Prolog
Die Woche war wieder einmal voller relevanter Themen. Besonders stachen der “Equal Pay Day” und der Weltfrauentag hervor. Wie jedes Jahr wurden zu diesen Themen wieder zigfach widerlegte Behauptungen und grob irreführende Darstellungen verbreitet. Auf interessierte Milieus ist diesbezüglich Verlass. Es sind vor allem die Kreise, welche sonders besonders viel Wert auf Seriösität, Fakten und die Bekämpfung von Fake News legen, die, wenn es um die eigene Agenda geht, diese Grundhaltung schnell vergessen. Daran erkennt man weltanschauungsübergreifend Ideologen.
Ein beliebter rhetorischer Trick ist in diesem Zusammenhang, die Begriffe “Gleichberechtigung” und “Gleichstellung” synonym zu gebrauchen. Ersteres ist wichtig, letzteres weder erreichbar noch erstrebenswert. Nachdem das ursprüngliche Ziel des Feminismus die Gleichberechtigung der Geschlechter war, änderte sich die Zielsetzung mancher Strömungen später hin zur Gleichstellung.
Vielen reicht allerdings auch das nicht mehr aus, sie artikulieren die Forderung nach mehr. Die Steigerung von Gleichstellung wäre allerdings eine Umkehr (vermeintlicher) Verhältnisse. Damit entlarvt sich dieser Teil der Bewegung und disqualifiziert sich gleichzeitig für den seriösen Diskurs. Es ist zutreffend, dass bezüglich der Gleichberechtigung noch Optimierungspotential gibt. Die Existenz eines Patriarchats in der westlichen Welt zu behaupten, ist allerdings eine Verschwörungstheorie. Dass sich jemand benachteiligt fühlt, bedeutet zudem nicht, dass er tatsächlich benachteiligt ist.
Nur am Rande waren Forderungen nach der Freilassung der Frauen zu vernehmen, die sich immer noch in den Händen der Hamas befinden. Das ist bedauerlich, aber nicht überraschend. Die Frauen, die in Regionen mit tatsächlichem Patriarchat alltäglicher Unterdrückung ausgesetzt sind, werden vom westlichen Feminismus seit jeher weitgehend verschwiegen und somit im Stich gelassen. Der Grund dafür ist einfach: Die Anerkennung dieser Fakten kollidiert mit Teilen des Weltbilds. Psychologisch nachvollziehbar, moralisch abstoßend. Besonders ärgerlich ist, dass dieser Vulgärfeminismus dem wichtigen Anliegen der Gleichberechtigung einen Bärendienst erweist.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Wissenschaft, Debattenkultur und Übergriffigkeit.
Politik und Gesellschaft
Das “Netzwerk Wissenschaftsfreiheit”, welches sich - wie der Name bereits vermuten lässt - gegen die ideologische Einschränkung der Wissenschaft engagiert, sieht sich seit seiner Gründung regelmäßigen Diffamierungsversuchen ausgesetzt. Thomas Thiel kommentiert die neuesten Vorkommnisse. Ein weiterer Fall von Cancel Culture, die es ja gar nicht gibt.
Rauch liest sich voll Schrecken durch eine „beunruhigend lange Liste“ von Mitgliedern, deren Aktivitäten sie „mit tiefster Sorge erfüllen“, und ruft dazu auf, sich den gefährlichen, den Rechtsextremismus bestärkenden Narrativen des Netzwerks nicht zu beugen, als handele es sich um einen Kreis von Reichsbürgern, die gerade den bewaffneten Umsturz planten. Um keinen Zweifel daran zu lassen, dass jedes einzelne Mitglied in ihren Augen ein politischer Gefahrenherd ist, drückt Rauch ihre Sorge darüber aus, dass auch die TU Professoren des Netzwerks beherberge. Für jeden Wissenschaftler ist so ein Verdikt ein versuchter Todesstoß. Rauch verletzt damit nicht nur ihr Neutralitäts- und Fürsorgepflicht. Erstaunlicherweise verzichtet sie auch weitgehend auf Belege.
