Prolog
Dieser Tage liest man viel über Demonstrationen. Um die Demokratie zu retten müsse man an ihnen teilnehmen. Aber bitte nur an denen mit den richtigen Zielen. Dazu gehören selbstverständlich nicht die Demonstrationen der Bauern, die man sofort diskreditierte. Selbstverständlich ist das Bedrängen von Politikern (Einen Erstürmungsversuch gab es laut Polizei nicht.) abzulehnen. Die Bauernproteste als “rechts” zu diffamieren, basiert allerdings nicht auf Fakten. Die Untersuchungen zum Wahlverhalten von Bauern belegen das. Interessant ist auch, dass das Milieu, welches die Politik am lautesten für vermeintliches Einknicken gegenüber den Bauern kritisiert, sich ein solches als Folge von Aktionen der "Letzten Generation" ausdrücklich wünscht. Doppelmoral as ususal.
Ich gehe grundsätzlich nicht auf Demonstrationen. Parolenhaft Einseitiges ist mir fremd. Massen, die sich einig sind, beunruhigen mich. Das Zeigen von Haltung ersetzt keine Argumente und auch nicht den für eine Demokratie essenziellen Dialog. Zusätzlich befremdet mich das Motto “Gegen Rechts”, denn Rechts ist eine legitime Position innerhalb des demokratischen Meinungsspektrums. Genau wie Links. Für die Balance einer Demokratie ist wichtig, dass beides existiert. Problematisch sind lagerübergreifend Radikalismus und Extremismus. Diese Gleichsetzung aller Strömungen rechts der Mitte dient der Delegitimierung nicht genehmer Meinungen. In dieser Logik ist die CDU identisch mit der NPD. Genau das ist beabsichtigt und fördert die Polarisierung. Hier zeigt sich insgesamt ein bedenkliches Demokratieverständnis.
Im Rahmen der wichtigen Debatten über Rechtsextremismus versuchen interessierte Kreise wieder einmal reflexhaft Linksextremismus zu verharmlosen. Wer ernsthaft behauptet, dieser sei in Deutschland kein relevantes Problem, dem seien die Kriminalstatistiken und Verfassungsschutzberichte der letzten Jahre sowie die eingeleiteten Verfahren der Bundesanwaltschaft zur Lektüre empfohlen. Diese Behauptung ist nachweislich unzutreffend. Auch die Aussage, Rechtsextremismus sei die größte oder gar einzige Gefahr in Deutschland, ist vor dem Hintergrund aller vorliegender Informationen nicht haltbar. Selbstverständlich ist der Rechtsextremismus ein ernstzunehmendes Problem und es wäre falsch, eine Hitparade der Extremismen zu erstellen. Wichtiger ist, jeden Extremismus gleichermaßen als Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat wahrzunehmen.
Der “Spiegel” hält es für berichtenswert, dass bei einer Abschiedsfeier von “Bild”-Mitarbeitern auf dem Tisch getanzt (Waaaas?), Alkohol konsumiert wurde (Um Himmels Willen!) und sich offenbar jemand im Flur erbrach (Ja, kann das denn die Wahrheit sein?). Mich erstaunt die verdruckste Spießigeit, die hier zum Vorschein kommt. Man möchte dem Autor gar nicht von Feierlichkeiten erzählen, die in der Medienbranche der 90er und frühen 2000er Jahre stattfanden. Dagegen wirkt diese Episode bei der “Bild” wie ein Kindergeburtstag. Der “Spiegel” begibt sich hier auf ein Niveau mit der Zeitung, die er so leidenschaftlich kritisiert.
Keine drei Monate nach dem 7. Oktober zeigt sich der Kulturbetrieb erneut von seiner unappetitlichen Seite. Selbsternannte Kulturschaffende empörten sich in einem offenen Brief über eine Antidiskriminierungsklausel als Voraussetzung für Kulturförderung durch das Land Berlin, weil diese auch die Ablehnung von Antisemitismus beinhaltet. Als Begründung wird angeführt, die zugrundeliegende Definition sei “umstritten”. Es ist ein Sumpf.
Es gibt auch gute Nachrichten. Zum Beispiel hat sich seit 2020 die Zahl von Frauen in DAX-Vorständen mehr als verdoppelt. Tendenz steigend. Wer sich der Verschwörungstheorie der Existenz eines Patriarchats in Deutschland verbunden fühlt, wird selbstverständlich Gründe finden, warum das dennoch eine schlechte Neuigkeit ist.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Totalitarismus, Einflußnahme und Verbotsphantasien.
Politik und Gesellschaft
Seit letzter Woche wird angeregt über eine Recherche von “Correctiv” diskutiert. Das Land ist in Aufruhr. Großdemonstrationen wurden organisiert, ein Theaterstück aufgeführt. Mich wundert bezüglich dieser Recherche nur die Verwunderung über sie. Alles, was sie enthält, ist seit Jahren bekannt. Es steht in Büchern und Wahlprogrammen. Es hat bisher nur kaum jemanden interessiert. Bizarre, den Holocaust relativierende, Vergleiche mit der Wannseekonferenz zeigen das Maß der kollektiven Hysterie. Es wird der Eindruck erweckt, die Demokratie stünde kurz vor ihrer Abschaffung. Dem ist nicht so. Sie ist wehrhaft und mitnichten in Gefahr. Besonders beunruhigend sind die totalitären Tendenzen, die sich im Rahmen dieser Situation zeigen: Mehr als eine Million Menschen haben bereits eine Petition unterzeichnet, welche sich dafür einsetzt, Björn Höcke die Grundrechte zu entziehen. Das ist zwar grundsätzlich möglich, in diesem Fall allerdings völlig überzogen. Meiner Meinung nach ist Björn Höcke ein Nationalsozialist und seine Haltung stößt mich ab. Grundrechte gelten allerdings auch für Nazis, solange sie nicht gegen bestimmte Gesetze verstoßen. Demokratie ist kein Ponyhof. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass man Menschen, die anderen die Grundrechte entziehen möchten, zu bekämpfen versucht, indem man sich dafür einsetzt, ihnen die Grundrechte zu entziehen. Christian Rath hat sich in der “TAZ” dazu geäussert.
