Prolog
Das Sommerloch ist da. So scheint es zumindest, wenn man sich bestimmte Artikel zu Gemüte führt.
Die Süddeutsche Zeitung und die “Zeit” rufen nach Verboten, was mich nicht zum ersten Mal zur Frage bringt, woher diese devote Lust am Autoritarismus kommt, die in manchen Milieus zu beobachten ist. Die Letztgenannte Publikation fordert sogar die Leser auf, rückzumelden, was ihnen verboten werden soll, denn ohne Verbote ginge es ja nicht. Eine Behauptung, der ich entschieden widersprechen würde. Es geht allerdings noch bizarrer: Die Süddeutsche lässt einen Autor für Verständnis dafür werben, dass Menschen aus bestimmten Kulturkreisen den Verzehr von Eis in der Öffentlichkeit als “obszön” empfinden. Ich empfinde eher das Propagieren steinzeitlicher Ansichten als obszön. Zudem sollte, wer das Essen einer Eiswaffel mit Oralverkehr in Verbindung bringt, eher in sich selbst hineinhorchen, als es zu problematisieren.
Eine weitere Groteske ist die Diskussion um die alljährlichen gewalttätigen Ausschreitungen in Freibädern. Nach dem Klimawandel, der feindseligen Mehrheitsgesellschaft und einer ungünstigen Windrichtung, sind daran - laut der “Zeit” - nun die Preise für Pommes Frites Schuld. Alles ist für die Randale in Freibädern verantwortlich, nur nicht die Randalierenden. Interessant auch, dass diese und ähnliche Entgleisungen regelmäßig als "Rangeleien" zwischen "Männergruppen" bezeichnet werden. Dieses gleichzeitig verharmlosende und verschleiernde Wording, bei dem jeder weiß, was gemeint ist, setzt dem Erfolg der AfD definitiv kein Ende. Man lernt einfach nicht dazu. Außerdem werden wegen "Rangeleien" keine Freibäder geschlossen und es kommt auch nicht die Polizei. Hier geht es um enthemmte, rohe Gewalt. Nicht um Schulhofschubsereien. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff "Party-Szene" mit dessen Benutzung davon abgelenkt werden sollte, dass es sich bei den Randalierern in der Stuttgarter Innenstadt fast ausnahmslos um migrantische Jugendliche handelte. Gleichzeitig beweint man die Wahlergebnisse der AfD. Es ist zum Haareraufen.
Dazu passt die Kritik an der klugen Entscheidung von Friedrich Merz, Carsten Linnemann zum Generalsekretär der CDU zu machen. Der Linksschwenk der CDU unter Angela Merkel ist der Grund für das Entstehen der AfD. Deshalb muss die Partei die Deutungshoheit über Themen zurückgewinnen, die ihr von der AfD abgeluchst wurden. Wenn die Union alle Themen meidet, welche die Rechtspopulisten behandeln, braucht es sie nicht mehr. Ein maximal entkoppeltes Milieu glaubt dagegen tatsächlich, dass die AfD bedeutungslos wird, wenn die Konservativen weiter nach Links rücken. Ich empfehle den Realitätscheck zum Beispiel auf einem bayerischen Dorffest. Was in Berlin-Mitte für richtig gehalten wird, kommentiert man dort in rustikaler Deutlichkeit.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Entwicklungen, Verortung und Zeitgeist.
Politik und Gesellschaft
Bereits zum zweiten Mal haben sich Klimaaktivisten zu einem Brandanschlag auf Autos bekannt. Ich prognostiziere seit längerer Zeit, dass sich Teile der Klimabewegung rasant radikalisieren und dass sowohl von der Rhetorik, als auch vom Habitus, Parallelen zur Entstehung der RAF unübersehbar sind. Wer das immer noch bestreitet, tut das entweder aus strategischen Gründen oder aufgrund umfassender Ahnungslosigkeit. Die Warnung “Wehret den Anfängen!” gilt offensichtlich nur, wenn die Ziele nicht genehm sind."
