Prolog
Am Wochenende sah ich eine Dokumentation über den Berliner Club “Tresor”. Selbst habe ich ihn nie besucht, weil ich Techno nur zu Beginn als völlig neue Form der Musik interessant fand, mich aber abwendete, als die Veranstaltungen aus verschiedenen Gründen immer mehr Schützenfestcharakter bekamen. In diesem sehenswerten Beitrag fiel bezüglich der dortigen Umgangsformen der Satz:”Es gab keine Verhaltensregeln.” Er ist von daher so wichtig, weil er klarmacht, was am derzeitigen 90er Jahre-Revival nicht stimmt: Es bezieht sich fast nur auf Kleidung.
Das Lebensgefühl und der Hedonismus dieses Jahrzehnts werden von heutigen Jugendlichen nicht nur nicht verstanden, beides wäre heute undenkbar, weil mit dem aktuellen Zeitgeist inkompatibel. Das meiste von dem, was damals ablief, wie man sich begegnete, würde heute wegen irgendeines “Ismus” als inakzeptabel verworfen. Neulich stieß ich bei Instagram auf eine Band, die ihren Fans gleich eine ganze Liste an Verhaltensregeln für ihre Konzerte zur Verfügung stellt. Wenn man sich daran hielte, könne man aber wahnsinnig viel Spaß haben und es werde eine unglaubliche Abfahrt. Wenn das heutzutage die Auffassung von Spaß und Ausschweifung ist, bin ich froh, dass ich kein Jugendlicher mehr sein muss.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin kein Grantler (Ein wenig vielleicht.) und meiner Jugend trauere ich mitnichten hinterher. Ich tappe auch nicht in die Verklärungsfalle. Ohne Smartphones und soziale Medien, ohne die Angst, dass alles jederzeit dokumentiert und veröffentlicht werden kann, war es aber eben eine ganz andere Art des Vergnügens, die sich heute nicht mehr vermitteln lässt.
Damals war es auch völlig egal, wie jemand aussah, heute bezieht man sich speziell darauf und macht die Ethnie zur Grundlage der eigenen Identität. Ein gutes Beispiel dafür ist der neu gegründete Verein “Afro-Deutsche Jurist:innen”. Kann man machen, geht nur in die völlig falsche Richtung. Der Trend begann bereits Ende der 90er Jahre. Schon damals sorgte ich in Teilen der “schwarzen Community” für Befremden, weil ich mich weder als Opfer von Alltagsrassismus (Wie das damals noch genannt wurde.) sah, noch mich von einer Gruppe vereinnahmen lassen wollte, mit der ich, bis auf mein Aussehen, nichts gemeinsam hatte.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Journalismus, Resilienz und Literatur.
Politik und Gesellschaft
Die Gefahr, welche von Aktivisten in Wissenschaft und Medien ausgeht, war hier bereits mehrfach Thema. Auch der Journalist René Pfister beschäftigt sich mit dem Thema und hat im “Spiegel” einen lesenswerten Artikel geschrieben.
Natürlich ist es auch von der Pressefreiheit gedeckt, sich zum Instrument einer Lobbygruppe machen zu lassen. Nur führt es selten zu guten Ergebnissen, wenn sich Journalisten in den Dienst einer Sache stellen oder es sich in ihrem Weltbild zu bequem machen.
Es ist durch Studien gut belegt, dass in den USA eine Mehrheit der Journalisten links der Mitte stehen; die letzte große Untersuchung für Deutschland aus dem Jahr 2005 kommt zu dem Ergebnis, dass eine große Mehrheit der Journalisten, die sich nicht als neutral einordnen, links der Mitte stehen – was aber seltsamerweise fast nie diskutiert wird, wenn es darum geht, die Redaktionen »diverser« zu machen.
Nun haben sich viele Journalisten auch noch ein pseudowissenschaftliches Vokabular zurechtgelegt, mit dem sie versuchen, ihre Weltsicht durchzusetzen. Wer in der Pandemie Kritiker von Maskenpflicht oder Schulschließungen zu Wort kommen ließ, trug angeblich zu einer »false balance« bei und beförderte so das Geschäft von Verschwörungstheoretikern; wer auf Probleme bei der Integration von Zuwanderern hinweist, betreibt in den Augen mancher Kollegen eine »Diskursverschiebung« nach rechts.
Der häufigste Einwand gegen »Objektivität« ist, dass sie eine Fiktion sei. Daran ist richtig, dass jeder Journalist ein Gepäck mit Prägungen, Vorurteilen und Überzeugungen mit sich herumträgt. Aber es ist das eine, dies anzuerkennen und dafür zu sorgen, dass in einer Redaktion Menschen unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung arbeiten. Doch es ist etwas vollkommen anderes, die eigene Identität und Parteilichkeit zu einem Qualitätskriterium zu erheben.