Inzwischen verbreitet sich die Stigmatisierung wie ein Lauffeuer. Ausgangspunkt war die Verleihung des Preises für Wissenschaftsfreiheit an Bernhard Kempen, den ehemaligen Präsidenten des Deutschen Hochschulverbandes. Vor dem Festakt wurde das Netzwerk von der Literaturwissenschaftlerin Kristin Eichhorn als demokratie- und wissenschaftsfeindlich denunziert. Auch Eichhorn nannte das Netzwerk nicht direkt rechtsextrem, warf ihm aber vor, das in ihren Augen irrige Narrativ der Cancel Culture zu bedienen, und forderte die gastgebende Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaft auf, das Netzwerk auszuladen, was deren Präsidenten Christoph Markschies in tiefe Verlegenheit stürzte. Am Ende lehnte er ab, weil sich das Netzwerk, wie er schrieb, sonst in der Behauptung gestärkt fühlen würde, dass im deutschen Wissenschaftsbetrieb gecancelt werde. Das Stigma war erfolgreich weitergereicht – an den Deutschen Hochschulverband. Dem wurde von Rauch und dem Historiker Jürgen Zimmerer nun in einem gemeinsamen Beitrag auf dem Blog des Wissenschaftsjournalisten Jan-Martin Wiarda vorgehalten, sich von dem Netzwerk nicht ausreichend zu distanzieren und Kristin Eichhorn kritisiert zu haben, und zwar dafür, dass sie das Netzwerk „akut demokratiegefährdend“ nennt.
Dass an den Hochschulen vor allem konservative und linksuniversalistische Positionen angegriffen werden, hat dem Netzwerk einen konservativen Ruf eingetragen, der nun von einer Universitätspräsidentin, die Differenzierungen nicht zugänglich ist, zum Extremismusverdacht ausgeweitet wird. Die Angriffe auf das Netzwerk gründen regelmäßig auf der Behauptung, die Rede von Cancel Culture sei nur ein „rechter Mythos“. Es genügt ein Blick auf die keineswegs erschöpfende Dokumentation des Netzwerks, um diese Behauptung selbst als Mythos zu entlarven. Dort finden sich Stellungnahmen gegen Bestrebungen der AfD, einen Pranger für woke Dozenten einzurichten; eine Stellungnahme gegen die Störung eines Vortrags durch Identitäre an der Universität Wien; oder eine Stellungnahme gegen die Einschüchterung der Erziehungswissenschaftlerin Maisha-Maureen Auma durch die AfD. Es finden sich Interventionen gegen subtile Formen der Freiheitsbeschneidung und ganz reale Cancel-Fälle. Es gibt Fälle, über die man verschiedener Meinung sein kann, und solche, die keinen Zweifel lassen, wie die Ausladung von Kathleen Stock am Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin. Und es zeichnet sich deutlich ab, dass Wissenschaftler nur deshalb abgestraft wurden, weil ihre Positionen dem Konsens bestimmter Theorieströmungen widersprachen.
Die Verteidigung der Niedergebrüllten und Ausgeladenen ist kein rechter Aktivismus, sondern liberaler Einsatz für die Wissenschaftsfreiheit. Wahrscheinlich handeln viele der Rufmörder im Namen der Demokratie tatsächlich in der Überzeugung, etwas Gutes zu tun – oder zumindest ein paar Konkurrenten auszustechen. Wenn bei der neuen Haltungswissenschaft am Ende nicht mehr als politische Rudelbildung und fröhliche Hexenjagd auf Andersdenkende herauskommt, möchte man dringend von ihr abraten.
Rufmord im Namen der Demokratie - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Dass ich die vermehrt zu beobachtende Vermischung von Aktivismus und Wissenschaft für gefährlich halte, habe ich bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht. Ob nun Politikwissenschaftler mit SPD-Parteibuch, die den Liberalismus diffamieren oder grüne Wissenschaftler, die genau zu wissen vorgeben welche Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels sich zwingend aus den vorliegenden wissenschaftlichen Fakten ergeben: Man muss sehr genau hinschauen. Das Schweizer Magazin “Horizonte” hat dazu ein Pro und Contra veröffentlicht, wobei ich - wenig überraschend - eher der Contra-Seite zuneige.
