Prolog
Im Moment ist es sehr beliebt, darüber zu philosophieren, ob die sozialen Medien am Ende seien. Ich glaube nicht, dass man diese Frage absolut beantworten kann. Ermüdungserscheinungen stellen sich seit geraumer Zeit allerdings auch bei mir ein. Von der Grundidee halte ich virtuelle Gesprächsräume für eine gute Sache, war in fast jedem Netzwerk nahezu von Anfang an aktiv und habe die damit verbundenen Möglichkeiten genutzt. Ob nun Internetforen, StudiVZ, Myspace, Blogs, Facebook, Twitter oder Instagram: Es war lange eine schöne Zeit, denn online wurde nicht selten zu offline. Langjährige Freundschaften, sogar Liebesbeziehungen entstanden über Kontakte im Internet. Man fand in den eigenen, maßgeschneiderten Ecken des Internets Menschen, mit denen man aufgrund gemeinsamer Interessen, Leidenschaften und Ansichten schon von Anfang an mehr an solider Basis hatte, als mit vielen anderen. Einige Menschen, die mir mal eine gewisse Zeit lang lieb und teuer waren oder es bis heute sind, hätte ich unter normalen Umständen niemals kennengelernt.
Weil es nicht vernünftig ist, in der Vergangenheit zu verweilen, muss darauf hingewiesen werden, dass sich der Wind irgendwann drehte. Der Umgangston wurde rauer, es wurde politischer, die Zahl an Selbstdarstellern und Aufmerksamkeitsökonomen stieg. Die ersten negativen Erfahrungen machte ich, als ich ca. 2010 anfing, mich - damals noch bei Facebook - auch politisch zu äußern. Die ausgeprägte Intoleranz von Teilen meines eigenen Bekanntenkreises erstaunte mich. Virtuell knallten Türen, ich wurde von einigen Menschen kommentarlos “entfreundet”. Andere behaupteten, ich sei nun “rechts” geworden. Absurder geht es nicht. Von am rechten und linken Rand des politischen Spektrum angesiedelten Fremden bekam ich teils erschreckend konkrete Drohungen. Das führte dazu, dass ich mir ein Pseudonym zulegte. Nicht, weil ich Angst um mich selbst hatte. Ich stehe zu dem, was ich denke, konnte allerdings nicht verantworten, dass unbeteiligte Dritte in Gefahr geraten.
Inzwischen ist die Diskussionskultur im Internet völlig vergiftet. Dort zu diskutieren, habe ich bereits vor Jahren aufgegeben. Es ist Zeitverschwendung. Twitter wird als Netzwerk zwar alternativlos bleiben. Das ehemals hochrelevante Netzwerk ist dennoch als Diskursplattform gescheitert. Im Großen und Ganzen habe ich mein Interesse an Social Media verloren, die dortige Diskussionsfolklore und andere Mechanismen langweilen mich. Trotzdem gibt es auch heute noch Bereiche, in denen die alte Faszination fortbesteht. In diesen werde ich mich auch weiterhin gern aufhalten. Ein Bereich ist dieser Newsletter. Ich freue mich über Ihre zahlreichen Emails und natürlich auch über die Kommentare. Diese Rückmeldungen sind mir sehr wichtig und motivieren mich enorm. Danke dafür!
Kaum etwas ist langweiliger als intellektuell defizitäres Kulturkampfgetöse von links und rechts. Die derzeitigen gesellschaftlichen und politischen Probleme erfordern sachlich-differenzierten Diskurs.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Vernunft, Diskursräume und Demokratie.
Politik und Gesellschaft
Der Physik-Nobelpreisträger Steven Chu war Energieminister unter Barack Obama und plädiert für die Beibehaltung der Atomkraft in Deutschland. Ebenfalls tun das alle anderen unabhängigen Experten seit 2011. Auch solche, die den Grünen nahestehen. Die kompromisslose Ablehnung von Atomkraft basiert nicht auf Fakten, sondern auf Ideologie.
