Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #13
Am 28.8.1963, also heute vor 57 Jahren, hielt Martin Luther King vor 250.000 Menschen am Lincoln Memorial seine “I Have a Dream”-Rede im Rahmen des “March on Washington for Jobs and Freedom”. Einer der meiner Meinung nach wichtigsten Sätze dieser Rede ist dieser:
I have a dream that my four little children will one day live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character.
Davon ist nicht nur das heutige Amerika, sondern die gesamte heutige westliche Welt leider weit entfernt. Allerdings ein wenig anders, als King es damals meinte. Vertreter der eigentlich positiv intendierten Identitätspolitik haben unbewusst eine neue Form der Rassenlehre etabliert. Die Ethnie ist in Debatten auf einmal wieder wichtig, um zu entscheiden, wer sich zu welchen Themen äussern darf.
Auch wie Angehörige einer ethnischen Gruppe über bestimmte Themen zu denken, zu sprechen oder was sie als Diskriminierung zu empfinden haben, wird versucht, ihnen vorzuschreiben. Inzwischen ist es soweit, dass eine dunkle Hautfarbe nicht mehr reicht. Es wird zwischen Farbtönen differenziert. Je dunkler, desto mehr Opfer, also sprechberechtigter.
Hautfarbe, sexuelle Orientierung und Geschlecht spielen heute eine größere Rolle, als je zuvor. Das ist kein Fortschritt, diesbezüglich war die Gesellschaft in den 90er Jahren schonmal deutlich weiter. Ich hoffe, dass den Protagonisten dieser Irrweg irgendwann bewusst wird. Martin Luther King würde übrigens auch die aktuelle “Black Lives Matter”-Bewegung sehr kritisch sehen, dessen bin ich mir sicher. Von seiner Frau stammt das Zitat
Revenge and retaliation always perpetuate the cycle of anger, fear and violence.
Diese Woche geht es unter Anderem um Datenschutz, das Berliner Neutralitätsgesetz und das Duzen.
Nun aber los.
Politik/Gesellschaft
Schon seit Beginn der Erhebung von Gästedaten bei Restaurantbesuchen zur Nachverfolgung von Infektionsketten wegen Covid-19, die ich grundsätzlich für richtig halte, ordne ich den Datenschutz als unzureichend ein. Die Listen liegen nicht selten offen herum, jeder Gast und auch das Personal kann/können sie einsehen. Der “Chaos Computer Club” hat jetzt beim Cloudanbieter Gastronomi aus Bremen für digitale Gästelisten gravierende Datenschutzmängel festgestellt. Die Organisation fand mehr als vier Millionen Adress- und Reservierungseinträge aus den letzten neun Jahren.
Verschiedene Schwachstellen ermöglichten den Zugriff auf insgesamt 87.313 Corona-Kontakterhebungen von 180 Restaurants, die das System aktiv nutzten*.
Im betroffenen System wurden jedoch nicht nur Corona-Listen, sondern auch Reservierungen, Bestellungen und Kassenumsätze gespeichert. Der Cloud-Service wirbt damit, monatlich über 96 Mio. Euro Umsatz von 7,7 Mio. Kundinnen sowie 600.000 Reservierungen über das System abzuwickeln*. Persönliche Daten von Besucherinnen werden vor allem bei Reservierungen und Corona-Registrierungen erfasst.
Insgesamt war der Zugriff auf 4,8 Mio. Personendatensätze aus über 5,4 Mio. Reservierungen möglich, wie der Cloud-Service bestätigt*.
Dieser Vorgang zeigt auch erneut, warum die Vorratsdatenspeicherung keine gute Idee ist. Dass man über viele Jahre nachvollziehen kann, wer wann mit wem in welchem Lokal gewesen ist, gefällt mir persönlich gar nicht. Leider hat die Erfahrung, und auch die Tatsache der größtenteils ausgebliebenen Verhaltensänderungen nach den Enthüllungen von Edward Snowden, gezeigt, dass Datenschutz den meisten Menschen egal ist.
CCC hackt digitale "Corona-Listen"
Die für den morgigen Samstag angemeldete Demonstration von Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen in Berlin wurde aus epidemiologischen Gründen verboten. So weit, so unspektakulär, möchte man meinen. Einen faden Beigeschmack bekommt dieses Verbot allerdings durch einen Satz von Innensenator Andreas Geisel, der lautet:
Ich bin nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird.