Zwar kann sich aktivistisches Reden und Handeln wie bei der Klimaschutzbewegung auf wissenschaftliche Evidenz beziehen, doch Aktivismus kann nicht jene Ansprüche erfüllen, die gemeinhin an die Wissenschaft gestellt werden.
Erstens, weil aktivistische Forderungen Voraussetzungen und Annahmen enthalten, die sich der unmittelbaren Überprüfung und damit auch dem Anspruch auf wissenschaftliche Verlässlichkeit entziehen. Zweitens, weil sich im Moment des Aktivismus keine kritische Distanz zu den eigenen Zielen herstellen lässt. Stattdessen erfolgt eine Zuspitzung der eigenen Forderungen auf wenige Kernbotschaften und gleichzeitig eine Immunisierung gegen Kritik daran, weil die Forderungen sonst im medialen Rauschen und im Klein-Klein der politischen Debatte untergehen würden. So bringt sich ein Tierversuchsgegner, der während des Protests die historische Bedeutung von Tierversuchen für die Forschung würdigt, selbst um den Erfolg.
Als Tätigkeiten gehen Wissenschaft und Aktivismus nicht zusammen – weder in Bezug auf ihre eigenen Ansprüche noch in Bezug auf die Aussenwahrnehmung. Dennoch können gute Aktivistinnen auch gute Wissenschaftlerinnen sein. Der vermeintliche Widerspruch löst sich auf, wenn man die Tätigkeit gesondert betrachtet vom Tätigen: Wer als Schauspielerin vor der Kamera steht, kann in diesem Moment nicht hinter der Kamera Regie führen. Trotzdem gibt es Menschen, die beides gut können. So kann man an der Universität forschen und auf der Strasse protestieren. Problematisch wird es jedoch, wenn beide Tätigkeiten vermischt werden, also wenn man für seinen Aktivismus einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt oder wenn man Wissenschaft nach aktivistischer Logik betreibt.
Sind Aktivismus und Wissenschaft miteinander vereinbar? - Horizonte
Im Rahmen des in der Einleitung erwähnten Themenspektrums wurde vergangene Woche wieder einmal der “Gender Pay Gap”, also die geschlechterbedingte Lohnlücke diskutiert. Die meisten Diskussionen wurden, wie üblich, weitgehend ohne Faktenbasis geführt. Diese lieferte die Wirtschaftswoche. Die Behauptung, Lohnunterschiede ließen sich mit Benachteiligung oder gar einem Patriarchat erklären, wird hier nicht zum ersten Mal als unzutreffend belegt.
Der Unterschied im Gesamtverdienst zwischen Männern und Frauen ist allerdings wesentlich größer. Das liegt erstens daran, dass Frauen häufiger gar nicht arbeiten – ihre Erwerbstätigenquote liegt bei 73 Prozent, im Vergleich zu 80,5 Prozent bei Männern. Dieser prozentuale Unterschied wird als Gender Employment Gap bezeichnet.
Zweitens sind Frauen öfter teilzeitbeschäftigt, denn nach wie vor bringen sie mehr Zeit für Familie und Haushalt auf. Durchschnittlich kommen sie auf 121 bezahlte Arbeitsstunden pro Monat, Männer auf 148. Der sogenannte Gender Hours Gap liegt somit bei 18 Prozent. Auch in dieser Hinsicht nehmen die Unterschiede tendenziell ab. Die Lücke im Gesamtverdienst ist deshalb von 45 Prozent im Jahr 2014 auf 39 Prozent im vergangenen Jahr gesunken.
Die Unterschiede in der durchschnittlichen Arbeitszeit und in der Erwerbsbeteiligung wirkt sich nicht nur auf den Gesamtverdienst, sondern auch auf die Stundenlöhne aus: Wer länger aussetzt oder in Teilzeit arbeitet, steigt langsamer auf. Zudem arbeiten Frauen häufiger in Berufen und Branchen mit niedrigen Löhnen. Der sogenannte bereinigte Gender Pay Gap berücksichtigt diese Unterschiede. Die verbleibende Lücke im Stundenlohn zwischen vergleichbaren männlichen und weiblichen Beschäftigten beträgt noch sechs Prozent.