Braucht Deutschland diese Atomkraftwerke wirklich? Wir wollen ein klimaneutrales Energiesystem mit Wind- und Solarenergie aufbauen und mit Gaskraftwerken, die laufen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.
Das ist eine enorme Herausforderung. Denken Sie an die Schwerindustrie, insbesondere die chemische und petrochemische Industrie, BASF zum Beispiel. Die haben Fabriken, die man nicht einfach ein- und ausschaltet, nach dem Motto: Ups, wir haben gerade keinen Strom mehr, also fahren wir sie mal für einen Tag runter. Selbst eine Montagefabrik, eine Autofabrik oder eine Halbleiterfertigungsanlage benötigt extrem stabilen Strom. Die Gesellschaft muss begreifen, dass diese Industrien preisgünstigen Strom brauchen, und zwar rund um die Uhr. Und wenn sie ihn nicht bekommen, dann werden sie erheblich beeinträchtigt. Das könnte zu einer Abwanderung der Schwerindustrie aus Deutschland führen, und das wäre für die deutsche Wirtschaft katastrophal. Wenn einzelne Leute also sagen, sie wollen dies nicht, sie wollen das nicht, sie wollen keine Atomkraft, sie wollen auch keine Kohle, sie können alles mit erneuerbaren Energien hinbekommen, dann betreiben diese Menschen offenkundig keine Halbleiterfabriken, keine Chemiefabriken oder Fertigungswerke. Die Frage an die Deutschen lautet also: Wollen sie eine prosperierende Wirtschaft, wollen sie Arbeitsplätze und Wohlstand erhalten und gleichzeitig ihre Klimaziele erreichen, oder wollen sie nur ihre Klimaziele erreichen?
Was ist mit einem Atomunfall?
Man muss nur einmal auf die Internetseite „Our World in Data“ schauen, das ist eine Metasammlung von Daten aus seriösen Quellen. Da kann man die Todesfälle pro erzeugter Terawattstunde Strom sehen. Braunkohle führt mit 33 Todesfällen, gefolgt von Steinkohle mit 25, dann Öl mit 18, während Holzpellets, Biomasse oder das Verbrennen von Holz bei 4,6 liegen. Die Atomenergie liegt bei 0,03 Todesfällen, alle Atomunfälle auf der Welt zusammengerechnet. Die Wasserkraft liegt übrigens noch darüber bei 1,3 Todesfällen, weil gelegentlich ein Damm bricht. Die Kernkraft liegt zwischen Wind und Sonne. Sie ist also etwas sicherer als die Windenergie. Und wir haben noch nicht einmal über das viele Kohlendioxid gesprochen, das die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas freisetzt. Das ist verrückt. Die Öffentlichkeit muss das verstehen.
Sie waren nicht nur Energieminister, sondern sind auch einer der am höchsten dekorierten Physiker in den Vereinigten Staaten und Nobelpreisträger. Viele Klimaforscher lehnen die Nutzung der Atomenergie ab, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, obwohl der Weltklimarat die Atomenergie befürwortet. Warum ist das so?
Man kann sich um das Klima sorgen und trotzdem abstruse Ideen haben. Man kann um das Klima besorgt sein und meinen, dass die ökologische Landwirtschaft die Welt retten wird. Das wird sie nicht tun. Wohlhabende Europäer und wohlhabende Amerikaner können ökologische Landwirtschaft betreiben. Man könnte meinen, dass wir Staudämme sprengen und die Natur wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen sollten und dass das die Lösung all unserer Probleme ist. Nur wird es keine Lösung sein in einer Welt mit acht Milliarden Menschen, die auf elf Milliarden zugeht. Das sind einige der Fakten, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Es geht nicht allein darum, was wir wollen. Es geht darum, was die beste Lösung ist. Ist uns Wohlstand wichtig? Wollen wir die Umwelt erhalten und die Gesundheit der Menschen? Wenn man all das zusammennimmt, dann sieht die Atomkraft nicht mehr so übel aus.
