Prolog
Das Jahr neigt sich dem Ende und es wird Zeit, ein wenig Bilanz zu ziehen. Für diese Publikation war es ein gutes 2023. Viele neue Abonnenten kamen hinzu, was mich sehr freut. Zusätzlich erreichten mich zahlreiche Mails mit Lob und auch einige mit Kritik, welche ich - sachlich und konstruktiv formuliert - ebenso schätze. Mitte des Jahres war ich ein wenig unschlüssig bezüglich der Frage, wie/ob es mit diesem Newsletter weitergehen soll. Aus einer Phase des Nachdenkens erwuchs allerdings neue Motivation.
Die Gesellschaft ist im Wandel und nicht jede Veränderung ist eine zum Positiven. Bestimmte Entwicklungen müssen weiterhin genau beobachtet werden. Die Diskussionskultur ist nicht besser geworden, der Rückzug in ideologische Echokammern hat zugenommen. Daraus ergibt sich naturgemäß ein Unwille, sich überhaupt noch mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen. Das ist in einer Demokratie, für deren Funktionsfähigkeit produktiver Streit essenziell ist, gefährlich. Das ohrenbetäubende Schweigen, die Schuldumkehr, und die Relativierung der Vorgänge seit dem 07.10. sind nicht nur der Sündenfall des westlichen Feminismus, sondern des westlichen progressiven Milieus in Gänze. Für mich, der sich mit diesen Kreisen seit vielen Jahren beschäftigt, war dieses Verhalten keine Überraschung. Selektiver Humanismus und Doppelmoral haben in dieser Szene eine lange Tradition.
Es ist dennoch wichtig, miteinander im Gespräch zu bleiben. Dialog ist alternativlos. Deshalb hat es mich sehr gefreut, dass ich in diesem Jahr unter anderem im Deutschlandfunk und auf dem Podium einer Diskussionsveranstaltung mit Andersdenkenden ins Gespräch kommen konnte. Es waren durchweg positive Erfahrungen, die sich hoffentlich im kommenden Jahr wiederholen werden.
Aufgrund zahlreicher Anfragen, wie man den Newsletter unterstützen kann, habe ich nun eine Möglichkeit eingerichtet. Sie ist am Ende der Ausgabe verlinkt. Für Zuwendungen bedanke ich mich im Voraus. Grundsätzlich bleibt diese Publikation kostenlos.
Ab Freitag geht es in die Winterpause, die nächste Ausgabe erscheint am 04.01.2024. Ich wünsche Ihnen, liebe Leser, ein besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Jahreswechsel. Vielen Dank, dass Sie mir die Treue halten!
Ihr
Marcel Peithmann
Politik und Gesellschaft
Es gibt immer wieder Texte, die auf besondere Weise wirken. Sie regen zum Nachdenken an und lassen zwischendurch den Blutdruck in die Höhe schießen. ein solcher Text ist der Folgende. Uwe Volkmann macht sich darin Gedanken über Themen, die auch hier seit der ersten Ausgabe immer wieder vorkommen. Er entwickelt Schlußfolgerungen, denen ich nicht vollumfänglich zustimme, die allerdings wert sind, über sie nachzudenken. Es sind genau diese Fragen, die den Diskurs in den kommenden Jahren dominieren werden.
Auf besonders bizarre Weise begegnen sich beide Seiten derzeit im Streit über das sogenannte N-Wort, bei dem die eine Seite schon aufheult, wenn es auch nur zitierend ausgesprochen wird, während die andere beklagt, dass man genau dies nicht mehr tun dürfe; man spricht es dann in der Folge umso häufiger aus, um die anderen zu ärgern. In den USA, aus denen auch diese Diskussion zu uns herübergeschwappt ist, ist alles noch schlimmer: Die Liberalen und die Linken, was dort oft dasselbe ist, sprechen über viele ihrer angeblich hinterwäldlerischen Landsleute nur noch mit einer Mischung aus Überheblichkeit und Verachtung, fühlen sich aber selbst bis ins Mark getroffen, wenn jemand öffentlich feststellt, dass es biologisch zwei Geschlechter gibt. Die Konservativen und Rechten wiederum, was dort ebenfalls dasselbe ist, klagen lautstark über die Auswüchse von Wokeness und Cancel Culture, eliminieren aber selbst alles aus den Schulbüchern, was sie in einem auch nur entfernten Zusammenhang damit sehen.