Erstaunlicherweise gibt es Lohnlücken selbst in Berufen, in denen das Einkommen durch Algorithmen bestimmt wird – denen das Geschlecht ziemlich egal ist: Eine große Untersuchung unter amerikanischen Uber-Fahrern kam vor einigen Jahren zu dem Ergebnis, dass weibliche Fahrer pro Stunde rund sieben Prozent weniger verdienen als Männer. Die Autoren zeigen, dass dieser Unterschied ausschließlich auf drei Faktoren zurückzuführen ist: Männliche Fahrer verfügten durchschnittlich über mehr Erfahrung, arbeiteten in lukrativeren, teilweise unsicheren Gegenden – und fuhren schneller.
In Deutschland halten demnach knapp 60 Prozent der Frauen ihr Gehalt für unangemessen. Dennoch hat fast die Hälfte von ihnen noch nie nach einer Gehaltserhöhung gefragt. Als Grund für ihre Zurückhaltung nannten die Befragten am häufigsten mangelndes Selbstvertrauen.
Ist für Frauen Karriere überhaupt so wichtig wie für Männer? Mit dieser Frage beschäftigt sich Oliver Stettes. Der Arbeitsmarktforscher am Kölner Institut der deutschen Wirtschaft hat vor kurzem Daten zur Karriereorientierung von Beschäftigten erhoben. Eine Erkenntnis aus der noch unveröffentlichten Studie: Frauen ohne Führungsposition sind ebenso ehrgeizig wie ihre männlichen Kollegen auf derselben Ebene. Unter den Führungskräften ist die Karriereorientierung von Männern dagegen stärker ausgeprägt.
Frauen ist es also typischerweise weniger wichtig, immer weitere Karrierestufen zu erklimmen. „In der unteren Führungsebene sehen wir kaum eine Lücke zwischen den Geschlechtern“, sagt Ökonom Stettes. „Der Unterschied ergibt sich erst in den höheren Karrierestufen, vor allem in großen Unternehmen mit vielen Hierarchieebenen.“ Im Normalfall gelte weiterhin: Wer nach oben kommen will, muss Zeit investieren – die dann an anderer Stelle fehlt. „Die Daten zeigen: In dieser Abwägung entscheiden sich Frauen und Männer am Ende häufig anders.“
Diese sechs Grafiken erklären die Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern - Wirtschaftswoche
Ebenso faktenbasiert, aber deutlich pointierter setzt sich Nikolaus Blome in seiner Spiegel-Kolumne mit dem Thema auseinander.
Derzeit sollen Frauen in Deutschland durchschnittlich 18 Prozent weniger in der Stunde verdienen als Männer. Diese Art, das Problem zu betrachten, ist grober Unfug, aber sie wirkt.
Es beginnt bei den 18 Prozent. Im Jahr 2023 betrug der männliche Bruttostundenlohn demnach im Schnitt 25,30 Euro, der der Frauen 20,84 Euro. Das Statistische Bundesamt nennt diesen Gender-Pay-Gap »unbereinigt«, weil bei der Berechnung wirklich alles, was nicht niet- und nagelfest ist, in einen Topf geworfen und verquirlt wurde: Teilzeit- und Vollzeittätigkeiten, hoch bezahlte und weniger gut bezahlte Berufe, industrielle oder soziale Branchen, Hilfsarbeiter und Topmanager. In den jeweiligen Kategorien verteilen sich Männer und Frauen unterschiedlich, und das macht, man ahnt es, etwas mit dem Geschlechter-Durchschnittswert: Weil sie häufiger in Teilzeit als in der Chefetage arbeiten, und das häufiger in sozialen als in technisch-industriellen Berufen, liegen die Frauen mit ihrem rechnerischen Durchschnittsstundenlohn niedriger als die Männer.