In der Frühphase des 19. Jahrhunderts waren amerikanische Zeitungen vor allem parteiische Revolverblätter. Erst knapp hundert Jahre später begann mit eigenen Studiengängen die Professionalisierung des Journalismus.
In der Folge wurden all die Standards entwickelt, die seriösen Journalismus ausmachen: Faktentreue und Gründlichkeit; die Unabhängigkeit von Parteien und Interessengruppen; die Regel, Aussagen zu überprüfen und die Gegenseite anzuhören. Es waren Prinzipien, die mit zu dem spektakulären Erfolg der amerikanischen Demokratie beitrugen. Niemandem ist gedient, wenn sie im Namen einer neuen Gerechtigkeit in Frage gestellt werden.
Wie man das Vertrauen in den Journalismus zerstört: eine Gebrauchsanleitung - Spiegel
Nils Minkmar hat ein wunderbares Stück über das Bedürfnis nach Wohlfühloasen und dem nicht belästigt Werden mit unliebsamen Realitäten geschrieben.
Die Warnung ist die Tonlage unserer Gegenwart. Sie kommt nicht mehr im Gebrüll mancher Lehrer und Hausmeister aus Kindertagen, sondern immer besorgt und einfühlsam daher und mit den angeblich besten Absichten. Der Schlüsselbegriff ist jener der Erfahrung: Man soll, als Konsument, die bestmögliche Erfahrung kaufen können, ohne jede Form von Irritation oder gar Gefahr. Darum leuchtet, wenn ich auf einer digitalen Plattform einen schönen Klassiker der Filmgeschichte, etwa ein Werk von Quentin Tarantino aufrufe, in dem Bruce Willis seine zu viel Unsinn redende Freundin genervt erschießt oder Christoph Waltz als SS-Mann eine Meerschaumpfeife raucht, ein ganzes Feuerwerk von Warnungen auf: Nacktheit, Drogenkonsum, Gewalt, Alkohol, nicht achtsames Verhalten von Top-Nazis und weitere Flüche. Denn so ist das bei diesem Regisseur und bei anderen auch: Das ist nicht für jedes Publikum gleich geeignet. Manche interessieren sich dafür, andere nicht, manche sehen einen doppelten Boden, andere nicht.
Der Weg, es herauszufinden, war seit der Befreiung der bürgerlichen Öffentlichkeit von kirchlicher und herrschaftlicher Zensur am Ende des 18. Jahrhunderts stets derselbe: Man sieht sich das Stück an, liest das Buch, hört die Musik, betrachtet das Kunstwerk – dann bildet man sich ein Urteil. Kunst und Kultur werden in einem familiären und sozialen Umfeld rezipiert, daher sind da vorher oder nachher immer Stimmen zu hören, die warnen oder anpreisen, aber die letzte Instanz, das war die so sehr schöne Regel einer offenen Gesellschaft, ist das eigene Urteil.
Man mag sich darüber ärgern, dass stets dieselben Vertreter von ulkigen Minderheitenpositionen maximal oft in politischen Talkshows zu sehen sind, aber man hat es auch in der Hand, darauf zu reagieren, indem man umschaltet. Es geht auch noch mehr: Das Schreiben eines Briefes an die Verantwortlichen oder eine entsprechende Missfallensäußerung in den sozialen Medien sind weitere Mittel, dem eigenen Urteil im öffentlichen Raum Gehör zu verschaffen.
Aber ist es die Aufgabe von Radio, anderen Medien, das Publikum vor der Dokumentation von Dummheit zu bewahren? Ist eine Kultur erstrebenswert, in der alle nur nice Dinge sagen – und so den eben von Christoph Waltz im Gespräch mit diesem Feuilleton angesprochenen Jargon bedienen? Muss, was wir tun, sagen und schreiben, erfreulich oder immerhin achtsam sein? Soll ausgerechnet Kultur eine Welt abbilden, wie sie nicht ist, nicht war und niemals sein wird? Braucht man eine ideale kulturelle Darstellung einer unvollkommenen Welt auch dann, wenn man sich Kinderbücher, Comics oder Filme aus alter Zeit anschaut, die von Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten geprägt war? Genügt dann nicht eine Kontextualisierung, etwa von Mami und Papi beim Vorlesen, um ein Artefakt aus schlechten Zeiten auch heute zugänglich zu machen?
