Prolog
In Berlin naht die Wahlwiederholung und es bleibt spannend, wie die Berliner votieren werden. Die Erfahrung hat zwar gezeigt, dass sich die Wähler trotz unzähliger Mißstände für genau die Parteien entscheiden, welche diese zu verantworten haben. Trotzdem stirbt die Hoffnung bekanntlich zuletzt.
Tarek Al-Wazir, grüner Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen in Hessen, sieht sich einem Shitstorm ausgesetzt, weil er sich als “Shaun das Schaf” verkleidet hat. Seine Kritiker sehen damit den Tatbestand des “Blackfacing” erfüllt. Wieder einmal zeigt sich, dass nicht nur die (in diesem Fall woke) Revolution ihre Kinder frisst. Es wird auch erneut offenbar, dass Fakten ignoriert werden, wenn sie nicht zum Narrativ passen. Blackfacing ist das Schwarzschminken des Gesichts in Kombination mit der Darstellung der schwarzen Person als tollpatschig, dumm oder anderweitig negativ. Das reine Schminken ist kein Blackfacing. Aber wen interessieren schon Tatsachen, wenn man sich so herrlich empören kann?
In den letzten Tagen ist mir auch wieder klargeworden, dass das Lustigste an einer Büttenrede diejenigen sind, die sich darüber aufregen.
Im Fall der linken Journalisten, die unter fragwürdigen Umständen und ebensolchen Methoden eine Immobilie in Berlin erworben und verwaltet haben, ermittelt nun die Staatsanwaltschaft. Natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Dennoch: Bezögen sich die Ermittlungen auf Journalisten von FAZ, Welt oder NZZ, wäre der Aufschrei ohrenbetäubend. Wenn "die Guten" im Verdacht stehen, Böses getan zu haben, bleibt es mucksmäuschenstill.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Debattenkultur, Liberalismus und kulturelle Aneignung.
Politik und Gesellschaft
Kürzlich diskutierte ich in der Deutschlandfunk-Sendung “Streitkultur” mit der Literaturwissenschaftlerin Maryam Aras über die Frage, ob die Woke-Bewegung die Demokratie bereichert. Das Gespräch zeigte, dass man sich auch trotz unterschiedlicher Meinung respektvoll und sachlich austauschen kann. Ich würde mich freuen, wenn es das häufiger gäbe. Bereits Walter Scheel wusste, dass es demokratisch ist, dem anderen zuzuhören, seine Meinung zu erwägen, das, was einem selbst einleuchtet, zu akzeptieren und gegen das Übrige, unter ständiger Wahrung des Respekts vor der Person des anderen, seine Gegenargumente vorzubringen. Diese Tatsache wird in heutigen Debatten leider immer häufiger ignoriert.
Die Woke-Bewegung versuche, der Mehrheit ihre Vorstellung aufzuzwingen, kritisiert der Publizist Marcel Peithmann. Gleichberechtigung setze ein Umdenken der Mehrheitsgesellschaft voraus, meint hingegen die Literaturwissenschaftlerin Maryam Aras.
Bereichert Wokeness die demokratische Debatte? - Deutschlandfunk
Einen lesenswerten Text über den Trend zur Debattenverweigerung haben Katharina Körting und Michael Angele im “Freitag” verfasst.
Wie sollen wir Menschen aus verschiedenen „Lagern“ an einen Tisch bekommen, damit sie sich konstruktiv, öffentlich und (wie) gedruckt streiten, wenn die Lagerkollerigen nur mit politisch korrektem, gleichsam DIN-genormtem Personal zusammenzutreffen in der Lage sich sehen?
Gerade unter jüngeren Linken will sich kaum noch einer die Hände schmutzig machen, bloß nicht gesehen werden mit diesem oder im selben Atemzug genannt werden mit jener. Statt sich mit Kontrahenten zusammen- und auseinanderzusetzen, bleibt man unter sich, in der Komfortzone. Und ansonsten fein säuberlich gespalten: die Guten ins linke Töpfchen, die Schlechten zu den Rechten. Verschanzt in der Burg der Rechtschaffenheit, stößt man alles dem eigenen Denken Fremde ab, eliminiert jedwedes Nichteigene mit unbarmherzigem Furor – und nennt es „Haltung“.
