Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #130
Enthemmte Rhetorik, Humanismus und journalistische Standards
Prolog
Es mag an der Kombination aus Sommerloch und unbefriedigendem deutschen Sommer liegen: Die Debatten werden unversöhnlicher, die den Debatten zugrundeliegenden Themen banaler. Mir fehlt außerdem zunehmend der Bezug zu einer Diskussionskultur, in der es nicht mehr um den Austausch von Argumenten auf Augenhöhe geht, sondern immer häufiger um ganz andere Dinge.
Geschäftsmodelle, Selbstdarstellung und Ideologie ersetzen immer häufiger seriöse Motive für die Teilnahme an einem Austausch. Das ist nicht nur in den sozialen Medien der Fall, wo ohnehin längst ein Hauen und Stechen an der Tagesordnung ist. Auch im persönlichen Umgang wird das Klima rauher.
Es ist in diesem Zusammenhang immer wieder tragisch, wenn Menschen zu dem werden, was sie mit guten Argumenten kritisieren und diese Entwicklung nicht einmal bemerken. Weltanschauungsübergreifend gilt: Das Herumwedeln mit Werten sagt nichts aus. In konkreten Handlungen zeigt sich, ob die Wedelnden von ihnen propagierte Werte tatsächlich leben. Nicht selten offenbart sich eine riesige Diskrepanz.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um enthemmte Rhetorik, Humanismus und journalistische Standards.
Politik und Gesellschaft
Eine Studie der Hertie School ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Seenotrettung bezüglich Migration kein sogenannter Pull-Faktor ist. Das ist von daher interessant, weil diese Studie etwas widerlegt, was gar nicht behauptet wird. Es steht auch gar nicht zur Debatte, dass Menschen, die in Seenot geraten, selbstverständlich gerettet werden. Der Pull-Faktor ist die Gewissheit, nach Europa gebracht zu werden. Es gibt Länder, die mit der Strategie Rettung in Kombination mit Verbringung zum Ausgangsort die Überfahrtsantritte deutlich verringert haben. Letztlich geht es darum zu verhindern, dass sich Menschen überhaupt auf den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer begeben. Auch hier verhindert die schlechte Diskussionskultur eine vernünftige Debatte. Wer diese Dinge anmerkt, dem wird unterstellt, er sei dafür, dass Menschen ertrinken. Mit einer solchen Unverschämtheit endet natürlich jedes Gespräch. Leidtragende dieser moralischen Überheblichkeit sind die Flüchtlinge. Profiteure sind Schlepper, denen menschliche Schicksale tatsächlich egal sind.
In a modelling study published this week in Scientific Reports, Hertie School Professor Julian Wucherpfennig and his co-authors test the assertion that search-and-rescue operations in the central Mediterranean lead to more crossing attempts and therefore more migrant deaths. Their findings contradict this claim, showing instead that “migration across the central Mediterranean Sea between 2011 and 2020 may have been driven by factors such as conflict or economic or environmental conditions, rather than search-and-rescue operations”.
Die ehemalige stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“, Inge Bell, hat sich vor Gericht gegen eine sogenannte Transfrau durchgesetzt, die sie wiederholt beleidigt hatte. Bei der Schimpfenden handelt es sich um die Stuttgarter Grünen-Politikerin Maike Pfuderer. Im Interview mit dem “Focus” schildert sie die Situation.
Wenige Tage später veröffentlichte sie Posts, in denen sie mich verleumdete und behauptete, ich würde, sinngemäß, trans- und islamfeindlich sein. Ich hätte offen mit Rechtsextremisten wie Beatrix von Storch von der AfD auf einer Bühne gestanden oder hätte zusammen mit Boris Palmer gegen den Islam protestiert. Das waren einfach völlig falsche Tatsachenbehauptungen.
Als erstes haben wir ihr eine Unterlassungserklärung geschickt, die von ihr jedoch nicht unterzeichnet wurde. Sie hat auch Bilder von mir gepostet und mich damit quasi zum Abschuss freigegeben. Dazu kam, dass ich von ihr immer wieder als „TERF“, „Feminazi“ oder ähnliches bezeichnet wurde.