Sie haben sich im Internet anonym zu der Tat geäußert: In dem Schreiben bekennen sie, in der Nacht zum 10. Juli 2023 in München zwei fabrikneue SUVs der Marke BMW angezündet zu haben. Sie nennen die Aktion eine "erste Reaktion" auf den Umgang der staatlichen Behörden mit Klimaprotesten. Der Staatsschutz ermittelt jetzt wegen Brandstiftung.
Noch am Abend des Tattages bekannten sich auf einer einschlägigen Internetseite Unbekannte zu dem Brandanschlag. Sie rechtfertigten die Straftat als Reaktion auf das Vorgehen der Münchner und Berliner Staatsanwaltschaften gegen Klimaaktivisten. In dem Bekennerschreiben heißt es: "Wir haben deshalb als erste Reaktion in der Nacht vom 9. Juli auf den 10. Juli in einem Schnellverfahren zwei BMW SUVs durch einen Brandsatz zwangspensioniert und in den vorzeitigen Ruhestand versetzt."
Die Verfasser des Schreibens kritisieren den Aktionsansatz der Gruppe "Letzte Generation" als unzureichend. "Das Problem sind nicht die falschen oder zu zögerlichen Klimabeschlüsse einer nationalen Regierung. Das Problem ist das ganze verdammte System!" In Bezug auf die brennenden Autos in München heißt es, dass die Marke gezielt ausgewählt wurde: "Für uns bietet sich BMW dafür besonders an. BMW ist einer der großen Autohersteller und hat vor vielen Jahren das Konzept SUV auf den Markt gebracht."
Klimaaktivisten bekennen sich zu Brandanschlag auf Autos - Bayerischer Rundfunk
Immer mehr Professoren wagen sich bezüglich des Thematisierens von Fehlentwicklungen an Universitäten aus Deckung. In der FAZ hat nun Kai Jäger geschildert, warum er seine Professur am King’s College in London aufgibt. Die Gründe ähneln denen, die bereits andere vor ihm nannten. Diese Entwicklung hat inzwischen leider auch Deutschland erreicht. Es bleibt zu hoffen, dass ihr noch Einhalt geboten werden kann.
Das zentrale Kriterium für jedes Unternehmen ist die Konsumentenzufriedenheit oder im Fall des englischen Universitätsmanagements die Rangliste der Studentenzufriedenheit. In der Praxis hat das Primat der Studentenzufriedenheit zur Nivellierung akademischer Standards und zu einer Inflation sehr guter Noten geführt, da die Zufriedenheit der Studentenschaft eng mit der erhaltenen Benotung in Verbindung steht. Wer durchfällt (oder plagiiert), kann den Aufsatz oder die Klausur in der Regel so oft wiederholen, bis das Resultat passt. Wenig überraschend stellt die „Times“ fest, dass im Jahr 2018 keiner der rund 33.000 Bachelor-Studenten an elf englischen Universitäten in den Abschlussprüfungen durchfiel.
Aber zur Studentenzufriedenheit gehören nicht nur die gewünschten Noten, sondern auch das Studienerlebnis und Wohlfühlempfinden. Eine Heerschar von Seelsorgern steht zur Rundumbetreuung und Bespaßung der Studentenschaft dank der Finanzierung durch exorbitante Studiengebühren zur Verfügung. Auch das akademische Personal hat jährlich eine ständig wachsende Zahl von Studenten als persönliche Tutoren zu betreuen, soll für Ausflüge und Sightseeingtouren zur Verfügung stehen oder gar beim Ikea-Einkauf helfen.
Dieser administrative Aktionismus errichtet eine Art Wohlfühloase, um die Bildungskonsumenten therapeutisch vor allen negativen Erfahrungen und Schwierigkeiten zu schützen. Allerdings erweist sich die Wohlfühloase oftmals als Fata Morgana. Der Druck auf die Studenten ist hoch, denn im Durchschnitt lastet auf dem englischen Bachelor-Absolvent am Ende ein Schuldenberg von 45.800 Pfund, was verständlicherweise Stress, Zweifel und Zukunftsängste erzeugt. Die vermeintliche universitäre Wohlfühloase steht auch im Konflikt mit den eigentlichen Zielen der Universität. Im Prinzip sind der Wettbewerb und offene Austausch von Ideen für die Wissenschaft maßgebend. Für das Studium bedeutet dies nicht nur das Erlernen und Anwenden wissenschaftlicher Methoden, sondern auch das kritische Hinterfragen von Standpunkten und die Auseinandersetzung mit kontroversen Denkansätzen.