In die Lücke treten soziale Normen und Praktiken, die nun dem Diskurs die Regeln einzuziehen versuchen, die die Verfassung nicht mehr enthält. Tatsächlich lassen sich Beschränkungen der Rede durch soziale Normen vielfach gerade in solchen Gesellschaften beobachten, in denen – wie etwa in den USA – die rechtlichen Grenzen ganz weit gezogen sind, aber an allen möglichen und unmöglichen Orten ein „comment“ existiert, der verhindert, dass man jederzeit alles sagt, was man rechtlich sagen darf.
Das Problem solcher Normen ist freilich, dass sie in Zeiten abnehmender Gemeinsamkeiten und zunehmender Orientierungsverluste kaum noch gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit beanspruchen können. Ihre Geltung beschränkt sich auf einen abgegrenzten sozialen Raum oder eine abgegrenzte soziale Gruppe. Neben den Filterblasen und Echokammern des Internets sind auch Universitäten mittlerweile ein solcher abgegrenzter Raum, in denen sich, ablesbar an den von vielen mittlerweile verinnerlichten Formen des Genderns, längst eigene Regeln des Sprechens etabliert haben, die in der Welt da draußen – noch – auf Befremden stoßen: Man lässt hier längst auch nicht mehr alle zu Wort kommen, die draußen ohne Weiteres noch mitreden können.
Die Grenzen des Sprechens sind hier schon deutlich enger gezogen und werden es umso mehr, je mehr Mitglieder aus der Universität einen „safe space“ machen wollen, in dem sie von anderen Ansichten erst gar nicht behelligt werden. Konflikte entstehen typischerweise, wenn einzelne solcher Gruppen ihre Regeln den anderen aufzwingen wollen oder bei den anderen auch nur dieser Eindruck erweckt wird; man fühlt sich dann schnell erzogen und reagiert seinerseits mit dem Vorwurf des Moralismus oder der Hypermoral. Auf diese Weise wird dem hohen moralischen Anspruch der einen selbst ein moralisches Argument entgegen- und damit zumindest auf dieser Ebene Waffengleichheit hergestellt. In der Sache weiter führt weder das eine noch das andere.
Man wird solche Praktiken und die Strategie, die mit ihnen verfolgt wird, als das benennen müssen, was sie sind, nämlich Kuratierungen. Mit ihnen soll die gesellschaftliche Debatte fürsorglich in ähnlicher Weise befriedet und eingehegt werden, wie es früher, als man noch auf ihn hörte, einigermaßen verlässlich der öffentlich-rechtliche Rundfunk erledigt hatte, der seinerseits kraft Gesetzes auf Gebote wie Ausgewogenheit und Sachlichkeit verpflichtet ist. Der Begriff lässt vielleicht auch das Problem klarer erkennen, das mit ihnen verbunden ist: Als Kuratierungen sind sie ebenso wie der liberale Mainstream, dem sie entspringen, immer in der Gefahr, zu überdrehen und das Sprechen über jenes Maß hinaus einzuengen, das es für eine offene und lebendige Demokratie braucht. Am Ende steht dann die „wahre“ oder „befreiende Toleranz“, wie Herbert Marcuse sie 1965 hellsichtig gefordert und von der „repressiven Toleranz“ gegenüber allem und jedem abgegrenzt hatte: als „demokratische erzieherische Diktatur freier Menschen“, auch damals schon säuberlich geschieden als notwendige „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts“ und großzügiger „Duldung von Bewegungen von links“.