Ursprünglich sollte „TERF“ wohl eine deskriptive Beschreibung sein und steht im Englischen für Trans-Exclusionary Radical Feminist („Trans-ausschließender Radikalfeminist“). Das sollte all jene beschreiben, die etwas gegen Trans-Personen haben oder diese Menschen "ausschließen“ wollen, was immer das heißen soll.
Seit 2020 ist die Stimmung jedoch gekippt und das Wort wird als Schimpfwort verwendet, um vor allem Frauenrechtlerinnen und deren Verbündete in eine bestimmte Ecke zu stellen, um sie abzuwerten und von vornherein für den öffentlichen Diskurs zu disqualifizieren oder davon auszuschließen.
Begriffe wie „Nazi“, „faschistoid“ und „TERF“ werden dann gerne zusammen gegen alle verwendet, die abseits jeder Diskriminierung einzelne Facetten des Themas, etwa das geplante Selbstbestimmungsgesetz, kritisch hinterfragen wollen. Und damit keine Frau und kein Mädchen diese Beleidigungen ertragen muss, bin ich eben den Weg vors Gericht gegangen.
Maike Pfuderer ist schlichtweg nicht vor Gericht erschienen, deswegen hat das Landgericht München I ein sogenanntes Versäumnisurteil erlassen. Jetzt ist es ihr unter Androhung von 250.000 Euro Ordnungsgeld oder Ordnungshaft untersagt, mich weiterhin als „TERF“ zu beleidigen oder weiter zu behaupten, ich würde mit Rechtspopulisten auftreten.
Der Diskurs ist höchst explosiv und wird von einem kleinen, aber sehr lauten Teil der Trans-Community, vor allem der aktivistischen Transfrauen, fast schon militant aggressiv gehandhabt. Nicht nur in den sozialen Medien. So wurde ich – zusammen mit anderen Feministinnen - etwa auf einer Redeveranstaltung zum Internationalen Frauentag in München höchst aggressiv zusammengeschrien.
Eine normale, sachliche Debatte, wie man sie in einer Demokratie führen und auch aushalten sollte, ist nicht möglich. Stattdessen wird pauschal behauptet, ich und andere Frauen würde Menschen „die Identität absprechen“.
Sie sprechen sich sehr klar gegen das geplante Selbstbestimmungsgesetz der Ampel aus. Wieso?
Wo soll ich da anfangen? Es wird hier einfach keine vernünftige Rechtsfolgenabschätzung gemacht. Vor allem Frauenrechte und Kinderschutz werden dabei nicht berücksichtigt. Es kann doch nicht sein, dass jeder per Sprechakt zur Frau erklären darf und dann ungehindert in Frauenschutzräume eindringen darf. Dazu gehören auch Umkleiden oder Toiletten. Durch das geplante Selbstbestimmungsgesetz gibt es praktisch keinerlei Überprüfung mehr, ob jemand tatsächlich transident ist. So können sich auch Gewalttäter Zugang zu Schutzräumen erschleichen. Das BKA warnt auch vor Missbrauch.
Niemand sollte Diskriminierung ausgesetzt sein, das ist schlimm, gerade Mädchen und Frauen kennen das ja zur Genüge. Natürlich möchte ich, dass auch Transmenschen so leben können, wie sie es wollen. Sich so kleiden und geben können, wie sie es wollen, so wie ich es auch jeder Frau oder jedem Menschen wünsche.
Sicher braucht es eine vernünftige, akzeptable Reform des jetzigen Transsexuellengesetzes. Aber nicht auf Kosten von Mädchen und Frauen. Gerade deshalb darf es das Selbstbestimmungsgesetz nicht geben – und es braucht dringend eine breite Debatte und eine Aufklärung der Bevölkerung, die einer Demokratie würdig sind.
