich moralisch selbst darstellt. Wer sich empört oder etwas lobt, teilt anderen seine Werte mit. Jedes moralische Urteil ist auch ein Urteil über die Person selbst und wir wollen im Freundes- und Familienkreis anerkannt werden für unseren moralischen Charakter. Die digitalen Medien verstärken diese Tendenz noch, weil wir dort auch von Menschen umgeben sind, die uns nicht kennen. Um zu verhindern, dass uns Leute fehlinterpretieren und uns in die falsche Schublade stecken, senden wir besonders deutliche Signale der Zugehörigkeit. Und wir sind außerdem immer verlockt, es mit der Selbstdarstellung zu übertreiben. Das führt dazu, dass man sich nicht mehr die Frage stellt: „Wie machen wir die Gesellschaft wirklich gerechter?“, sondern dass es hauptsächlich darum geht, die richtigen Signale für die eigene Gruppe zu senden.
Sie verwenden für diese von der Selbstdarstellung geleitete Debatte in Ihrem neuen Buch den Begriff „Moralspektakel“.
Hübl: Genau, Moralspektakel meint: In der öffentlichen Diskussion geht es um die moralische Selbstdarstellung und weniger um die Lösung eines Problems. Ein Extrembeispiel sind Hashtag-Aktivisten, die nur noch tweeten, aber eigentlich gar nichts verändern wollen.
Übertreiben wir es mit der Moral? - Philosophie Magazin
Kultur
In der letzten Ausgabe thematisierte ich die Unterwanderung des Kunstbetriebs durch aktivistische Zeitgeistströmungen. Im Nachgang erreichten mich zahlreiche Mails von in diesem Bereich tätigen Menschen, die das ebenfalls als Problem empfinden. Auch der Literaturbetrieb kennt diese Umtriebe. In den letzten Jahren gab es immer wieder Vorfälle. Sei es die Diskussion darum, ob Weiße die Gedichte von Schwarzen übersetzen dürfen. Oder der Versuch das Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe der Biographie von Woody Allen zu verhindern. Nun haben Ronya Othmann und Juliane Liebert einen Artikel über ihre Erfahrungen in der Jury des Internationalen Literaturpreises, welcher vom Haus der Kulturen der Welt verliehen wird, geschrieben. Das Geschilderte entspricht dem von mir bereits Vermuteten.
Es wurde seitens des HKW großer Wert darauf gelegt, dass alles fair zugeht. Uns wurden dafür nicht nur die Bewertungskriterien des Preises in die Hand gedrückt, sondern auch beim ersten Treffen vorgelesen:
"Die Einreichungen werden nicht nach dem Ansehen von Autor / Übersetzer beurteilt, sondern nach der Qualität des Buches", hieß es da. "Die Einreichungen werden ohne Bevorzugung oder Vorurteile in Bezug auf Verleger, Herausgeber, Autor, Übersetzer, Nationalität, ethnische Zugehörigkeit sowie politische und religiöse Ansichten bewertet."
Auf dieser nach literarischen Kriterien erstellten Shortlist waren also: ein senegalesischer Autor, der auf Französisch schreibt und in Paris lebt, eine südkoreanische Autorin, die in den USA lebt, eine russische Autorin, die mittlerweile im Berliner Exil lebt, eine belarussische Autorin, eine mexikanische und eine französische. Es wären ein Mann und fünf Frauen nominiert gewesen.
Doch eine Jurorin war damit nicht einverstanden. Sie sagte, sie könne nicht damit leben, dass unter den Büchern mit jeweils zwei Punkten drei schwarze Frauen seien, die nun herausflögen, während eine weiße Französin (Mariette Navarro) in die Shortlist aufgenommen werde. Sie würde deswegen ihre Stimme von Navarro zurückziehen und einer der mit nur zwei Punkten herausgefallenen Autorinnen geben. Andere schlossen sich an. Einer sagte: "Ich will Über die See loswerden!" Auf einmal sollte abgestimmt werden, ob Mariette Navarro aus der Shortlist geworfen und ersetzt werden sollte, weil sie "eine weiße Französin" war.
Wir stimmten dagegen, aber wurden vier zu drei überstimmt. Dann kam die nächste Abstimmung: Die Mehrzahl der Jurymitglieder, die nun erfolgreich "die weiße Französin", die zuvor eine Favoritin war, abgewählt hatte, musste sich entscheiden, welche der Zwei-Punkte-Autorinnen stattdessen auf die Liste sollte. Die Wahl fiel auf Cherie Jones, deren Buch vorher einige als "Gewaltporno" und "netflixstyle" abgelehnt hatten. Aber es gab noch einen vierten Autor mit zwei Stimmen: Péter Nádas. Sein Buch hatte die Jury zuvor als Meisterwerk gehandelt.