Die Grünen würden dem nicht zustimmen.
Von den Grünen kommen viele Falschinformationen. Wenn diese Leute vernünftig wären, was viele nicht sind, dann würden sie die Atomenergie der Alternative vorziehen, nämlich Gaskraftwerken, deren Treibhausgase man abscheiden muss. Wer Erdgas ohne diese Abscheidung will, der ist nicht wirklich am Klima und an Nachhaltigkeit interessiert. Das sind die Möglichkeiten. Um Wasserstoff wettbewerbsfähig herzustellen, müssen Sie ihn zu einem Preis von einem Cent pro Kilowattstunde Strom produzieren können, maximal anderthalb Cent. Und so ein kleiner modularer Reaktor steht einfach da, läuft durch und liefert gelegentlich Notstrom. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Wenn diese Kraftwerke den Budgetrahmen nicht sprengen und das Brennstoffproblem gelöst wird, dann sind sie sehr nützlich. Und dann bleibt nur noch irrationale Angst übrig. Es ist wie die irrationale Angst vor genetisch modifiziertem Getreide. Es ist in Ordnung, Pflanzen zu kreuzen, es ist in Ordnung, Pestizide zu versprühen, aber es ist offenbar nicht in Ordnung, die Molekularbiologie einzusetzen. Das ist eine weitere Haltung der grünen Partei, die nicht mit unserer zukünftigen Realität vereinbar ist: steigendem Wohlstand, steigendem Energiebedarf. Nur muss diese Energie sauber sein, sonst muss Deutschland Kohlekraftwerke nutzen.
Nicht nur ich frage mich seit Jahren, warum es im Umgang mit Populisten keinen Lerneffekt gibt. Jochen Bittner hat sich in einem Artikel mit der Frage auseinandergesetzt, warum die Mitte ihre Strategie nicht anpasst.
Der Rechtsruck hin zur AfD ist auch eine Ausgleichsbewegung für den Linksruck, den vor allem CDU und CSU während der Merkeljahre vollzogen haben. Zu diesem Linksruck zählten zunächst die Rettungszahlungen innerhalb der Eurozone trotz des Verbots von Bail-out-Zahlungen in den Europäischen Verträgen (ja, die Älteren unter uns erinnern sich tatsächlich daran, dass dies die Geburtsstunde der AfD war), die Aussetzung der Wehrpflicht, verbunden mit einem generell bequemen Desinteresse am Militärischen sowie der Atomausstieg zugunsten einer nicht funktionierenden Energiewende. Für die größte Entfremdung der Wähler von der Ordnungspartei CDU dürfte schließlich 2015 und 2016 der monatelange Verzicht auf Kontrollen sowohl an den EU-Außen- wie Innengrenzen gesorgt haben, der zu einer beispiellos hohen Einwanderung nach Deutschland in kurzer Zeit führte – und zwar nicht nur von Flüchtlingen, sondern auch von Migranten, die schlicht ein besseres Leben suchen.
Dem "Wir schaffen das" der Kanzlerin folgte die nötige Schaffenskraft nicht. Schon dieses Versäumnis einzugestehen, wäre ein wichtiges Signal, das die Parteien der damaligen Großen Koalition ihren enttäuschten Wählern hätten geben sollen. Der nächste, notwendige Schritt wäre gewesen, den erforderlichen Kraftakt in all den genannten Bereichen nachzuholen. Und, drittens, müssten SPD und Union eine ehrliche und nachhaltige Debatte darüber führen, dass der Gebrauch des Flüchtlings- und Asylrechts auf eine Weise zugenommen hat, die sich die Schöpferinnen und Schöpfer dieser Rechte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht hätten vorstellen können. Was müsste dies heute für diese Rechte heißen? Womöglich doch eine Kontingentierung und dafür mehr Schutzmöglichkeiten außerhalb Europas? Aber wer das fordert, sieht sich mit einer breiten Front der Entrüstung konfrontiert, denn so etwas wäre ja "rechts".