Frauenrechtlerin siegt gegen Transfrau vor Gericht und schimpft über „militante Minderheit“ - Focus
Der Aktivist und Theologe Stephan Anpalagan hat die groteske Übertreibung bei Twitter zur Perfektion geführt. Der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen schwankt stark. Nun hat er in einem Beitrag die Bundespolizei als Nachfolgeorganisation der Gestapo bezeichnet, was nicht nur faktisch unzutreffend, sondern hochgradig bizarr ist. Wenn ich solche Sätze lese, frage ich mich immer, in welcher Welt manche Menschen leben. Zusätzlich verwundert diese Behauptung im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Anpalagan als der Lehrbeauftragter der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW arbeitet. In den Augen mancher hat er es damit zu weit getrieben und wurde angezeigt. An der Hochschule darf er bleiben. Anders, als eine Kollegin, die wegen ähnlicher Ausfälligkeiten herausgeworfen wurde. Es ist bemerkenswert, auf welchem Niveau sich Angehörige bestimmter Milieus über staatliche Behörden äußern. Das dahinterstehende Demokratisverständnis lässt sich intellektuell schwer mit einer nicht selten bestehenden beruflichen Verbundenheit mit diesem Staat in Einklang bringen.
Manuel Ostermann, Vize-Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), zeigte ihn wegen eines Tweets an – und beschwerte sich beim NRW-Innenminister, dass ein solcher Mann Polizisten ausbilde. Denn Anpalagan arbeitet nebenberuflich als Lehrbeauftragter der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW (HSPV).
Den Anlass für die Anzeige bot ein Tweet Anpalagans an den Polizisten Ostermann: „Vielleicht sollte ein Mitglied der Gestapo-Nachfolgeorganisation kleinere Brötchen backen“, schrieb Anpalagan. Ostermann sah dadurch die Polizei als Gestapo, also als Geheimpolizei der Nazis verunglimpft. Was aus der Anzeige wird, bleibt abzuwarten. Die Polizeihochschule jedenfalls folgte Ostermanns Kritik nicht in Gänze. Sie entschied nun, dass der Kampf-Twitterer „bis auf Weiteres“ noch Polizisten unterrichten darf.
Natürlich ist es grob unfair, die heutige deutsche Polizei als Gestapo-Nachfolger zu definieren. Nur: Vollkommen abwegig ist es für einen sachfremden Laien auch wieder nicht. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, die Bundesrepublik sei als Völkerrechtssubjekt zwar nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, wohl aber mit diesem identisch. Da kann man schon durcheinanderkommen bei der Frage nach der Kontinuität zum Nazi-Staat.
Bisweilen verkündet er zwar atemberaubende Falschinformationen. Und das auch noch in apodiktischem Ton. Etwa bei seiner fast schon wieder anrührenden Beteuerung, es gebe „keine einzige kriminologische Erkenntnis darüber, dass ‚Migrationshintergrund‘, ‚Ethnie‘ & ‚Religion‘ Kriminalität begünstigen würden. Keine einzige.“ Da seien ihm versierte Forscher wie Christian Walburg empfohlen.
Der Kriminologe der Uni Leipzig erforscht seit Jahren Zusammenhänge zwischen Migration und Kriminalität. In einigen Deliktsbereichen, so sagte dieser Experte der Bundeszentrale für politische Bildung, bestehe „in der Wissenschaft“ sehr wohl „relative Einigkeit, dass die soziokulturellen Verhältnisse im Herkunftsland eine Rolle spielen“. Offenkundig geraten Anpalagan bei seinen Herzensthemen manchmal Wunsch und Wirklichkeit durcheinander. Und ebenso offensichtlich könnten auch viele andere Deutsche mit ausländischer Ahnenreihe seinen Job übernehmen.