Als Vorwand für die Streitverweigerung dient nicht selten der pseudowissenschaftliche Verweis auf eine zu vermeidende „false balance“: Wenn Medien „Minderheitspositionen“ zu viel Beachtung schenkten, entstünde ein falscher Eindruck. Als bedeute Mehrheit gleich Wissen! Und als wären Leserinnen nicht fähig zum Selbstdenken – sondern ein verführbarer Mob, den man vor den falschen Gedanken schützen muss.
Wir denken anders. Wir meinen, dass man das Denken und Meinen niemandem abnehmen sollte. Und dass die öffentliche Debatte, auch über strittige Positionen und mit „umstrittenen“ Personen, unerlässlich für die Meinungsbildung in einer offenen Gesellschaft ist. Wir nehmen Anstoß daran, wie sehr es salonfähig geworden ist, im Namen von Image und Moral einen passiven Angriffskrieg auf den anständigen Streit zu führen, bei dem ein altehrwürdiges Format wie das Streitgespräch zum Kollateralschaden wird.
Moralisch fragwürdig: Intellektuelle wollen nur mit Gleichgesinnten streiten - Der Freitag
Nicht alle Dunkelhäutigen halten den "Black History Month", der jedes Jahr im Februar begangen wird, für eine gute Idee. Auch ich empfinde ihn als kontraproduktiv. Der kluge Morgan Freeman bringt es auf den Punkt.
Die in mehrfacher Hinsicht engleiste Documenta, war hier bereits mehrfach Thema. Nun ist ein 140-seitiger Expertenbericht veröffentlicht worden, der die Kritik bekräftigt und gleichzeitig einordnet. Ich habe mich bewusst für einen Artikel aus der Süddeutschen Zeitung entschieden, die - um es freundlich auszudrücken - nicht für eine besondere Sensibilität gegenüber Antisemitismus bekannt ist. Wenn das Blatt, das von manchen aufgrund dieser Haltung scherzhaft als “Waffen-SZ” bezeichnet wird, bei diesem Thema einmal positiv auffällt, sollte man das nicht ignorieren. Auch hier gilt das Prinzip der Hoffnung als zuletzt sterbende Emotion.
Bisher übersehene Details sind hier dokumentiert, vieles ist neu eingeordnet. Wer, nur ein Beispiel, bekam damals schon mit, dass Ade Darmawan vom federführenden Kollektiv Ruangrupa bei der Anhörung im Bundestag tatsächlich sagte, die Documenta sei angetreten, nach dem Zweiten Weltkrieg die Wunden der Deutschen zu heilen? Vom Leid der Juden sprach er nicht.
Dafür haben die Wissenschaftler herausgearbeitet, wie die Ausstellung, die sie übrigens im Gegensatz zu anderen Experten und Kunstkennern für künstlerisch herausragend halten, zur "Echokammer für israelbezogenen Antisemitismus, und manchmal auch für Antisemitismus pur" werden konnte - und was sich bei der Documenta als Institution verändern muss.
Der Bericht beginnt mit einer Einführung in den Antisemitismus und seine visuellen Codes, bevor er sich der Aufgabe zuwendet, für die das Gremium eingesetzt wurde: der Analyse der inkriminierten Documenta-Werke, eine Aufgabe, für das die Experten ihr gesamtes kunst- und kulturhistorisches Besteck aufbieten. Zu der Darstellung des Juden mit Raubtierzähnen und SS-Runen auf dem Banner des Kollektivs Taring Padi war das meiste ebenso gesagt wie zu dem Mossad-Mann mit Schweinerüssel. Sie binden diese beiden antisemitischen Bilder aber noch in einen mehrseitigen Exkurs zur Geschichte Indonesiens ein.