Den Atomausstieg infrage zu stellen, war in Deutschland lange so ein Beispiel. Womöglich auch weil es die AfD früh tat, taten die etablierten Medien und Parteien es erst, als es zu spät war. Der Hinweis auf mangelnde Meinungsvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist ein anderes Beispiel, berechtigte Kritik an manchen Glaubensinhalten des Islam zu üben ein weiteres. Wer sich entsprechend äußert, wird in linken Kreisen schnell als "rechts" oder "islamophob" abgekanzelt, aber solche Etiketten sind keine überzeugenden Argumente. Sie sorgen eher dafür, dass die Probleme nicht aus der Mitte heraus angegangen werden. Weil ungelöst, bleiben sie Futter für Populisten.
Die zunehmende Wagenburgmentalität in vielen Medien und Parteien führt in Deutschland bisweilen dazu, dass offenkundig vernunftwidrigen Doppelstandards zu wenig widersprochen wird. "Follow the science" beispielsweise gilt dann, wenn es um den Klimawandel geht. Wenn es hingegen darum geht, wie viele biologische Geschlechter es gibt, verhallt die Parole. Klar, wer will schon als "transphob" gelten oder von Jan Böhmermann mit einem Scheißhaufen verglichen werden?
Derartige Diskrepanzen fallen natürlich auf und schaden dem Vertrauen in die Vernunftbasiertheit wichtiger Institutionen enorm. Seltsam unwidersprochen bleibt inzwischen auch die weitverbreitete Gleichsetzung von "rechts" mit "rechtsradikal" oder "rechtsextrem". Man ist – sorry, liebes Social-Media-Empörium – kein Steigbügelhalter des Faschismus, sondern der Fairness, wenn man darauf hinweist, dass "rechts" eine ebenso legitime politische Position wie "links" ist. Vielleicht wäre es auch eine Überlegung wert, wie es gerade bei Leuten ankommen kann, die noch die DDR erlebt haben, wenn es so scheint, als solle ein ganzes politisches Lager delegitimiert werden.
Es gibt Leute, die den Klimawandel für ein ernstes Problem halten, aber nicht glauben, dass Milliarden Menschen dem Tod geweiht sind, sollte Deutschland nicht punktgenau bis zum Jahr 2040 klimaneutral werden. Es gibt Leute, denen nicht einleuchtet, warum sie ihre Gasheizung austauschen sollen, wenn die Bundesregierung zugleich 50 neue Gaskraftwerke bauen will. Es gibt Leute, die sich fragen, ob es dem Klima hilft, wenn die Strompreise so rapide steigen, dass immer mehr Industriebetriebe darüber nachdenken, aus Deutschland abzuwandern oder dies schon tun. Es gibt also Leute, die auf gar keinen Fall wollen, dass die Grünen an der nächsten Bundesregierung beteiligt sind. Sie sind deswegen keine Sympathisanten von Rechtsextremen.
Seit Wochen feiern sich Selbstbetrunkene auf Demonstrationen gegenseitig und glauben, damit die Demokratie zu retten. Die reale Gefahr durch Extremismus aller Art soll damit nicht negiert werden. Es fällt lediglich erneut eine gewisse Doppelmoral in der Beurteilung auf. Haufenweise antisemitische Enthemmung an deutschen Universitäten steht meiner Meinung nach deutlich mehr in der Tradition von 1933, als eine hochgejazzte Kaminrunde in Wannseenähe. Die Massenproteste gegen dieses Phänomen sind mir allerdings entgangen. Auch bezüglich des Blockierens von Parteitagen werden unterschiedliche Maßstäbe angelegt: Was bei den Grünen eine demokratiegefährdende Ungeheuerlichkeit ist, versteht man bezüglich der AfD zum Schutz der Demokratie als erste Bürgerpflicht. Demokraten lehnen solche Aktionen grundsätzlich ab.