Eine weitere Gefahr, für die Polizeianwärter gewappnet werden müssten, benannte schon vor Jahren Dietrich Bredt-Dehnen, lange Jahre leitender NRW-Polizeiseelsorger: Bei manchen Polizisten drohe ein „verzerrtes Migrantenbild“ zu entstehen. „Wir fragen uns, ob einige Polizisten anfällig werden für zuwandererfeindliche, rassistische Ansichten, wenn sie zum Beispiel jahrelang täglich in Brennpunktwachen mit bestimmten Bevölkerungsgruppen als Täter konfrontiert werden, etwa Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“, sagte er dieser Zeitung. Angesichts solcher Herausforderungen der Polizei in einer Zuwanderungsgesellschaft kann man zwar über die Personalie Anpalagan streiten, nicht aber über das von ihm gelehrte Fach „interkulturelle Kompetenz“.
Wird der Feindbild-Prediger nun milder? - Welt
Dass ich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk grundsätzlich für eine gute Sache halte, habe ich hier mehrfach betont. Umso mehr ärgern mich die dortigen Mißstände, die man kaum noch anders als mit dem Wort “strukturell” (See what I did there?) beschreiben kann. Vor allem weltanschaulich scheint dort in manchen Bereichen eine Betriebsblindheit zu herrschen, dass sich die bedauerlichen Einzelfälle in letzter Zeit häufen. Imzwischen wird auch vermehrt Kritik von Menschen laut, die das System von innen kennen. In diesem Fall Peter Voß, ehemaliger Intendant des SWR und stellvertretender Chefredakteur des Heute-Journals.
Da wäre der Auftritt einer WDR-Mitarbeiterin, die die Aktion lobte, weil sie uns „zum Nachdenken anregt“, nämlich über das Fleisch, das wir zu billig kaufen, gar nicht nötig gewesen. Erstaunlich auch, dass wir dazu noch angeregt werden müssen, wenn man sich die Penetranz der öffentlich-rechtlichen Programme im Kontext mit dem Klimawandel vergegenwärtigt. Im Übrigen war’s natürlich ein „saublödes“ Missverständnis.
Das riecht zwar fast so streng wie Gammelfleisch nach einer Ausrede, aber es kann natürlich, „Bild“ hin, WDR her, so gewesen sein. Nur eine Frage beantwortet der Sender nicht: Warum hat die WDR-Kollegin überhaupt Stellung genommen und dies nicht schlicht verweigert – ganz gleich, ob der Reporter sie zunächst falsch oder richtig verstanden hat? Oder wusste sie nicht, dass das nun mal nicht geht? Und wenn sie es nicht wusste, was sagt das über ihre Qualifikation aus?
Vorher war es der längst im Saft der eigenen Polemik brutzelnde Herr Böhmermann, der das ZDF in Verlegenheit brachte. Denn rauswerfen kann man ihn wohl kaum, mag er noch so oft bewährte Demokraten Nazis nennen. Schließlich hat er’s ja nicht im Programm getan, dafür muss man ihm schon mal dankbar sein. Es war eine „private“ Äußerung – als ob bei seiner Bekanntheit, die er wesentlich dem ZDF verdankt, irgendeine öffentliche Äußerung von ihm noch privat sein könnte.
Gesetzt den Fall, ein anderer öffentlich-rechtlicher Spaßmacher würde „privat“ etwas sagen, das mit ein wenig bösem Willen als „rechtspopulistisch“ gebrandmarkt werden könnte – würde man da auch so sorgfältig differenzieren?
Vielleicht wollte Böhmermann aber jetzt nur den Kollegen des Jugend-Netzwerks „Funk“ beispringen, die unter dem Titel „Die da oben“ AfD, CDU, CSU und FDP in einen Topf mit der Aufschrift „rechts“ warfen. Für den infamen Werbeknaller der Funk-Macher hat sich der SWR entschuldigt, aber interessanter ist eine Passage im Beitrag selbst. Denn abgesehen davon, dass sie offenbar schon durch die Unterscheidung von „rechts“, „rechtsradikal“ und „rechtsextrem“ intellektuell überfordert sind, liefern sie eine bemerkenswerte soziologische Analyse ab: Alle Rechten haben demnach „einen gemeinsamen Nenner. Nämlich, dass sie von einer Hierarchie in der Gesellschaft ausgehen, die sie nicht auflösen wollen, sondern sagen: Das ist die natürliche Ordnung der Dinge, und die gilt es aufrechtzuerhalten“. Leider wird nicht gesagt, welcher Politiker von CDU, CSU oder FDP einen solchen Unfug erzählt haben soll.