Ähnlich minutiös gehen sie bei der Untersuchung der Serie "Guernica Gaza" vor, für die der Künstler Mohammed Al Hawajri mit Photoshop Aufnahmen des israelischen Militärs in ikonische Gemälde montiert hat. Sie fragen, warum der Künstler bei seiner Bearbeitung von Millets "Erntearbeiter bei der Rast" gerade die biblischen Figuren Ruth und Boas durch eine Gruppe von Soldaten ersetzt hat. Sie erkennen Echos der alten, antisemitischen Kindermörder-Tropen und konstatieren, dass die Israelis hier durchgängig als Täter dargestellt werden.
Noch deutlicher sind die antisemitischen Codes bei den Karikaturen in den "Archives des luttes des femmes en Algérie", die auf der Documenta erst mit Verspätung entdeckt, entfernt, für strafrechtlich unbedenklich befunden und wieder in den Saal gelegt wurden. Statt "dokumentarische Distanz" herzustellen, haben die Ausstellungsmacher hier, wie an einigen anderen Orten der Documenta, den problematischen Gehalt schlicht reproduziert.
Am schärfsten kritisieren die Autoren des Berichts die "Tokyo Reels": vom ehemaligen Sprecher der Terrorgruppe "Japanische Rote Armee", Masao Adachi, gesammelte Filme aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, die das Kollektiv "Subversive Film" zeigte. Drei der Filme stellen das Existenzrecht Israels infrage, zeigen Juden als Kindermörder und bemühen weitere antisemitische Stereotype. Die Filme lägen "hart an der Grenze zur Aufhetzung", konstatiert der Bericht.
Jedes einzelne dieser Werke war problematisch. Der desaströse Gesamteffekt ist jedoch durch ihre "gegenseitige Bekräftigung" entstanden und dadurch, dass "alle Werke, die sich mit dem Nahen Osten beschäftigten, einseitig eine antiisraelische Position vertraten". Der Beteuerung Ruangrupas, es seien durchaus auch jüdische Künstler in der "Weltkunstschau" vertreten gewesen, sie hätten sich nur nicht als solche identifizieren wollen, nehmen die Autoren dem Kollektiv nicht ab.
Die seit den ersten Gerüchten von BDS-Nähe und Israelhass trotzige Abwehr durch Ruangrupa sehen die Experten in dieser Vorstellung begründet. Und je lauter die Kritik wurde, desto mehr radikalisierten sich die Kuratoren und schotteten sich ab. Pressten sie sich anlässlich des Taring-Padi-Bilds noch ein mea culpa ab, schossen sie später mit Rassismusvorwürfen zurück. Leugneten sie anfangs jede Nähe zum BDS, ließen sie kurz vor Ende der Laufzeit Plakate zu, die man kaum anders denn als ins Höhnische gewendete BDS-Bekenntnisse verstehen konnte. ("BDS: Being in Documenta is a Struggle"). Obwohl sie anfangs bedauert hatten, die Gefühle von Juden verletzt zu haben, ignorierten sie die dringende Empfehlung des Expertengremiums, der Gesellschafter und Kulturstaatsministerin Roth, die "Tokyo Reels" nicht weiter zu zeigen. Sie waren bis zum letzten Documenta-Tag zu sehen.
Heftiger noch als Ruangrupa kritisieren die Autoren aber Alexander Farenholtz, der als Interim-Geschäftsführer nach der Entlassung von Sabine Schormann übernahm. Sein Zugeständnis, er sehe sich nicht in der Lage, zu beurteilen, was antisemitisch ist, sei eine falsch verstandene Unterordnung unter den Willen der Kuratoren. Farenholtz' "selbstauferlegte Sprachlosigkeit" macht sie fassungslos.
Was sich ändern muss - Süddeutsche Zeitung
Den in der liberalen Partei seit längerer Zeit tobenden Richtungskampfs verkörpern kaum zwei Personen besser, als Linda Teuteberg und Gerhart Baum. Die “Zeit” hat sie zu einem Streitgespräch getroffen. In diesem zeigt sich deutlich, wie sehr die beiden Lager sich voneinander entfernt haben. Mich betrübt das, denn im Moment bräuchte es eine starke liberale Kraft im politischen Deutschland dringender denn je. Leider sehe ich kein Ende dieses Konflikts. Zu lange hat man laute Minderheiten innerhalb der Partei gewähren lassen, denen es nicht im ein Miteinander, sondern um Spaltung geht. Interessant ist, dass man von den Wortführern dieser Minderheiten kaum noch etwas hört. Der Schaden ist trotzdem angerichtet.