Und ja, wer möchte, kann es für ein großes gesellschaftliches Unrecht halten, dass Frauen und Männer mehrheitlich immer noch unterschiedliche Berufe wählen oder ungleiche Lebensentwürfe. Aber mit Gehaltsgerechtigkeit, also mit gleichem Lohn für gleiche Arbeit, hat das wenig zu tun. Trägt man der nötigen Vergleichbarkeit der Tätigkeiten und Entgelte Rechnung, schrumpft der Gender-Pay-Gap auf sechs Prozent, was das zuständige Ministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend nicht leugnet. Und selbst diese Zahl ist vermutlich noch zu hoch: In die Berechnungen des Statistischen Bundesamts ist die öffentliche Verwaltung erst gar nicht mit einbezogen. Im öffentlichen Dienst aber ist der Gehaltsunterschied zwischen Frauen und Männern deutlich geringer als in der Privatwirtschaft.
Das alles würde man sich bieten lassen, wenn es bei Feminismus-Folklore bliebe. Aber nicht zuletzt das »Entgelttransparenzgesetz« entstand 2017 aus dem Druck, der mit dem Equal Pay Day gemacht wurde. Das Gesetz sollte die angeblich riesige Entgeltlücke schließen – und hat versagt, wie zu erwarten war. In zwei Berichten attestiert sich die Bundesregierung das selbst, der zweite, aus dem Jahr 2023, ist 333 Seiten lang, und ich möchte nicht wissen, was allein das gekostet hat. Ein zentraler Satz darin: Der Auskunftsanspruch werde »nach wie vor eher zurückhaltend in Anspruch genommen«. Das Gesetz habe nach Einführung »keinen signifikanten Effekt auf die statistische Entgeltlücke« gehabt. Wie auch? Die millionenfache Berufswahl oder Familienplanung wird ja nicht adressiert.
Nun gibt es eine Gehaltslücke, auch wenn die nicht annähernd die Dimension hat, die die feministische Propaganda behauptet. Die Lösung, diese zu verringern, liegt nahe: nämlich in jenen Tarifverträgen, welche die Gehaltshöhe maßgeblich (auch) nach der Zahl der Dienstjahre staffelt. Da können Mann und Frau am selben Schreibtisch dieselbe Arbeit tun – wenn die Frau zuvor ein paar Jahre ausgesetzt hat, um Kinder zu gebären und zu erziehen, dann bekommt sie nach ihrer Rückkehr mitunter Hunderte Euro weniger als der Mann, der dieselben Jahre auf seinem Bürosessel verbracht hat und nicht einmal befördert wurde. Er hat seinen Gehaltsvorsprung einfach ersessen. Das ist eine Sauerei. Um dem Einhalt zu gebieten, muss man aber nicht zwangsläufig eine ganze Gesellschaft umbauen, sondern nur einen Tarifvertrag.
Der Equal Pay Day ist feministische Propaganda - Spiegel
Die Reportage des Recherchenetzwerks Correctiv zum angeblichen Geheimtreffen in Potsdam ist inzwischen Gegenstand einer handfesten Kontroverse und ihre Seriösität wird in mehrfacher Hinsicht in Zweifel gezogen.
Was bleibt also übrig, acht Wochen nach der Berichterstattung über eine ominöse „Wannsee-Konferenz“?
Erstens: Es traf sich eine Gruppe von Menschen in privatem Kreise. Darunter waren Unternehmer und Mitglieder von AfD und CDU.
Zweitens: In dieser Privatveranstaltung wurde zweifelsohne auch darüber diskutiert, wie man abgelehnte Asylbewerber und kriminelle Ausländer schnell außer Landes schaffen könne. Und, soweit man weiß, auch noch über etwas mehr. Aber: Auch Bundeskanzler Scholz will seit ein paar Monaten „massenhaft abschieben“. Und nicht nur er.
Drittens: Der Kern der Geschichte von „Correctiv“ basierte nicht auf Tatsachen, sondern spekulativen Meinungsäußerungen. Und um diese herum wurden teils korrekte, teils falsche Tatsachenbehauptungen angeordnet, um den Eindruck eines Tatsachenberichts zu erwecken. Es war im Kern aber von Anfang an keiner.
Viertens: Im Grunde alle Leitmedien fielen auf dieses Arrangement herein, obwohl es bei unbefangener Lektüre stets offensichtlich war. „Cicero“ berichtete entsprechend bereits am 11. Januar 2024. Fast alle Medien verbreiteten einen Bericht, der im Kern bloß eine Meinungsäußerung war, als eine Tatsachenschilderung.