Nun sind wir bei der „Wokeness“ angelangt, was man grob als den dogmatischen und unwissenschaftlichen Glauben definieren kann, dass sich jegliche Ergebnisungleichheit in der Gesellschaft auf Diskriminierung zurückführen lässt, insbesondere vonseiten weißer heterosexueller Männer. Es ist sicher kein Zufall, dass Phänomene wie „Trigger Warnings“, „Safe Spaces“ oder „Cancel Culture“ ihren Ursprung und die größte Verbreitung in den Universitätslandschaften der Anglosphäre haben, wo die Verwandlung der Studentenschaft in Konsumenten am weitesten fortgeschritten ist. Denn aus Sicht eines profitorientierten Unternehmens sind Kontroversen ein Risiko für die Reputation der eigenen Firmenmarke. Das Primat der Kundenzufriedenheit erzeugt für das Management den Anreiz, die Universität nach den politischen Wünschen der jungen Gebührenzahler zu verändern und der Empörung jener nachzugeben, die am lautesten brüllen.
Im Zuge einer „Decolonisation of the Curriculum“-Studentenkampagne wurde unser Department verpflichtet, in einer mühseligen gegenseitigen Begutachtung die eigenen Lehrpläne zu revidieren, um sicherzustellen, dass Publikationen von Quoten-Minderheiten im Lehrplan enthalten sind. Zuvor wurde bereits mein gesamtes Department in der vorlesungsfreien Zeit zu einem „Gender Awareness Training“ verpflichtet, da sich ein Transgender-Student vom Seminarinhalt eines einzigen Kollegen nicht adäquat repräsentiert fühlte.
Die Doppelmoral wurde besonders im Sommer 2021 deutlich, als sich das King’s College dafür entschuldigte, dass zum Tode von Prinz Philip ein Nachruf mit Bild an das Personal verschickt worden war. Es kam zu Beschwerden. Die „Anti-Racism Community of Practice“ empörte sich, der Prinzgemahl habe sich rassistisch und sexistisch geäußert. Daraufhin distanzierte sich die Universität schnell vom eigenen Nachruf. Andererseits sah das King’s College kein Problem darin, an einem Fellowship für Teresa Cheng festzuhalten, obwohl Cheng eine zentrale Rolle bei der Repression der Demokratiebewegung in Hongkong spielt, weshalb sie von den Vereinigten Staaten mit Sanktionen belegt ist.
Der Autor dieser Zeilen wurde zu einem Gespräch von den Fakultäts- und Fachbereichsvorsitzenden eingeladen, weil er auf Twitter eine falsche Meinung geäußert und ein Mob sich darüber empört hatte. Mein Vergehen: Ich habe den Standpunkt vertreten, dass wissenschaftliche Zitationen, Einladungen und Stellen dem wissenschaftlichen Beweis und dem Leistungsprinzip folgen sollten – und nicht einem Quotensystem. Statt mich auf diesen Canossagang zu begeben, entschied ich mich zur Kündigung meiner Professur.
Denn im englischen Universitätssystem hat der Professorenjob nur noch wenig mit Wissenschaftsfreiheit zu tun. Stattdessen müssen Professoren schlecht bezahlte Bürokraten, Seelsorger und politische Aktivisten in einem sein. Doch aufgrund massiver Gehaltskürzungen ist es mittlerweile finanziell attraktiver, direkt als Verwaltungsfachkraft in einem Bürgeramt oder als Lehrer in einer Grundschule anzufangen.
Quellen der Wokeness - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes: Florian Schroeder sprach in Köln mit Norbert Bolz (nicht nur) über dessen aktuelles Buch.