Diese Stelle ist von daher interessant, weil sie Zweifel daran aufkommen lässt, ob die Begründung mit Infektionsschutzregeln, die völlig plausibel wäre, die ganze Wahrheit ist, oder ob dem Innensenator einfach die Ausrichtung der Demonstration nicht gefällt. Das würde ein defizitäres Demokratieverständnis offenbaren. Dass diese Äusserung auch politisch dumm ist, weil sie Wasser auf die Mühlen derer ist, die staatlichen Institutionen grundsätzlich misstrauen und bereit sind, jeden Verschwörungsmythos für plausibler zu halten, als Fakten, kommt noch dazu. Alexander Kissler hat sich des Themas in einem lesenswerten Kommentar angenommen.
Berlin ist tatsächlich eine Bühne, und sie dient verschiedenen Zwecken. Der Innensenator aber ist nicht der Zirkusdirektor, der nach Gutdünken entscheiden darf, welche Stücke aufgeführt werden und welche nicht. Oder warum durften die «Black Lives Matter»-Demonstrationen im Juni und Juli stattfinden, bei denen die Teilnehmer ebenfalls dicht an dicht standen und viele von ihnen keine Masken trugen: Waren die Botschaften auf den Plakaten damals politisch opportun?
Das Recht auf freie Meinungsäusserung ist nicht an den Inhalt der Meinung geknüpft. Rechtsstaatlichkeit zeigt sich darin, dass Staatskritik erlaubt ist, auch solche fundamentaler Art. Der Rechtsstaat ist keine Majestät, die Kritik als Beleidigung abtun darf. Er teilt Freiheit nicht zu, er lässt sie gewähren. Die Bundesrepublik mit ihrer nachholenden Freiheitsgeschichte sollte in dieser Hinsicht couragiert sein – also pluralitätsfreundlich, rechtssicher und verfassungstreu.
Der Berliner Senat hat Demokratie offenbar nicht begriffen - NZZ
Zur vermeintlich gendergerechten Sprache, über die auch unter Linguisten heftig gestritten wird und für deren Mehrwert es keinen wissenschaftlichen Beleg gibt, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Mich stört vor Allem, dass sie die Lesbarkeit von Texten verschlechtert. Waren diese Schreibweisen lange Zeit vorwiegend in Schriften bestimmter Wissenschaftsbereiche üblich, verbreiten sie sich nun immer mehr in den Medien. Einige Programmierer haben deshalb bereits vor mehreren Jahren die Browsererweiterung “Binnen-I be gone” entwickelt, die Texte wieder normalisiert.
"Binnen-I be gone" für Firefox
Das Berliner Neutralitätsgesetz, welches Lehrern, Polizisten und Justizbediensteten seit 2005 verbietet, im Dienst religiöse Symbole offen sichtbar zu tragen, halte ich für eine gute Sache, weil ich es richtig finde, dass Angestellte des Staates und seine Repräsentanten weltanschaulich neutral auftreten. Das beziehe ich auf ausnahmslos alle religiösen/politischen Symbole und würde mich freuen, wenn das Gesetz bundesweite Gültigkeit hätte.
Nun hat das das Bundesarbeitsgericht das Berliner Kopftuchverbot an Schulen gekippt. Das Tragen allein rechtfertige keine Ablehnung der Bewerberinnen für den Schuldienst. Für Staatsdiener mit hoheitlichen Aufgaben (Staatsanwälte oder Richter), gilt das Neutralitätsgebot erst einmal weiter. Wobei die Betonung wohl auf “erst einmal” liegt.
Diese Entscheidung halte ich für falsch, die Freude der feministisch Bewegten darüber für grotesk. Es wird von dieser Seite, die sonst gegen jede Form (oft nur vermeintlich) patriarchaler Strukturen wütend aufbegehrt, sie bezüglich islamischer Bräuche allerdings ignoriert, angeführt, man solle es den Frauen doch selbst überlassen, ob sie ein Kopftuch tragen wollen, oder nicht. Eine in Anbetracht der obigen Erläuterungen hochgradig unterkomplexe Einlassung.
Erstens kann nicht sichergestellt werden, ob es sich in jedem Fall um echte Freiwilligkeit handelt (Prägung, sozialer Druck, etc.).
Zweitens können Lehrerinnen mit Kopftuch vor dem Hintergrund sich häufender religiöser Konflikte an Schulen nicht die nötige überparteiliche Rolle einnehmen. Dass sich Mädchen, die von Mitschülern oder Familie zum Tragen des Kopftuchs gedrängt werden, sich mit diesem Thema vertrauensvoll an eine kopftuchtragende Lehrerin wenden, darf bezweifelt werden.