Fünftens: Daraufhin setzten sich aus echter Sorge Millionen von Menschen in Bewegung, um für Demokratie und gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Man kann das kaum kritisieren, sondern sollte vielmehr froh darüber sein. Jeder normale Mensch muss sich darauf verlassen können, das stimmt, was in den Leitmedien steht.
Sechstens: Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Ereignisse am Wannsee und die Demonstrationen erklärte die Bundesregierung, den Kampf gegen rechts durch Einschränkung von Grundrechten intensivieren zu wollen. Sie stützt sich dabei aber ausdrücklich nicht auf Tatsachen, sondern bloße Meinungsäußerungen, wie „Correctiv“ nun einräumte.
Allenthalben und seit Jahren wird in Deutschland die politische Spaltung des Landes beklagt. Und das aus gutem Grund. Damit eine Demokratie funktioniert, braucht es Verständigung und Kompromisse – und nicht die Verhetzung des öffentlichen Raumes. Vielleicht aber hat ja die Berichterstattung um den „Scoop vom Wannsee“ auch ihr Gutes. Sie kann immerhin als Beispiel dafür dienen, wie man es nicht machen sollte.
Der Wannsee-Scoop ist nun auch ganz offiziell implodiert - Cicero
Joe Chialo äußert sich in einem lesenswerten Interview unter anderem zu Antisemitismus und Debattenkultur. In vielem stimme ich ihm zu. Politiker mit seiner Herangehensweise findet man leider nur noch selten.
SPIEGEL: Auf der Abschlussgala der Berlinale riefen Filmschaffende zu einem Waffenstillstand auf, ein Regisseur posierte mit Palästinensertuch und sprach von »Genozid«, ein palästinensisch-israelisches Filmduo, das von eigenen Erfahrungen berichtete, verwendete in Bezug auf Israel Worte wie »abschlachten« und »Apartheid«. Sie sagten danach: »Das war Antisemitismus«. Welche dieser Äußerungen meinten Sie?
Chialo: Auf der Abschlussgala wurde das Massaker der Hamas am 7. Oktober, das der Grund für den aktuellen Krieg ist, praktisch verschwiegen. Das war kein Zufall. Den Menschen, die dort auf der Bühne standen, mangelte es ja nun wirklich nicht an Wissen und den intellektuellen Fähigkeiten zur Reflexion. Es ist klar, dass das an einem historischen Ort wie Berlin eine besondere Schwere für mich hat.
SPIEGEL: Antisemitismus ist ein scharfer Vorwurf. Sind Einseitigkeit und Auslassungen schon antisemitisch?
Chialo: Auch nichts zu sagen, kann eine Aussage sein. Es kann nicht so schwer sein, die Verbrechen vom 7. Oktober zu benennen, in den richtigen Kontext zu stellen und gleichzeitig Solidarität mit den Opfern von Gaza zu zeigen. Dass das nicht geschah, entstammt einer bestimmten Haltung, die Israel an Doppelstandards misst und damit dämonisiert. Wie der Begriff »Genozid« benutzt wurde, suggerierte, dass es sich dabei um eine klare Tatsache handelt. Dabei warten wir noch auf juristische Antworten. Dieses Sprechen zeichnet absichtsvoll ein einseitiges Bild.
SPIEGEL: Der jüdisch-israelische Regisseur Yuval Abraham, ein Nachkomme von Holocaustopfern, hat nach den Reaktionen auf die Berlinale erklärt, er empfinde es als besonders empörend, »dass deutsche Politiker im Jahr 2024 die Dreistigkeit haben, diesen Begriff Antisemitismus als Waffe gegen mich in einer Weise einzusetzen, die meine Familie gefährdet«.
Chialo: Ich möchte darauf mit einer eigenen Erfahrung antworten. Meine Eltern sind Tansanier, es gibt in Tansania eine rege Debatte über die koloniale Vergangenheit und die durch Deutsche verübten Verbrechen. Aber es ist unterkomplex, wenn ich mich als Schwarzer nur in die Opferrolle begebe. Die deutschen Kolonialherren hatten damals Truppen aus Tansaniern, die ihnen dabei geholfen haben, Massaker zu verüben. Diese Auseinandersetzung betrifft auch meine eigene Identität, denn einer meiner Großväter war ein solcher Soldat.