Für die Übel dieser Welt kennt die aktuelle Debatte vor allem einen Schuldigen: den alten weißen Mann. Er steht für Kolonialismus, Rassismus und Sexismus, und auf sein Konto gehen sowohl die Armut in der Welt als auch die Zerstörung der Natur und natürlich der Klimawandel. Doch wie wurde er zum Sündenbock, und was steckt hinter dieser kollektiven Schuldzuweisung? In seinem neuen Essay Der alte weiße Mann. Sündenbock der Nation analysiert der Medientheoretiker und Philosoph Norbert Bolz den Begriff und zeigt, wie dieser zur zentralen Symbolfigur in einem kulturellen Bürgerkrieg geworden ist. Dabei wird deutlich: In diesem Konflikt geht es nicht nur um die Zuschreibungen, sondern um die Grundlagen der westlichen Welt. Der Kabarettist Florian Schroeder (»Schluss mit der Meinungsfreiheit! Für mehr Hirn und weniger Hysterie«) spricht und streitet mit Norbert Bolz über einen Zentral- und Kampfbegriff unserer Zeit.
Svenja Flaßpöhler moderierte ein Gespräch mit Sahra Wagenknecht und Per Leo zum Thema “Wo geht’s hier nach links?”.
Wie grenzt man sich von rechts ab? Muss man das überhaupt? Wo fängt Kontaktschuld an? Wie umgehen mit Applaus von der falschen Seite? Ist eine Aussage von vornherein tabu, wenn auch ein AfD-Politiker sie vertritt? Das sind heikle Fragen, die im Mittelpunkt erhitzter Debatten stehen und das linke Lager spalten. Im Zenit der Auseinandersetzung steht die ehemalige Führungsfigur der Partei »Die Linke«: Sahra Wagenknecht wird von ihren Gegnern vorgeworfen, gezielt am rechten Rand zu fischen und mit ihren Überlegungen, eine eigene Partei zu gründen, eine »Querfront« etablieren zu wollen. Auf der phil.cologne diskutierte sie mit dem Historiker Per Leo (»Mit Rechten reden«) über die Bedeutung von links und rechts und das Problem politischer Positionsbestimmung in komplexen Zeiten.
Prof. Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber sprach in einem hochinteressanten Vortrag bei der “Stiftung Demokratie Saarland” über ideologische Auffassungen und politische Wirkungen der Neuen Rechten.
In der inzwischen achten Ausgabe des Formats “Streitclub” ging es um das Thema “Demokratie und Protest”.
Klimaprotest, Corona-Demonstrationen, Friedenskundgebungen oder Groß-Streiks – Proteste sind allgegenwärtig. Als Ausdruck einer sozial und politisch krisenbewehrten Zeit prägen sie unsere Debatten. Immer wieder wird dabei auch gefragt: Wer demonstriert wie und mit welcher Berechtigung? Warum ergreifen Menschen das Mittel des Protests? Finden Sie kein Gehör mehr? Fühlen sie sich nicht mehr ausreichend repräsentiert? Schwindet das Vertrauen in die Politik? Eine lebendige Demokratie braucht Protest: Er macht auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam und zeugt von einem engagierten Gestaltungswillen der Demonstrierenden. Doch immer mehr scheint die Dringlichkeit der Anliegen weniger auf politische Teilhabe zu zielen als darauf politische Prozesse unter Druck zu setzen. Ist Demokratie zu behäbig, um schnell genug auf die Krisen unserer Zeit antworten zu können und muss Protest der Demokratie tatsächlich Druck machen? Oder verformt Protest demokratische Entscheidungsprozesse und erzeugt damit ein Legitimitätsproblem? Wann ist Protest heute noch eine Herausforderung und wann doch schon ein Problem für die Demokratie?
Kultur
Auch Intellektuelle und Kunstschaffende beklagen immer häufiger öffentlich problematische Entwicklungen, welche die Kunstfreiheit einschränken. Frédéric Beigbeder, auf den ich Anfang der 2000er Jahre durch sein Buch “39,90” stieß, gehört zu diesen Menschen.
Einer, von denen gerade viele sagen: «Soll jetzt besser einmal die Klappe halten.» Beigbeder ist bereits fortgeschrittenen Alters, offensichtlich weiss, ziemlich reich. Oder zumindest war er früher einmal recht reich. Manche seiner Vorfahren hatten einem Adelsgeschlecht angehört, er selber ist noch ein Grossbürger, immerhin.