Und dann ist da noch Negah Amiri, deren Unterhaltungswert ich inzwischen größer finde als den des Herrn Böhmermann. Sie kommt frisch und locker daher, und spricht eine Klientel unter jungen und sehr jungen Leuten an, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk sonst kaum mehr erreicht. Ihre „Never Ever“-Sendung über „sexy Klima-Aktivismus“ begann ebenfalls mit dem Alibi-Bekenntnis, dass sie selbst sich nicht auf der Straße festkleben würde, und geriet dann zur Apologie für die Fanatiker der Letzten Generation und Extinction Rebellion, die sich eine bessere Plattform kaum hätten wünschen können.
Der Hessische Rundfunk reagierte auf die Kritik daran mit einem bemerkenswerten Hinweis: Die Amiri-Sendung sei kein „nachrichtlich-berichtendes Format“, folglich gehöre es „zum Konzept der Sendung, auch mit bewussten Übertreibungen von Emotionen zu arbeiten“. Welch bestechende Logik: Wir machen es mit Absicht, also muss es richtig sein. Ist es nicht gerade das unreflektierte Schüren von Emotionen, das direkt oder in dialektischer Wechselwirkung die Leute in den rechten oder linken Populismus treibt?
Was dann weiter kein Problem wäre, wenn es auch ein entsprechendes Angebot für die vielen Gebührenzahler gäbe, die sich auch auf diesem Feld mal eine andere Optik und Stoßrichtung wünschen. Da wird dann auf Dieter Nuhr verwiesen, der auf seinen Schultern die Last stemmen muss, die das Ganze mühsam in der Balance zu halten scheint. Dabei würde es genügen, wenn in den seriösen Sendungen, also den nicht-satirischen, diese Balance hergestellt würde. Aber ist das der Fall? Sind die zeitkritischen Magazine fähig und willens, eindimensionale Wahrnehmungen auszugleichen, indem sie tiefer schürfen und gegenüber vermeintlichen Selbstverständlichkeiten relativierende Fakten und Argumente zutage fördern? In meinem nicht ganz kleinen Bekanntenkreis ist niemand mehr, der dies schlicht mit Ja beantworten würde.
Aber entscheidend bleibt doch die Auswahl und Behandlung vieler und vielfältiger Problemfelder in der Sache. Da scheint mir nach wie vor bei den eigentlichen Reizthemen – vor allem beim Themenkomplex Migration und Integration und bei der Frage der richtigen Strategie gegen die zunehmende Erderwärmung – ein Defizit an Differenzierung zu bestehen. Und nicht nur bei diesen Themen ersetzt der Predigerton noch zu oft die nüchterne Analyse.
Ansonsten erfährt man zum gefühlt tausendsten Mal etwas über die Situation von Heimbewohnern, Lokomotivführern oder Krankenschwestern, aber selten, wie viel Letztere denn wirklich verdienen. Man erfährt etwas über ungleiche Löhne, Gehälter und Renten in Ost und West, aber nicht über die ungleiche Kaufkraft, die den Befund relativiert. Man erfährt etwas über die schon aufgrund des Streckenausbaus unvermeidlichen Verspätungen bei der Bahn, aber nicht darüber, dass die extreme Verbilligung der Fahrpreise zum gegenwärtigen Zeitpunkt dann wohl ein Fehler ist, der zur Malaise beiträgt und unter anderem dazu führt, dass Behinderte in den überfüllten Zügen keinen Sitzplatz finden und meistens auch keinen reservieren können. Man erfährt viel über den Bedarf an Radfahrwegen, aber nicht, dass das Auto für viele ältere Menschen im Hinblick auf Netze und Zustand unseres öffentlichen Nahverkehrs alternativlos ist.