Über eine Million Menschen haben eine Petition unterzeichnet, die dem Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke zentrale Grundrechte und das Wahlrecht entziehen will. Das ist kein Grund zu antifaschistischer Freude, sondern Grund zu höchster demokratischer Besorgnis. Politische Grundrechte sind wenig wert, wenn sie gerade denen entzogen werden, die sie aufgrund ihrer Gegnerschaft zur aktuellen politischen Mehrheit am meisten brauchen.
Nun sieht aber das Grundgesetz seit 1949 vor, dass Menschen, die bestimmte Grundrechte wie die Meinungsfreiheit zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung „missbrauchen“, damit ihre Grundrechte „verwirken“. Dieser Artikel 18 ist ein Relikt autoritären Denkens, der dringend abgeschafft gehört, bevor er erstmals angewandt wird.
Haben wir nicht Strafgesetze und Gefahrenabwehrgesetze genug? Die Demokratie ist nicht schutzlos. Aber alle Gesetze müssen sich an den Grundrechten messen lassen, abstrakt und in der konkreten Anwendung. Die Gesetze müssen also verhältnismäßig sein, das ist der praktische Sinn der Grundrechte.
Wer Grundrechte für disponibel und entziehbar hält, ist bereits dem autoritären Denken verfallen und damit Teil des Problems, nicht der Lösung. Wer Höcke zudem das passive Wahlrecht entziehen will, macht die Demokratie lächerlich und gefährdet damit das, was wir alle doch verteidigen wollen.
Das autoritäre Überbleibsel - TAZ
Die öffentlich-rechtlichen Medien habe ich schon oft verteidigt und halte Forderungen, sie abzuschaffen, für falsch. Ich bin allerdings der Meinung, dass das gesamte System grundlegend reformiert werden muss. Ein Vorfall, der mich in dieser Meinung bestätigte, ist der einer Grünen-Politikerin, die kürzlich nach eigenen Aussagen Einfluß auf das Programm nahm. Wenn das wahr ist, wäre das ein Skandal. Hoffentlich wird diesbezüglich schnellstmöglich Transparenz hergestellt.
Die NDR-Rundfunkrätin Jessica Kordouni (Bündnis 90/Die Grünen) äußerte ihre Unzufriedenheit. „Tausende gehen gegen rechts auf die Straße, und die ‚Tagesthemen‘ eröffnen mit einem Monarchen“, schrieb Kordouni am Montag auf dem dezentralen sozialen Netzwerk Mastodon. Dabei bezog sie sich auf die Berichterstattung über die Krönung Frederiks in Dänemark. „Ich habe eben Fragen dazu für den morgigen NDR-Programmausschuss eingereicht“, fügte Kordouni hinzu. Ihrer Meinung nach besteht ein Ungleichgewicht zwischen den Berichten über Anti-AfD-Demonstrationen und den Bauernprotesten.
Zwei Tage später eröffnete Moderator Ingo Zamperoni die „Tagesthemen“ mit den Anti-AfD-Demos, die deutschlandweit stattgefunden haben. Mehrmals wurde der Correctiv-Bericht zitiert, demzufolge AfD-Politiker angeblich gemeinsam mit Rechtsextremen einen Plan geschmiedet haben, wonach massenhaft Ausländer aus Deutschland vertrieben werden sollen. Im Laufe der Sendung diskutierte Verfassungsjurist Alexander Thiele sogar ein Verbot der Alternative für Deutschland.
„Die ‚Tagesthemen‘ haben gestern mit einem ausführlichen Beitrag zu den antifaschistischen Protesten, dem AfD-Verbot und der Petition gegen Höcke eröffnet“, schrieb Kordouni später auf Mastodon. „Gestern hatten wir ein sehr konstruktives Gespräch im Ausschuss mit dem Chef der ‚Tagesschau‘“, sagte die Grünen-Politikerin. Die „Fehleinschätzung“ über die Bedeutung der Demos sei bereits am Montag aufgearbeitet worden, so Kordouni.
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes. Der Staatsrechtler Prof. Waldhoff erläutert Chancen und Risiken eines AfD-Verbotsverfahrens. Es ist mitnichten so einfach, wie im Moment oft behauptet.
Kultur
Coverversion der Woche: Boyracer - Give Him a Great Big Kiss
Nachdem Mary Weiss gestorben ist, war die Entscheidung für die heutige Coverversion gefallen. Der Song “Give Him A Great Big Kiss” wurde von Shadow Morton für die Shangri-Las komponiert und produziert. Er erschien Ende Dezember 1964 und landete auf Platz 83 der Billboard Hot 100. Anfang 1965 hielt er sich zwei Wochen lang auf Platz 18 und wurde in diesem Jahr auch auf dem Album “Leader of the Pack” veröffentlicht. Die etwas lärmigere Version von Boyracer ist aus dem Jahr 2003.
Epilog
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