Auch bestimmte Publikationen scheinen in den Augen mancher das Potential zu haben, die Demokratie zum Einsturz zu bringen. Wer sich über populistische Kreischmedien rechts der Mitte empört, darf allerdings über ihre linken Pendants nicht schweigen. Beide muss man in einer Demokratie aushalten, solange sie sich auf dem Boden der Verfassung bewegen. Was sie vom teilweise ideologisch gefärbten öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterscheidet: Wenn man sie nicht konsumieren möchte, muss man sie nicht bezahlen. Potentielle von der Regierung selbst ausgehende Gefahren werden in diesen Debatten leicht übersehen. Fatina Keilani hat sich mit einigen befasst.
So mancher, der in dieser Woche die Pressekonferenz der deutschen Innenministerin Nancy Faeser und der beiden Chefs ihrer wichtigsten Sicherheitsbehörden Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt verfolgt hat, dürfte zeitweise seinen Ohren nicht getraut haben. Die Demokratie sei infolge der Machenschaften rechter Kreise in Gefahr, und deshalb müssten die Massnahmen gegen Rechtsextremismus verstärkt werden, hob Faeser an. So weit, so erwartbar. Doch was dann folgte, war nichts anderes als die Vorstellung einer neuen Herrschaft des Verdachts – und ein Angriff auf den liberalen Rechtsstaat.
Je länger man der sozialdemokratischen Ministerin und ihren Behördenleitern zuhörte, desto mehr gewann man den Eindruck: Dieser Staat misstraut seinen Bürgern zutiefst. Die freie, wilde, unkontrollierte Demokratie ist ihm offenkundig ein Graus.
So erklärte Faeser freimütig, dass und wie auf den öffentlichen Diskurs im Land Einfluss genommen werden soll: Eine «Früherkennungseinheit» soll «Desinformationskampagnen» rasch erkennen und kenntlich machen. Die «Resilienz» von Journalisten soll gestärkt, der öffentlichrechtliche Rundfunk «geschützt» werden.
Über «Remigration» zu diskutieren, wie bei dem vieldiskutierten Treffen in Potsdam, habe zwar keine strafrechtliche Relevanz, sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang. Das Ganze sei dennoch staatswohlgefährdend.
Der deutsche Staat soll nach Faeser den Moment seines Einschreitens gegen die Bürger deutlich nach vorn verlegen. Der Verdacht, die falsche Gesinnung zu haben, soll ausreichen, um in sein Bankkonto zu schauen, ihm die legal besessene Waffe wegzunehmen oder ihn aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Das ist Gift für die Demokratie, und rechtsstaatswidrig ist es auch.
Die neue Herrschaft des Verdachts hat zudem eine politische Schieflage. Das «rechte Vorfeld» wird genauestens vom Verfassungsschutz, dem deutschen Inlandgeheimdienst, beobachtet. Das linke Vorfeld bezieht unterdessen grosszügige Förderung vom Staat.
Der Verfassungsschutzpräsident Haldenwang will sogar auf die Sprache und das Denken Einfluss nehmen. Er freue sich, dass das Wort Remigration kürzlich zum «Unwort des Jahres» erklärt worden sei, sagte er. Seine Vorgesetzte Faeser kündigte unterdessen an, dass der Staat bei Rechtsextremisten «jeden Stein umdrehen» werde, und weiter: «Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen.»
Hier findet eine Entfesselung staatlicher Gewalt von den Zügeln des Gesetzes mittels vager Definitionen statt, von «rechts» über «Delegitimierung» bis «Hetze». Das ist gefährlich und autoritär.