Ein entferntes Abbild dieser Erziehungsdiktatur mag man heute in der Leichtfertigkeit erkennen, mit der auch nur die Möglichkeit einer Abweichung vom Mainstream unter Generalverdacht gestellt wird: jeder Kritiker der Corona-Maßnahmen ein Querdenker, jeder, der mögliche Folgeprobleme von Migration benennt, ein Rassist, jeder, der das N-Wort auch nur zitatweise in den Mund zu nehmen wagt, ein Nazi. Dagegen wird man wenig mehr tun können, als den liberalen Mainstream permanent und bis es nervt an seine eigenen Prinzipien zu erinnern, die gerade auch gegenseitige Achtung und Respekt einschließen.
Auch wird es, wenn es um die Regeln der öffentlichen Rede geht, nicht auf die Empfindlichsten ankommen können, auch wenn man das heute oft anders liest: Irgendwer ist immer beleidigt, die einen, wenn irgendwo eine Karikatur des Propheten zu sehen ist, die anderen, wenn sich jemand im Karneval als Indianer verkleidet.
Andererseits wird es immer Dinge geben, über die es nichts zu diskutieren gibt, und Leute, mit denen man nicht diskutieren kann. Auch eine noch so liberale Gesellschaft wird deshalb nicht um Ausgrenzungen herumkommen, die dann typischerweise gerade auch über die Festlegung von Regeln der Rede erfolgen. In der Unsicherheit, die sie befallen hat, muss sie nur aufpassen, nicht allmählich das rechte Maß zu verlieren.
Die Regeln des Redens - Frankfurter Allgemeine Zeitung
In letzter Zeit wird über ein mögliches AfD-Verbotsverfahren diskutiert. Ich halte Parteiverbote grundsätzlich für falsch, weil sie das Grundproblem nicht lösen. Die Menschen und ihre Ansichten verschwinden dadurch nicht. Sie organisieren sich einfach neu oder engagieren sich anderswo. Das kann man natürlich auch anders sehen. Deshalb empfand ich die Ansätze von Christoph Möllers im SZ-Interview als lesenswert.
Das zweite NPD-Verbotsverfahren, bei dem Sie Vertreter des Bundesrates waren, hat sich über vier Jahre gezogen. Ein AfD-Verfahren wäre nicht kürzer. Könnte es politischen Schaden anrichten - etwa, indem es die Polarisierung der Gesellschaft weiter verstärkt?
Das ist nicht auszuschließen. Wir wissen nicht, wie lange das Verfahren dauert und wie es ausgeht. Ich würde das sehr ernst nehmen. Auf der anderen Seite hat ein Verbotsverfahren erst einmal den Zweck, zu markieren, dass eine bestimmte Form von Politik nichts mehr mit den Grundlagen des Grundgesetzes zu tun hat. Und auf diese Markierung einfach zu verzichten, wäre politisch auch gefährlich. Man hat ein wenig das Gefühl, dass die demokratischen Parteien Angst davor haben, das Mittel eines Verbotsverfahrens zu diskutieren, anstatt es als eine Option zu behandeln. Eine Option aus Furcht vor den Folgen auszuschließen, ohne diese Folgen wirklich abgeschätzt zu haben, ist aber nie richtig. Wir brauchen eine Debatte darüber, ob man dieses Instrument benutzen will. Es genügt nicht, einfach einen Verbotsantrag zu stellen und den Rest dem Gericht zu überlassen. Wenn man es machen will, muss man es erklären, offensiv vertreten und auch versuchen, die Anhänger der AfD anzusprechen. Eine rein rechtliche Strategie wird nicht gelingen.
Die AfD-Mitglieder und ihre Wähler verschwinden nicht mit einem Parteiverbot, Gesinnungen kann man nicht verbieten. Was hilft dann ein aufwendiges Verbotsverfahren?