Linda Teuteberg: Natürlich stellt die Zeitenwende auch den Liberalismus vor neue Herausforderungen. Gerade deshalb braucht es Konfliktbereitschaft und Konfliktfähigkeit, auch in der Ampel. Die FDP muss ihren eigenen Standpunkt definieren, und zwar ohne ständig zu überlegen, was wohl SPD oder Grüne dazu sagen. Von diesem liberalen Standpunkt aus sind dann Kompromisse möglich, die als solche auch nachvollziehbar sind. Wir sollten zum Beispiel nicht so tun, als seien Verbote die neue Freiheit. Die Rede von einer wahren, neuen Freiheit ist ein gefährlicher Etikettenschwindel. Nicht nur der offene, sondern gerade der subtile und verführerisch verbrämte Angriff auf die Freiheit muss ihre Verteidiger auf den Plan rufen.
ZEIT: Aber Herr Baum glaubt ja, dass sich die Liberalen in Zeiten von Pandemie, Energiekrise und Klimawandel prinzipiell mit einer schützenden Rolle des Staates anfreunden sollten. Was sagen Sie dazu?
Teuteberg: Statt dem Staat pauschal eine stärkere Rolle einzuräumen, sollten wir fragen, was Aufgabe des Staates ist und was nicht. Es ist absurd, die Demokratie durch ein sogenanntes Demokratiefördergesetz retten zu wollen, während die Bundeshauptstadt an der korrekten Durchführung einer Wahl scheitert. Von existenzieller Bedeutung ist, dass Kinder am Ende der Grundschulzeit Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben beherrschen. Und dass wir eine einsatzfähige Bundeswehr haben. Es geht also nicht um ein Mehr an Staat, sondern um die Konzentration auf die Kernaufgaben.
ZEIT: Frau Teuteberg, mal ehrlich, schauen Sie auf SPD und Grüne als Partner oder als Gegner?
Teuteberg: Als Koalitionspartner, aber natürlich sind wir auch Wettbewerber. Jede Partei tritt bei jeder Wahl für sich an, mit ihrem politischen Angebot sind die Freien Demokraten Vollsortimenter. Zur Zeitenwende gehört eine durchdachte Migrationspolitik, auch weil Belarus und Russland Migration missbrauchen, um westliche Demokratien zu destabilisieren. Europa muss Flüchtlinge und Grenzen schützen können. Dieses Thema war nicht opportun vor der letzten Bundestagswahl. Lieber hat man darüber geredet, wie man den Wohlstand verteilt, dessen Erwirtschaftung man zugleich verächtlich macht und untergräbt.
Teuteberg: Differenzierung tut not in der Debatte über Migration. Klassische Einwanderungsländer unterscheiden klar zwischen Asyl und Arbeitsmigration. Bei uns hingegen werden – durch die Verwendung des Wortes "Geflüchtete" statt des Rechtsbegriffes "Flüchtling" – die rechtlich anerkannten Fluchtgründe ersetzt durch den reinen Vorgang der Flucht. Letztlich soll so jede Form von Migration eine Aufnahmepflicht nach sich ziehen. Liberale sollten hier auf Präzision bestehen, gerade damit die Akzeptanz des Asylrechts erhalten bleibt.
Teuteberg: Das Urteil befreit indes nicht von der Pflicht zur konkreten Abwägung, ob ein Freiheitseingriff wirklich gerechtfertigt ist. Die Hybris und Unbedingtheit der "Letzten Generation", die Abgeordnete am Eingang des Parlaments bedrängt und behauptet, wer nicht ihre Forderungen umsetzt, handele verfassungswidrig, zeigen eine gefährliche Verachtung rechtsstaatlicher Verhältnismäßigkeit und demokratischer Prozesse und Institutionen.
Baum: Ja, diese Behauptungen der "Letzten Generation" sind Unsinn.