Eiskalt muss erschauern, wer die Innenministerin sagen hört, auch um die Justiz «kümmere man sich» nun, da diese, wie die Presse, erfahrungsgemäss zu den ersten Zielen rechter Unterwanderung gehöre. Hat man sich um die Justiz erst einmal «gekümmert», dann ist die Entfernung von Personen mit der «falschen» Gesinnung aus dem öffentlichen Dienst womöglich nicht einmal mehr von unabhängigen Gerichten rückgängig zu machen.
Dieser Drang zur staatlichen Repression ist Ausdruck einer bedenklichen, illiberalen Wagenburgmentalität. Deren sinnbildlicher Ausdruck sind die Bauarbeiten für einen «Sicherheitsgraben» rund um den Deutschen Bundestag in Berlin. Ein treffenderes Symbol für die Entfremdung zwischen der Politik und einem signifikanten Teil des Volkes ist kaum denkbar.
Ein weiterer Fall von Cancel Culture, die es ja gar nicht gibt: Ronya Othmann wurde nicht nur kurzfristig vom Literaturfestival in Karachi ausgeladen, sondern sieht sich diesbezüglich auch mit Drohungen konfrontiert.
Ronya Othmann war bereits nach Pakistan gereist, als sich die Schriftstellerin kurz vor ihrem Auftritt auf dem Literaturfestival in Karachi vehementen Diffamierungen und verbalen Angriffen ausgesetzt sah. Eine Gruppe pakistanischer Akademiker, Autoren, Aktivisten und Studenten hatte vor der Eröffnung am Freitag einen offenen Brief an das Karachi Literature Festival geschrieben und dessen Entscheidung kritisiert, die Autorin eingeladen zu haben. Daraufhin sagte das Festival den Auftritt von Ronya Othmann kurzfristig ab. Aus Sicherheitsgründen musste sie auch das Hotel wechseln. Im Vorfeld der Veranstaltung hatte sich bereits Claire Chambers von der University of York, die für die Moderation des Panels mit Ronya Othmann angefragt worden war, von der Moderation zurückgezogen.
Othmann war im Anschluss an einen Auftritt in Sri Lanka nach Pakistan gekommen, um – auf Einladung des Festivals und des Goethe Instituts – ihren Roman „Die Sommer“, zu präsentieren, in dem es um die Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden geht, die die Sommer ihrer Kindheit bei der Großmutter in Syrien verbringt. Für den Roman wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Auf einem anderen Panel sollte sie in Pakistan über ihre Gedichte sprechen. Die Anfeindungen des offenen Briefs galten allerdings nicht ihrer Literatur, sondern ihren Kolumnen, die sie für das Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ schreibt. Es sind Texte, deren Perspektive sich dadurch auszeichnet, dass sie im Kampf gegen Ideologisierungen dort, wo „Islamkritik“ als Vorwand für Fremdenfeindlichkeit instrumentalisiert wird, genauso zur Stelle ist wie dort, wo man den politischen Islamismus als „Teil des antikolonialen Widerstands“ relativiert und verharmlost.
Othmann hatte in der F.A.S.-Kolumne vom 22. Oktober, die unter dem Titel „Tödliche Ignoranz“ erschien, die Reaktionen auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober in Deutschland zum Anlass genommen, das Schweigen der muslimischen Verbände und deren islamistische Verstrickungen zu kritisieren. Der Terror der Hamas von heute, schrieb sie, sei auch ein Produkt der Versäumnisse von gestern: „Auch wenn Hamas und IS verfeindet sind“, so Othmann in der F.A.S., „inspirieren und übertrumpfen dschihadistische Gruppen einander. Es ist auch ein Kampf um Deutungshoheit und Aufmerksamkeit. Und Juden den Tod und Israel die Vernichtung anzudrohen, das ist nun mal die Königsdisziplin des Dschihadismus, wie der Antisemitismus der Kern aller islamistischen Bewegungen ist. Die Hamas ist aus einem Ableger der Muslimbruderschaft entstanden. Aus einer Bewegung also, die dem legalistischen Islamismus zugerechnet wird. Und dieser versucht, anders als der Dschihadismus, mit legalen Mitteln Einfluss zu nehmen, um seine Ziele zu erreichen. Grundwissen, möchte man meinen.“ Doch genau daran mangelte es oft.