Es ist ein Unterschied, ob Leute extremistische Ansichten haben oder ob sie sich auch politisch handlungsfähig organisieren, um staatliche Herrschaft zu gewinnen. So eine Organisation baut man nicht einfach so wieder auf. Deswegen glaube ich, dass für die AfD die Aussicht auf ein Verbotsverfahren nicht angenehm ist. In so einem Verfahren wird ihre mögliche Verfassungs- und Demokratiefeindlichkeit offen untersucht. Vielleicht überschätzen wir auch ein wenig den Stand des Allgemeinwissens darüber, wo die AfD steht. Auch nicht alle ihre Wähler sind immer mit allen extremen Positionen konform oder auch nur hinreichend über diese informiert. Darüber könnte ein Gerichtsverfahren Klarheit schaffen.
Sehen Sie die Gefahr, dass ein Partei-Verbot Teile der AfD-Anhänger weiter radikalisieren und in die Illegalität gewaltbereiter Nazi-Kameradschaften treiben könnte?
Das ist ein überschießendes Argument gegen jede Form staatlicher Regulierung: Wenn man Drogenhandel oder Mord verbietet, wird weiter gedealt oder gemordet, und dazu noch im Verborgenen. Aber ein demokratischer Staat muss sich die Fähigkeit zutrauen, damit mit Hilfe seiner Sicherheitsorgane umzugehen. Ich glaube, dass die Bereitschaft, in den Untergrund gehen, auch unter den Anhängern der AfD nicht allzu weit verbreitet ist. Ich will diese Gefahr nicht auf die leichte Schulter nehmen, der Staat muss sich darauf vorbereiten. Aber das Risiko der Radikalisierung kann kein ausschlaggebendes Argument sein. Man kann nicht einfach eine verfassungsfeindliche Partei zulassen, weil man Angst vor den Folgen eines Verbots hat. Das wäre unter Bedingungen von Rechtsstaatlichkeit eine Erpressung, der man nachgibt.
"Es genügt nicht, einfach einen Verbotsantrag zu stellen" - Süddeutsche Zeitung
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes. Dr. Andreas Erdmüller spricht zum Thema “Das WOKE-Phänomen: Frontalangriff auf die Werte von Wissenschaft und Aufklärung?”
Der Vortrag beschäftigt sich mit dem Woke-Phänomen und seinen gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Kernthese des Referenten: Wer mit schlechten Argumenten für sinnvolle Anliegen kämpft, also etwa für Antirassismus und gegen Diskriminierung, schadet der guten Sache, für die er eigentlich argumentieren will. Der Referent nimmt Bezug auf die Werte der Aufklärung, fordert eine Rückkehr zu diesen Werten und eine Abkehr von dem, was im öffentlichen Diskurs als "woke" bezeichnet wird. Dass der Begriff "woke" von Feinden der Aufklärung und von Gegnern der genannten Anliegen (Antirassismus und gegen Diskriminierung) als Kampfbegriff genutzt wird, darf kein Argument sein, die philosophisch gut begründete Argumentation des Referenten von vorneherein gar nicht erst zuzulassen – wie es bereits im Vorfeld dieser Veranstaltung versucht wurde.
Kultur
Heute verzichte ich auf die Coverversion der Woche und stelle Ihnen, ganz im Sinne des Servicegedankens, einen Kurzlink zu “Weihnachten bei den Hoppenstedts” zur Verfügung. Damit Sie nicht, wie jedes Jahr, danach suchen müssen. Sie werden mir dankbar sein.
Epilog
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Danke für das Video zum Vortrag von Prof. Edmüller. Ich hab mir schon länger gedacht, daß es Zeit wird, daß sich die GWUP endlich mit diesem Phänomen beschäftigt, weil das eigentlich genau zu den Themen gehört, die dieser Verein kritisiert. So ganz scheint man sich an das Thema aber doch nicht heranzutrauen - ich hab dazu nämlich noch einen anderen Beitrag gefunden, der nicht minder interessant ist: https://www.youtube.com/watch?v=KazM8JXIJPc