Beigbeder ist also so ein Typ, der jetzt bitte schön das Mikrofon abgeben soll. Abgeben an die Marginalisierten in den Banlieues, an die Ungehörten dieser Erde. Sie, die wahrlich drängendere Probleme haben als dieser Vertreter der Pariser Kulturschickeria, der mit seiner Familie mittlerweile an der frischen Luft auf einem Landsitz am Meer lebt.
Heute sind solche Figuren nicht mehr en vogue. Sondern bestenfalls noch «légèrement dépassées», «leicht überfordert». So bezeichnet sich Beigbeder selber im Titel seines neuen Buchs, «Geständnisse eines leicht überforderten Heterosexuellen». Schreibanlass war eine verschmierte Fassade seines Landhauses, auf der eines Morgens in Rosa der Satz prangte: «Ici vit un violeur», «Hier lebt ein Vergewaltiger».
Ein Shitstorm hatte sich manifestiert. In die Kritik geraten war Beigbeder, weil er sich dafür ausgesprochen hatte, dass Männer in Frankreich auch künftig Bordelle besuchen können sollten, ohne dafür bestraft zu werden. An jenem Morgen vor fünf Jahren, schreibt Beigbeder, habe er realisiert, dass die miese Stimmung von Twitter ins echte Leben überschwappen könne.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn Frédéric Beigbeder imitiert mit der peniblen Buchhaltung seiner Probleme ganz bewusst jene Spielart der Autofiktion, die die eigene, manchmal echte, manchmal bloss behauptete Benachteiligung zum fixen Ausgangspunkt jeglichen Schreibens macht. Beigbeder kennt diese Literatur gut. Er nimmt sie beim Wort, arbeitet sich an ihr ab, lässt sich auf die Debatte ein.
Annie Ernaux hat er dabei zu seiner wichtigsten Antipodin auserkoren. Seit Jahren lebe die Schriftstellerin nun in komfortablen Verhältnissen, so kritisiert Beigbeder, und trotzdem schreibe sie ständig über ihre benachteiligte Herkunft als Tochter eines Lebensmittelhändlers. Eine Herkunft, die nicht einmal richtig schlimm gewesen sei. Schliesslich, hält Beigbeder fest, gebe es im Laden eines Lebensmittelhändlers ja immer etwas zu essen.
Bei Beigbeder geht es mindestens so sehr um Konfusion wie um Konfession. Und hier und dort spricht er, wie es sich für einen echten Narren gehört, eine unschöne Wahrheit aus.
Etwa, dass das Dynamit der #MeToo-Debatte längst auch zweckentfremdet und ins bürotechnische Arsenal der gepflegten Unternehmensintrige übernommen wurde. Oder dass jede Literatur sterben muss, sobald man sie mit moralischen Ansprüchen piesackt und alle bösen Figuren aus ihr herauskämmen will. Das Leben, schreibt Beigbeder, sei nun einmal eine Mischung aus Erhabenheit und Dekadenz, und die Kunst müsse beides abbilden können.
Frédéric Beigbeder kann vieles – die Klappe halten gehört nicht dazu - Neue Zürcher Zeitung
Finn Job hat einen herrlich ins Schwarze treffenden Artikel über eine Autorenlesung in Berlin geschrieben.
Ich zuckte zusammen. Wie immer lästerte meine Begleiterin ein wenig zu laut, und wie immer hatte sie mit ihren Beobachtungen Recht. Das Publikum bewegte sich modisch zwischen einer Jack-Wolfskin-Kampagne aus den Neunzigern, einem Batik-Workshop und einem Altersheim. Die wenigen jüngeren Gäste trugen unförmige Pluderhosen und goldgeränderte Brillen.
Als dann aber endlich die Nobelpreisträgerin redete und ihre unverkennbare, zärtlich-sonore Stimme die Worte zu setzen begann, da wurde es nicht leiser im Saal, nein, die ersten Nachzügler kamen, rumpelten leise fluchend durch die Stuhlreihen, und zwei rüstige Damen mit Filzhandtaschen setzten sich hinter uns, um ein Gespräch über ihre gemeinsame Anfahrt zu beginnen. Die Autorin derweil sprach von kommunistischer Diktatur und Einsamkeit, von Arbeitslagern und Korruption, und obwohl sie nicht las, war es, als würde sie einen bereits durchformten Text sprechen – so intelligent schienen mir ihre Gedanken im Vergleich zu dem geistlosen Geschwafel hinter mir.