Am Ende des am Freitag publizierten offenen Briefes, der auch in den sozialen Medien verbreitet wurde und Othmann zur Zielscheibe von Hass und Hetze machte, forderten die Unterzeichner das Festival auf, die Veranstaltung mit ihr „umgehend abzusagen“ und sich „öffentlich beim palästinensischen Volk und allen Pakistanis“ zu entschuldigen. Zudem forderten sie, dass das Festival „und weitere literarische und kulturelle Veranstaltungen in Pakistan“ aufhören sollten, sich für „Ausgewogenheit“ einzusetzen, wenn es um die Besetzung Palästinas durch Israel und den „Völkermord“ gehe. Sie sollten es unterlassen, „Zionisten“ einzuladen und dieser unter dem Deckmantel „der Neutralität zu legitimieren“. Der offene Brief endet mit einer Drohung: „Wenn das KFL diese Veranstaltung jedoch nicht absagt und sich öffentlich entschuldigt, werden wir einen Boykott des Festivals mobilisieren – in diesem Jahr und in den Jahren, die kommen.“
Othmann, die von den Organisatoren in Sicherheit gebracht werden musste, sagte gegenüber der F.A.Z.: „Ich freue mich, dass meine Kolumnen nun auch in Pakistan gelesen werden, schade aber, dass man sie nicht gleich ganz liest. Ich hatte mich sehr auf das Karachi Literature Festival gefreut. Ich wurde eingeladen, um aus meinem Roman und aus Gedichten zu lesen. Leider war das hier nicht erwünscht. Besonders erschreckt hat mich die Diffamierungs-Kampagne in den sozialen Medien. Ich wurde auch als Jesidin angegriffen. Aus dieser Perspektive schreibe ich auch über islamistische Kontinuitäten und Vergewaltigung als Kriegswaffe. Da diese Perspektive wohl für manche nicht auszuhalten ist, muss man sie wohl diffamieren und ausladen.“
Die Sprecherin des Karachi Literature Festivals (KLF), Raheela Baqai, teilte auf Rückfrage mit: „Wir können bestätigen, dass Ronya Othmann nicht mehr am KLF teilnehmen wird und ihre Auftritte abgesagt wurden. Last-Minute-Absagen von Rednern können aus verschiedenen Gründen erfolgen, wir geben keine Einzelheiten dazu bekannt.“ Das Goethe-Institut Karachi war zu einer Stellungnahme zu diesem Zeitpunkt nicht bereit: „Vielen Dank für Ihr entgegenkommendes Interesse“, so die Leiterin des Instituts am Samstagmorgen. „Ein Statement können wir leider nicht vor Montag übermitteln. Ich hoffe auf Ihr Verständnis.“ Der Generalkonsul in Karachi, Rüdiger Lotz, hatte in einem Schreiben an das Festival, das der F.A.Z. vorliegt, am Freitag sein Bedauern darüber ausgedrückt, dass es zu der Absage des Auftritts von Othmann kam und die von Einzelpersonen initiierte Kampagne in den sozialen Medien und die darin enthaltene antisemitische Haltung als „inakzeptabel“ bezeichnet. An dem Empfang, den das Konsulat am Freitagabend anlässlich der Eröffnung mitfinanzierte, hielt er fest und ermöglichte Ronya Othmann unter Sicherheitsvorkehrungen auch die Teilnahme.
Drohungen auf Literaturfestival in Pakistan - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes:
Bezüglich der Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine kursieren selbst in bürgerlich-akademischen Kreisen Verschwörungstheorien und Falschinformationen. Dieser Beitrag liefert einige Fakten.