Politikskandale und Greenwashing in ARD und ZDF - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Alexander Kissler befasst sich in der NZZ ebenfalls mit dem Phänomen “zufällig” angetroffener Passanten und Experten, deren Funktion dem Zuschauer, aus welchem Grund auch immer, vorenthalten wird.
Immer öfter aber sind die befragten Passanten interessierte Akteure, die ihre eigene Agenda als Volkes Stimme ausgeben. Da der öffentlichrechtliche Rundfunk die Rosstäuscherei entweder toleriert oder sogar inszeniert, verschärft eine solche fingierte Authentizität das Glaubwürdigkeitsproblem von ARD und ZDF. Die Sender erscheinen als Partei, wo sie Beobachter sein wollen.
Eine Kundin lehnte solche Beutelschneiderei ab, eine andere zeigte sich hingegen aufgeschlossen. So werde man zum Nachdenken angeregt. Schnell stellte sich heraus: Die umweltschutzbewegte Kundin war Mitarbeiterin des Westdeutschen Rundfunks, der den fraglichen Beitrag auch produziert hatte. Der WDR interviewte sich also selbst.
«Tagesschau» und «Tagesthemen» sind Abspielstationen vorproduzierter Beiträge aus ganz verschiedenen Redaktionen. Der WDR unter seinem alerten Intendanten Tom Buhrow ist für das jüngste Debakel verantwortlich. So wie es auch der WDR war, der im vergangenen Jahr in den «Tagesthemen» einen Redakteur die deutsche Energiepolitik kommentieren liess, der zugleich bei den Grünen auf kommunaler Ebene als Schriftführer aktiv war. Dass die Grenzüberschreitung in beiden Fällen dem grünen Umfeld zugutekam, ist symptomatisch. Die Brandmauer des öffentlichrechtlichen Rundfunks gegen linken Aktivismus hat Risse.
Bereits im Oktober 2019 liess das ZDF eine grüne Bundestagsabgeordnete als vermeintlich zufällige Kundin in einem Bioladen zu Wort kommen. Die Parlamentarierin, über deren Status nicht aufgeklärt wurde, begrüsste den Verkaufsstopp für eine spezielle Hirse. Diese entstammte der Produktionsstätte eines AfD-Mitglieds.
Ebenfalls im ZDF wurde dreieinhalb Jahre später eine Passantin nach ihrer – durchaus positiven – Einschätzung zur damals autofreien Berliner Friedrichstrasse befragt. Dass es sich um eine grüne Landespolitikerin handelte, die die Massnahme der grünen Verkehrssenatorin guthiess, teilten die Macher nicht mit.
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg wiederum fragte im September 2021 einen grünen Landtagsabgeordneten vor der Kamera nach seiner – natürlich positiven – Einstellung zu den neuen Radfahrwegen und verkaufte ihn als zufällig ausgewählten Radfahrer.
Gerade nun traten im RBB «einige Badegäste» auf, die die neuen Einlasskontrollen in Berlins Freibädern als schikanös und vorurteilsbeladen ablehnten. Unerwähnt blieb, dass die Befragten teils für die grüne Heinrich-Böll-, teils für die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung tätig sind.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass immer dann grün-linke Mandats-, Amts- oder Sympathieträger vorbeischlendern, wenn das öffentlichrechtliche Fernsehen seine O-Töne einholt. Von der anderen Seite des politischen Spektrums sind solche verdeckten Rollenkollisionen bis jetzt nicht bekannt. Auf jeden Fall wäre es die Pflicht der Journalisten, neben dem Namen auch die Funktion des jeweiligen Gegenübers abzufragen.