„Die können doch nicht alle inkontinent sein“, stöhnte Katharina, während ich versuchte, die lyrische Prosa zu verstehen, den traurigen Text über das Warten auf einen Vermissten vom Knarzen und Quietschen zu trennen – vergebens. Die Frau neben mir öffnete den Reißverschluss ihrer Handtasche, sah in die Tasche hinein, zog den Verschluss wieder zu und begann das Prozedere von neuem. Schließlich verstand ich, dass die Gäste gar nicht nach der Toilette suchten, dass sie vielmehr gern herumliefen, dass sie aus dem Fenster sehen, die Bücher am Büchertisch begrapschen oder ein Gespräch an der Bar führen wollten. Der Herr vor mir begann zu schnarchen.
„Ich verstehe nicht, was diese Frau will“, sagte ein Mann, der an mir vorbeilief. Das Schnarchen derweil steigerte sich zu einem Grunzen, der Reißverschluss wurde schneller und aggressiver aufgezogen, und die Damen hinter mir verlegten ihr bis dahin geflüstertes Gespräch in eine ungleich schrillere Tonlage. Alles humpelte, quietschte und knarzte, und erst als die Autorin zu einem kurzen Statement gegen die AfD anhob, verstummte man für einen Augenblick, um hierauf in frenetischen Jubel auszubrechen. Wahrscheinlich, so dachte ich, hatte sie testen wollen, ob ihr überhaupt noch jemand zuhörte.
„Vielleicht macht sie genau das ja so wütend“, unterbrach mich meine Begleiterin. „Vielleicht ertragen diese omnipotenten Achtundsechziger es nicht, wenn jemand in einer schicken Bluse intelligente Dinge sagt. Anders kann ich mir nicht erklären, wie man angesichts der Themen, um die es ging, derart stören kann.“
„Oder es liegt gerade an den Themen“, sagte ich. „Die Deutschen haben sich noch nie gern mit Lagern beschäftigt.“
Heute im Jahr 1966 wurde die Band Cream gegründet. Sie bestand aus Eric Clapton, Ginger Baker und Jack Bruce. Obwohl die Band nur zwei Jahre existierte, hat sie mehrere Klassiker, wie “White Room” oder noch bekannter “Sunshine Of Your Love” komponiert. Legendär ist ihr Abschiedsauftritt in der Royal Albert Hall am 26.11.1968.
Epilog
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"Alles ist für die Randale in Freibädern verantwortlich, nur nicht die Randalierenden."
Exakt so ist es. Erinnert an die gleiche Vorgehensweise der Medien beim "Erklärungsversuch" zu den Silvesterrandalen: https://twoplustwo.substack.com/p/der-luxus-der-vorsatzlichen-ignoranz
Je länger das eigentliche Problem aus Gründen der "Political Correctness" willentlich geleugnet wird, umso mehr Zulauf wird die Rechtsextreme erhalten. Und umso ärger wird die Situation des Landes, die nicht nur in Freibädern ihren Ausdruck findet.
Ich verstehe, dass nicht ein jeder die SZ oder die Zeit schätz. Aber heute kommt es mir vor, als ob sie beide mit Absicht falsch verstanden werden wollen. Der Artikel zu den Freibad Pommes meint das nicht ganz ernst, Ironie! Und der Autor in der SZ schreibt von Dingen, die ihm als jemandem, der aus einem völlig anderen Kulturkreis kommt, auffallen. Das ist der explizite Kontext. Er sagt nicht, dass das falsch ist, sogar, dass er sich daran gewöhnen wolle. Genauso würde ein Japaner in Deutschland normales im Gehen essen kommentieren, ein Engländer feststellen, dass es oft etwas unhöflicher zugeht im Umgang miteinander. Alles gleich legitim, wenn man daraus nicht schließt, dass man in Deutschland nicht mehr im Gehen essen darf, freundlicher sein muss und Eis essen ins private verlagern muss.