Obwohl schon im Frühjahr 2022 Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine begannen, ist bis heute nicht einmal ein Waffenstillstand in Sicht. Warum die Bemühungen um Frieden bisher gescheitert sind und wie es weitergehen könnte.
Der lange Weg zum Frieden - Deutschlandfunk
Der Harvard-Ökonom Roland Fryer spricht mit Bari Weiss unter anderem über Rassismus, den akademischen Betrieb und die Suche nach Fakten.
Roland Fryer is one of the most celebrated economists in the world. He is the author of more than 50 papers—on topics ranging from “the economic consequences of distinctively black names” to “racial differences in police shootings.” At 30, he became the youngest black tenured professor in Harvard's history. At 34, he won a MacArthur Genius Fellowship, followed by a John Bates Clark Medal, which is given to an economist in America under 40 who is judged to have made the most significant contribution to economic thought and knowledge. But before coming to Harvard, Fryer worked at McDonalds—drive-through, not corporate. Fryer’s life story of rapid ascent to academic celebrity status despite abandonment by his parents at a young age, and growing up in what he calls a “drug family” is incredibly inspiring in its own right. Because based on every statistic and stereotype about race and poverty in America, he should not have become the things he became. And yet he did. He also continues to beat the odds in a world in which much of academia has become conformist. Time and time again, Fryer refuses to conform. He has one north star, and that is the pursuit of truth, come what may. The pursuit of truth no matter how unpopular the conclusion or inconvenience to his own political biases. He’s also rare in that he isn’t afraid to admit when he’s wrong, or to admit his mistakes and learn from them.
Die Professorin Susanne Schröter spricht bei “3Sat” über Wokeness und Cancel Culture an Universitäten.
Susanne Schröter bei "Kulturzeit" - 3Sat
Kultur
Coverversion der Woche: Richard Cheese - Gin And Juice
Zum heutigen Geburtstag von Dr. Dre fiel mir sofort die passende Coverversion ein. Der Song “Gin And Juice” wurde am 18. Januar 1994 als zweite Single aus Snoop Doggs Debütalbum “Doggystyle” veröffentlicht. Er wurde von Dr. Dre produziert und enthält im Refrain eine Interpolation aus Slaves „Watching You“ und ein Sample von George McCrae. Die Basslinie ist von Tom Green. Dat Nigga Daz, Jewell, Heney Loc und Sean „Barney“ Thomas sind als zusätzliche Sänger vertreten. Das Stück erreichte Platz acht der Billboard Hot 100 in den USA. Es erhielt eine Gold-Zertifizierung von der RIAA und verkaufte 700.000 Exemplare. 1995 wurde es für den Grammy Award für die beste Rap-Solo-Performance nominiert. VH1 listet es auf Platz acht der „100 Greatest Hip-Hop Songs“. Die Version von Richard Cheese ist aus dem Jahr 2004. Happy Birthday Dre!
Epilog
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Zum Zeit-Artikel - viele Menschen wollen nicht, dass die Grünen an einer nächsten Bundesregierung beteiligt sind. Die Frage ist doch, was für eine Alternative dazu gibt es denn noch? Seit Herr Merz, die CDU mit den Grünen zusammen regieren sieht, gibt es doch eigentlich keine andere Wahl als Grüne in der Regierung. Und was kann den Grünen rechter sein als eine starke AfD im Bundestag? Schließlich sichert nur dies eine Regierungsbeteiligung selbst bei sehr stark gesunkener Wählerschaft, denn es will ja keiner mit der AfD koalieren. Ich glaube, darin kann man auch einen Grund sehen, wieso sich viele konservative, bis sehr konservative Wähler von den bisherigen etablierten Parteien abwenden und vielleicht doch in Erwägung ziehen, eine der schon recht abstrusen Alternativen zu wählen. Aber leider muss man feststellen, dass sie tatsächlich die einzige, wenn auch unliebsame Alternative in der Parteienlandschaft sind.
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