Plötzlich befand sich die Jury in einer Diskussion, welches der beiden Bücher die geschasste Französin ersetzen solle. Von mehreren Juroren wurde beteuert, Péter Nádas habe mit Schauergeschichten ohne Zweifel das beste Buch geschrieben. Aber Nádas sei nun mal ein vom Feuilleton geliebter, privilegierter weißer Autor. Ronya O. sagte, aber Péter Nádas stamme doch aus einer jüdischen Familie, er habe obendrein noch einige Jahrzehnte real existierenden Sozialismus hinter sich, und auch jetzt in Viktor Orbáns Ungarn habe einer wie er wohl nicht viel zu lachen. Sie fand es zwar unangenehm, Derartiges ins Feld führen zu müssen, weil es ja nichts zur Sache tut, wenn es um die Qualität von Büchern geht, sie sah sich aber dazu gezwungen.
"Über die See muss raus, weil die Autorin eine weiße Französin ist", hieß es, und: "Leere Menge darf auf keinen Fall raus, weil wir sonst kein spanischsprachiges Buch haben." Außerdem: "Nádas ist der bessere Autor, aber politisch muss man halt Cherie Jones wählen." Drei Jurymitglieder beteuerten Ronya O. vorher und nachher, dass Nádas’ Buch das beste sei, dass keines an ihn heranreiche, aber er sei nun mal so etabliert, vom Feuilleton geliebt und ein weißer Mann. Ungarisch sei zudem so eine allgemein anerkannte Sprache.
Es stand jetzt drei zu drei – drei Stimmen für Cherie Jones, drei Stimmen für Nádas.
Die letzte Jurorin konnte sich nicht entscheiden: "Nádas ist der bessere Autor und hat eindeutig das bessere Buch geschrieben", sagte sie, "aber ich weiß ja, wie es ist, wenn ich immer mit Jürgen Kaube zugleich nominiert bin und dann immer der gewinnt." – "Nun, vielleicht ist Jürgen Kaube der bessere Autor und hat das bessere Buch geschrieben?" Diese Antwort konnte sich Juliane L. nicht verkneifen, woraufhin die Jurorin aufsprang und schrie: "Kein Grund, persönlich zu werden: Du als weiße Frau hast hier eh nichts zu sagen!" Dann gab sie ihre Stimme Cherie Jones. Die Shortlist war vollendet. Ein anderer Juror sagte zu Juliane L.: "Sorry, ich liebe Literatur, aber Politik ist wichtiger." An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass mehrere Mitarbeiter des HKW, die der Jurysitzung beiwohnten, sie auch moderierten. Doch hier, an der entscheidenden Stelle, in der die Kriterien des Preises nicht eingehalten wurden, griffen sie nicht ein.
Einige Wochen später fand schließlich die finale Jurysitzung statt, bei der der Preisträger ermittelt werden sollte. Wie wir bereits befürchtet hatten, kam es wieder zu politischen Überlegungen. Diesmal betraf es den verdienten Preisträger, auf den sich schließlich alle einigen konnten: ein Schwarzer, senegalesischer Autor, der von zwei Weißen übersetzt wurde, was einige für bedenklich hielten. Denn weiße Menschen könnten generell keine schwarzen Autoren übersetzen, irgendjemand wollte auch von einer Lesung gehört haben, bei der einer der Übersetzer wohl das N-Wort verwendet habe. Es hieß: "Ich kann nicht hinter einem Buch stehen, wo das N-Wort verwendet wird, selbst wenn es historisch korrekt ist." Zwar habe der schwarze Autor das N-Wort verwendet, um die Diskriminierung seiner Figur zu zeigen, die weißen Übersetzer dürften es aber nicht reproduzieren. Es ging noch ein wenig hin und her, schließlich wurde, trotz N-Wort und weißer Übersetzer, Mohamed Mbougar Sarr zum Preisträger gekürt.
Coverversion der Woche: Marianne Faithfull & David Bowie - I Got You Babe
Heute im Jahr 1946 wurde Cher geboren, was die Auswahl der Coverversion erleichterte.
Der Song wurde von Sonny Bono geschrieben und war die erste Single aus dem Debüt-Studioalbum “Look at Us” von Sonny & Cher. Die Auskopplung erschien im August 1965 und hielt sich drei Wochen lang auf der Nummer eins der Billboard Hot 100 in den Vereinigten Staaten, wo sie sich mehr als eine Million Mal verkaufte und mit Gold ausgezeichnet wurde. Auch in Großbritannien und Kanada erreichte sie Platz eins.
Am 16. November 1973 coverte David Bowie das Stück in der von ihm konzipierten Ausgabe von “The Midnight Special”. Diese Version mag ich vor allem wegen ihres bizarren Charms. Marianne Faithfull, die damals stark heroinabhängig war, ist offensichtlich so berauscht, dass es ein Wunder ist, wie gut sie performt. Zudem trägt sie ein Nonnenkostüm. Auch David Bowie - zwar anderweitig aber nicht minder ausgeklinkt - sticht durch ein auffälliges Kostüm hervor. Insgesamt ein grandioser Auftritt. Weil ich sowohl Faithfull als auch Bowie sehr schätze, bin ich diesbezüglich natürlich nicht objektiv.
Epilog
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