Wir sind also darauf angewiesen, dass Menschen dann zu entscheiden verstehen, dass sie es schon mal geübt haben und ihrem einmal gründlich gebildeten Urteil auch vertrauen. In einer Kultur, die, wie weite Teile der digitalen Welt, vorgibt, ein Nirwana aus Erfreulichkeiten zu sein, verkümmert diese Fähigkeit. Der Sinn von Kultur liegt nicht darin, dich vor Schock und Anstrengung zu bewahren, oder dich vor dir selbst zu warnen, sondern im Gegenteil in der Vermittlung der Erkenntnis, dass es auf dich ankommt.
Komm, wir machen es uns „nice“ - Süddeutsche Zeitung
Philipp Hübl hat Änderungen an Büchern von Roald Dahl zum Anlaß genommen, diese erneut zu hinterfragen und sich auch über Stereotype Gedanken zu machen. Die Argumentation deckt sich in weiten Teilen mit dem, was ich selbst neulich im Deutschlandfunk gesagt habe.
Die Motivation der Sensitivity Reader beruht nämlich auf falschen Annahmen über die menschliche Kognition. An Stereotypen kann man das gut verdeutlichen. Hinter den Korrekturen stehen zwei unausgesprochene kausale Annahmen. Erstens, wer eine stereotype Darstellung etwa über einen Mann oder eine Frau liest, glaubt sofort, dass sie für alle Männer und Frauen gilt. Und zweitens, wer Stereotype kennt, wird von ihnen geprägt und handelt auch nach ihnen.
Jeder von uns kennt unzählige solcher Stereotype, aber sie bestimmen selten unser Handeln, wie schon der Alltag zeigt: In vielen Kinderbüchern sind Prestigeberufe wie Arzt oder Anwalt überwiegend von Männern besetzt. Doch das hat offenbar weder auf Mädchen noch auf Jungen einen nachhaltigen Einfluss, denn mittlerweile studieren deutlich mehr Frauen als Männer Medizin und Jura.
Wie viele andere Aktivisten behaupten auch Sensitivity Reader, für Gruppen zu sprechen, die bestimmte Wörter als verletzend empfinden, haben aber gar keine Belege, dass die Mitglieder dieser Gruppen überhaupt von ihnen vertreten werden wollen oder sich tatsächlich angegriffen fühlen. Auch hier zeichnet die Forschung ein anderes Bild: Fragt man Schwarze, Hispanics und andere Minderheiten in den USA, ob sie Sätze wie „Amerika ist ein Schmelztiegel“ oder „Amerika ist das Land der Möglichkeiten“ als negativ oder gar als Mikroaggressionen empfinden, wie oft behauptet wird, so verneinen sie das mehrheitlich.
Ohnehin besteht die Aufgabe von Literatur nicht darin, eine ideale Gesellschaft herbei zu fantasieren. Natürlich geht es in Kinderbüchern auch um Moral. Der Struwwelpeter spiegelt einen autoritären Erziehungsstil wider, Pippi Langstrumpf hingegen einen antiautoritären. Doch selbst wenn man Dahl pädagogisch lesen will: Seine teils alptraumhaften Erzählungen bereiten junge Leute darauf vor, dass die Welt voller fragwürdiger Charaktere ist, und dass selbst sympathische Figuren nicht immer aus edlen Motiven handeln.
Stereotype werden überschätzt - Deutschlandfunk Kultur
Kultur
Coverversion der Woche: Nick Cave - Disco 2000
Der Song "Disco 2000" erinnert mich bis heute an eine Party, bei der wir in der Badewanne saßen und ihn, zum Missfallen der anderen Gäste nicht nur auf Schleife hörten, sondern auch jedes Mal laut mitsangen, weil die Maxi-CD das einzig gute Stück Musik im Haushalt war. Nun ist ihr Bassist Steve Mackey viel zu früh gestorben.
Das von Disco inspirierte Stück erschien 1995 auf dem Album „Different Class“ und basiert auf den Kindheitserinnerungen von Jarvis Cocker an seine Freundin Deborah Bone, die er in seiner Jugend bewunderte, aber nie beeindrucken konnte. Es wurde wurde am 27. November 1995 als dritte Single des Albums veröffentlicht und erreichte Platz Sieben in Großbritannien.
Die Version von Nick Cave ist aus dem Jahr 2002. Deutlich ruhiger angelegt und ein weiterer Beweis dafür, dass Cave nicht nur alles singen kann, sondern auch das einzigartige Talent hat, allem, was er tut, seinen eigenen Stempel aufzudrücken.
Epilog
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