SPIEGEL: Was heißt das in Bezug auf Abraham?
Chialo: Ich möchte diese Perspektive auf die deutsche Debatte nicht bewerten und lasse es so stehen. Aber man kann mit einem Einzelschicksal nicht den ganzen Konflikt zu Ende deuten.
Chialo: Interessanterweise hat sich niemand darüber beklagt, dass wir den Rassismus bekämpfen wollten. Es ging nur um den Kampf gegen Antisemitismus.
SPIEGEL: Warum?
Chialo: Weil es eine offene Debatte darüber gibt, was Antisemitismus eigentlich ist. Es gibt konkurrierende Definitionen. Wir nutzen stets die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), auch schon im Landeskonzept zur Weiterentwicklung der Antisemitismusprävention aus dem Jahr 2018. Diese ist auch Grundlage für die Bundesregierung, den DFB, die Bundeszentrale für Politische Bildung und für 40 Staaten in aller Welt.
SPIEGEL: Aber der Konflikt ist größer als dieser einzelne Fall: Der Berliner Kulturetat liegt bei einer Milliarde Euro. Die Frage, die Sie aufgeworfen haben, ist: Wie weit muss die Bereitschaft des Staates gehen, Institutionen zu fördern? Zeitweilig sah der Streit um Ihre Richtlinie aus wie der um den Agrardiesel: Eine gesellschaftliche Gruppe, die sehr viel Geld vom Staat bekommt, nimmt dies offenbar für selbstverständlich.
Chialo: Sie wissen: Ich komme aus der Musikbranche. Ich kann mir eine Kultur vorstellen, die unabhängig vom Staat funktioniert. Ich könnte Ihre Frage so beantworten, dass ein guter Tweet daraus wird. Aber das ist mir im Augenblick nicht wichtig. Ich will nicht polarisieren. Ich bin schockiert darüber, wie kaputt der Diskurs im Augenblick ist. Jedes Wort kann dazu führen, dass man persönlich angegriffen wird. Deshalb liegt mir eher daran, ins konstruktive Gespräch zu kommen. Wir können alle nur dann gewinnen, wenn wir Argumente austauschen. Wir müssen uns streiten. Das geht aber nicht, wenn wir uns zerstören. Wir sollten uns stattdessen auf unsere Grundsätze konzentrieren.
Chialo: Meine Solidarität gilt den Menschen, die Schmerz empfinden. Es gibt sehr viele Menschen, die gerade Schmerz empfinden. Und auch das braucht Raum. Ich weigere mich jedoch, den Schmerz der einen gegen den Schmerz der anderen auszuspielen. Ich weiß, dass es im Augenblick sehr angesagt ist, als Begründung eines Arguments oder eines Handelns auf den eigenen Schmerz zu verweisen: Das finde ich problematisch. Wir sollten doch das große Bild sehen. Mein privater Schmerz ist doch nicht entscheidend.
»Ich bin schockiert darüber, wie kaputt der Diskurs im Augenblick ist« - Spiegel
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes. Butz Peters spricht mit Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier über Terrorismus.
Chefredakteur Alexander Marguier spricht mit dem Rechtsanwalt und RAF-Experten Butz Peters anlässlich der Festnahme der RAF-Terroristin Daniela Klette über den Terror der RAF in Deutschland, über die noch flüchtigen Burghard Garweg und Ernst-Volker Staub und über Unterschiede und Parallelen zu heutigen terroristischen Aktivitäten wie z.B. dem Anschlag auf die kritischen Infrastrukturen rund um das Tesla-Werk in Grünheide in Brandenburg.
Julian Nida-Rümelin diskutiert mit Nicole Deitelhoff über Meinungsvielfalt.
Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut unserer Demokratie, das es zu wahren gilt. Doch immer häufiger fühlen sich Menschen in der Freiheit, ihre Meinung zu äußern, eingeschränkt. Einerseits scheint es möglich, alles sagen zu können, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Andererseits weicht eine produktive Streitkultur einer Kultur der Ächtung. Die Grenzen des (Un)Sagbaren sind verschoben. Wie weit kann Kritik gehen? Sollten unpopuläre Meinungen, Debatten oder Personen im öffentlichen Raum ausgeschlossen bzw. „gecancelt“ werden? Oder eröffnen sich neue Möglichkeiten für ungehörte Stimmen, um auf Missstände aufmerksam zu machen? Der Philosoph Julian Nida-Rümelin befasst sich in seinem neuesten Buch „Cancel Culture. Ende der Aufklärung“ mit der Rolle von Kritik und Meinungsaustausch in unserer Gesellschaft und hält fest: Unerwünschte Meinungen müssen ausgehalten und Konflikte ausgetragen werden. Gemeinsam mit Nicole Deitelhoff, Professorin für Friedens- und Konfliktforschung, spricht er über Verantwortung, legitime Kritik und notwendigen Streit.
Der Kabarettist Florian Schröder hat keine Scheu, mit Andersdenkenden zu diskutieren. Während Corona diskutierte er zum Beispiel mit Querdenkern. Nun ging er in den Diskurs mit Julian Reichelt. Ein sehr interessanter und wichtiger Austausch. Es gibt in einer Demokratie keine Alternative zum Dialog.
Richard David Precht spricht mit Susan Neiman über Wokeness.
Wokeness bedeutet Wachsamkeit gegenüber Unterdrückung oder Umweltzerstörung. Sind woke Menschen also gerechter? Darüber spricht Richard David Precht mit der Philosophin Susan Neiman. Entstanden ist die Wokeness-Bewegung als Reaktion auf die Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA seit 2014. Später weitete sie sich auf ganz unterschiedliche Gruppen aus. Sie agiert vor allem über soziale Medien, aber auch durch gezielte Cancel-Culture-Aktionen, bei denen Personen oder Organisationen gezielt ausgegrenzt oder boykottiert werden sollen.
Das ZDF hat einen überraschend deutlichen Beitrag zu Nancy Faesers Vorstößen, die von vielen als Angriff auf die Meinungsfreiheit empfunden werden, gesendet.
Die Meinungsfreiheit ist ein Kernelement des Grundgesetzes und unserer freiheitlichen Demokratie. Streit und unterschiedliche Meinungen sind dafür essentiell. Doch nun möchte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die Meinungsfreiheit einschränken.
Kultur
Coverversion der Woche: Marvin Gaye - Yesterday
Heute im Jahr 1967 gab Dick James bekannt, dass bis zu diesem Zeitpunkt 466 Versionen des von Paul McCartney komponierten Songs “Yesterday” eingespielt wurden. Bis heute sind es ungefähr 2200.
Er wurde erstmals im August 1965 auf dem Album “Help!” veröffentlicht. In den USA erschien er im September als Single und erreichte den ersten Platz der Charts. „Yesterday“ wurde 1999 von BBC Radio 2 zum besten Lied des 20. Jahrhunderts gewählt. In einer Umfrage unter Musikexperten und Hörern wurde es im darauffolgenden Jahr von MTV und dem Rolling Stone Magazine zum besten Popsong aller Zeiten gewählt. 1997 hielt das Stück Einzug in die Grammy Hall of Fame. Die Broadcast Music Incorporated gibt an, dass es im 20. Jahrhundert über sieben Millionen Mal aufgeführt wurde.
Die leicht veränderte Version von Marvin Gaye ist aus dem Jahr 1969.
Epilog
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** kuratierter**
Wie immer sehr gelungen: die Kombination aus kurierter Presseschau und den Edeltips für Musikinteressierte macht immer wieder Spaß. Bemerkenswert, wie sich die extremen Übertreibungen der identitätspolitischen Akteure inzwischen mit dem Diskurs von BMI plus BMSFJ über neu entdeckte echte und potentielle Demokratiefeinde decken bzw sich gegenseitig verstärken. Insofern ist der im Newsletter zitierte ZDF Bericht besonders wichtig, weil er zeigt, dass selbst in Teilen des ÖRR diese Entwicklungen kritisch gesehen wird.