Im Fernsehen des Hessischen Rundfunks outete sich unlängst eine Moderatorin explizit als Klimaaktivistin. Ausserdem umarmte, herzte und lobte Negah Amiri im Auftrag von HR und WDR ein Mitglied der Endzeitsekte Extinction Rebellion und sang dann in ihrem fast halbstündigen Werbeformat für die Letzte Generation und verwandte Bewegungen unter dem Titel «Sexy Klima-Aktivismus»: «Klimaaktivismus bringt mich zum Orgasmus.»
Kultur
Gero von Boehms sehenswerte Dokumentation “Henry Miller – Prophet of Desire” aus dem Jahr 2016 gibt es nun auch auf Netflix zu sehen.
Coverversion der Woche: Ben Folds Five - Rain Drops Keep Falling on My Head
Heute hätte B.J. Thomas, der erste Interpret des Songs Geburtstag. Der Titel passt außerdem zum Wetter. Das Lied wurde von Burt Bacharach und Hal David für den Film Butch Cassidy and the Sundance Kid (1969) geschrieben. Der Text handelt von jemanden, der seine Probleme und Sorgen überwindet, indem er erkennt, dass „es nicht mehr lange dauern wird, bis das Glück auf mich zukommt.“ Die Single von B. J. Thomas erreichte Platz 1 der Charts in den USA, Kanada und Norwegen und Platz 38 der britischen Single-Charts. Im Januar 1970 belegte er vier Wochen lang die Spitze der Billboard Hot 100 und war außerdem der erste amerikanische Nr. 1-Hit der 1970er Jahre. Zusätzlich stand der Titel sieben Wochen lang an der Spitze der Billboard Adult Contemporary-Charts. Billboard stufte ihn als den viertbesten Song des Jahres 1970 ein. Nach Angaben des Magazins wurden bis zum 14. März 1970 über 2 Millionen Exemplare verkauft. Er gewann einen Oscar für den besten Originalsong und Bacharach außerdem den Preis für die beste Originalmusik.
Epilog
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Uiuiui, die Auszüge aus dem FAZ Artikel waren schon ziemlich hart. Mir scheint der Verfasser hat sich nicht das Video von die da oben angeschaut zum Thema Rechts. Ich vermute mal, die Aussage war eher auf den unsäglichen Instagram Post gezogen. Ich persönlich fand die Reihe, die sie zum Thema rechts und links gemacht haben sehr interessant und äußerst informativ für Einsteiger.
Was mich in diesem speziellen Fall aber extremst getriggert (hehehe) hat war die ignorante Aussage über Menschen mit Behinderungen in der Bahn. Menschen mit Behinderungen bekommen schon seit Jahrzehnten fast nie einen Platz in der Bahn. Selbst mit Anmeldung und Reservierung und allem drum und dran. Ich könnte dir Geschichten erzählen bei denen sich deine Fußnägel kräuseln würden. Es ärgert mich einfach unheimlich, wie das Thema Behinderung ausgenutzt wird. Den gesamten Rest der Zeit sind wir Menschen mit Behinderung uninteressant. Behinderung ist schlichtweg nicht sexy, nicht gut zu vermarkten. Aber wenn es ins Narrativ passt, fallen einem die behinderten natürlich wieder ein. Wirklich?!?!
Sorry, ich weiß, dass es jetzt mehr ein Rant als ein produktiver Beitrag zum Thema war, aber Verdammt noch mal! Die Tatsache, dass Menschen sich etwas leisten können, heißt nicht, die behinderte können auf einmal nicht mehr teilnehmen, zumal Menschen mit Behinderung überdurchschnittlich von Armut betroffen und somit seit der Einführung des 49 € Tickets selbst zu den Menschen gehören, die zum ersten Mal seit Jahren wieder halbwegs mobil sein können, oder besser gesagt könnten, wären da nicht die ganzen gravierenden Infrastrukturproblemen, die mangelnde Barrierefreiheit und so weiter und so fort.
Die Sache mit dem Sitzplatz ärgert mich gerade echt. Da hab ich nicht mit gerechnet.