Drittens wird durch die Belastung mit solchen Themen das freie und ungehinderte Lernen eingeschränkt.
Ärgerlich ist ausserdem, dass man die Kritik an dieser Entscheidung mal wieder der AfD überlässt, die sich damit erneut als Partei aufspielen kann, die als Einzige Dinge klar benennt. Das stimmt zwar nicht und Lösungen hat sie sowieso keine parat, aber genug Menschen werden darauf anspringen.
Berlin unterliegt im Streit um Kopftuchverbot für Lehrerin - Legal Tribune Online
Dass es seit einiger Zeit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr um das Erreichen von Gleichberechtigung, was durchaus zu begrüssen ist, sondern um Gleichheit geht, beobachte ich kritisch. Natürlich haben alle Menschen den gleichen Wert, aber gleich sind sie nicht. Über bestehende Ungleichheiten, sei es zwischen den Geschlechtern oder bezüglich Intelligenz und Talent zu diskutieren, ist in manchen Kontexten unmöglich. Ihre Existenz wird schlicht bestritten. Irmhild Saake beschäftigt sich damit, was das für Diskussionen bedeutet.
Auf Augenhöhe sollen wir diskutieren, in unterlegenen Positionen mögliche Diskriminierungen, Unterdrückungen erkennen lernen und den Unterlegenen zum Sprechen verhelfen. Jede Asymmetrie soll in einen Zustand von Gleichheit, von Symmetrie überführt werden. Doch wo bliebe die Kraft des besseren Arguments, die fachliche Expertise, die Entscheidungskompetenz, wenn die Augenhöhe als entscheidendes Kriterium jegliche Unterschiede einebnen will? Die Soziologin Irmhild Saake hat sich mehrfach kritisch über eine solche Balance-Ethik geäußert. Denn eine Diskussion unter ihrer Ägide kann prinzipiell nie enden.
Über falsche Symmetrien - Deutschlandfunk
Mir geht es wahnsinnig auf die Nerven, überall geduzt zu werden. Ich finde das respektlos, ja übergriffig. Ich bin nicht der Freund des Verkäufers/Kellners/Bankangestellten/Hotelmitarbeiters, sondern sein zahlender Kunde. Duzen suggeriert eine Nähe die nicht besteht. Das mag sich für manche wohlig-kuschelig anfühlen, aber mit wem ich nicht verwandt, befreundet oder schonmal volltrunken die Treppe heruntergefallen bin, von dem möchte ich gesiezt werden. So geht es auch Torben Müller, der darüber einen Text verfasst hat.
„Wir leben in einer Duz-Welt“, sagt auch der Soziologe Ronny Jahn von der International Psychoanalytic University in Berlin. „Allgemein ist eine Tendenz zur Entgrenzung festzustellen. Privates und Geschäftliches vermischen sich zunehmend.“ Und so versuchen die Firmen, sich in unser Leben zu schleichen.
Siezen Sie noch, oder duzt du schon? - Brand Eins
Jakob Augstein und Nikolaus Blome sind wider Erwarten doch noch einmal aus der Sommerpause zurückgekehrt. Allerdings nur, um eine missglückte Abschiedsfolge aufzunehmen, auf die man gut hätte verzichten können. So endet ein großartiges Format mit einem schiefen Schlusston. Der Vollständigkeit halber kann sich jeder selbst ein Bild machen.
Kultur
Vorgestern war der Geburtstag von Peggy Guggenheim. Zu diesem Anlaß möchte ich die brilliante von Maja Hoffmann produzierte Dokumentation “Art Addict” empfehlen.
Coverversion der Woche: Aretha Franklin - Respect
Ja, das ist eine Coverversion. Das Original wurde 1965 von Otis Redding aufgenommen. Bei Franklins Auftritt kommt es mir fast so vor, als handle es sich bei der Backroundsängerin auf der rechten Seite um Diana Ross, aber ich kann mich auch irren. Einen guten Songs kann fast nichts zerstören und wenn er dann auch noch von einer Stimmgöttin, wie Aretha Franklin gesungen wird, kann nichts mehr schiefgehen. Das ist wohl auch der Grund, dass diese Version nahezu jedem, die (ebenso Gute) von Redding fast niemandem bekannt ist. Im folgenden Video erwähnt er die Tatsache, dass der Song gecovert wurde, sogar.