Teuteberg: Das ist doch ein Popanz. Ich kenne niemanden, der pauschal gegen Regeln ist – aber dafür viele Menschen, die in der Lage sind, zwischen dem Verbot einer ganzen Antriebstechnologie und einer umweltschonenden Regulierung derselben zu unterscheiden. Wenn Europa pauschal den Verbrenner abschafft und nicht die Option wahrt, ihn künftig auch klimaneutral zu nutzen, werden die entsprechenden Märkte in Asien und Afrika durch andere bedient. Dabei brauchen wir wirtschaftliche Stärke, gerade auch im Systemwettbewerb mit autoritären, imperialistischen Regimen. Mit der Deindustrialisierung ist es ähnlich wie mit dem Abbau von Bürgerrechten: Sie erfolgt allmählich und von vielen zunächst unbemerkt.
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes.
Georg Renner spricht mit „Presse“-Modejournalist Daniel Kalt über die Bedeutung von Mode für die visuelle Inszenierung von Politikern.
Slim-fit-Bundeskanzler, die Iron Lady mit ihren Handtaschen, Angela Merkels ikonisch bunte Blazer: Bekleidung, Mode, der persönliche Stil ist aus der bildgerechten politischen Inszenierung nicht mehr wegzudenken. „Presse“-Stilredakteur Daniel Kalt hat mit „Staat tragen“ ein Buch darüber geschrieben. Mit Kleine Zeitung-Innenpolitikchef spricht er über modische Inszenierung von Thatcher bis Kickl.
Bill Maher beschäftig sich in einem Kommentar mit dem Zeitpunkt, an dem Bewegungen überdrehen.
The problem with communism – and with some very recent ideologies here at home – is that they think you can change reality by screaming at it.
Helge Schneider im Interview mit Sandra Maischberger. Besonders die Äußerungen zur wackeligen Theorie “Kulturelle Aneignung” sind interessant.
Für den Vorwurf "kulturelle Aneignung" zeigt Schneider kein Verständnis: „Musik ist entstanden durch Vermischung von Kulturen und durch Wanderungen. Wenn ich Musik fühle und jemand anderes sagt, dass ist kulturelle Aneignung, das interessiert mich einen Scheißdreck", betont der Entertainer.
Ingo Meyer unterhält sich mit Jörg Thadeusz über “gerechte” Sprache.
Identitätsaktivisten wollen überall eine gerechte Sprache durchsetzen. Aber gibt es so etwas überhaupt? Ingo Meyer - Journalist der Berliner Zeitung - hat mit einem klugen Text zum Thema im vergangenen Jahr den Theodor-Wolff-Preis gewonnen.
Ingo Meyer, Journalist: Gendern und gerechte Sprache - WDR
Kultur
In Groningen wurde eine Aufführung des Stücks “Warten auf Godot” untersagt, weil nur männliche Schauspieler mitwirkten. Simone Schmollack kommentiert treffend in der “TAZ”.
Im niederländischen Groningen wurde eine für März geplante Aufführung vor Kurzem verboten. Die Theatergesellschaft der Groninger Universität hatte nur Männer zum Casting für die fünf Männerrollen eingeladen: die beiden Obdachlosen Estragon und Wladimir, der Großgrundbesitzer Pozzo mit seinem Diener Lucky sowie ein junger Bote Godots. Das widerspreche den aktuellen Genderkriterien, bestimmte Menschengruppen dürften so von vornherein ausgeschlossen werden – so in etwa lässt sich die Kritik des Kulturzentrums der Universität, wo das Stück laufen sollte, zusammenfassen.
Bei „Warten auf Godot“ gibt es allerdings einen Haken: Beckett hatte testamentarisch verfügt, die Rollen ausschließlich mit Männern zu besetzen – die Erbengemeinschaft ist da unerbittlich. Samuel Beckett übt mit seinem Stück manifeste Kritik an den Zuständen der Welt nach 1945: Gewalt auf den Straßen, Menschenverachtung und Ausbeutung überall auf dem Globus (daher auch Pozzos „Sklave“), Wut über das Schweigen zu den Zuständen daran. Das Warten ist, wenn man so will, Sinnbild für die kritische Zurückhaltung bei der Aufarbeitung der Kriegs- und Nachkriegswelt.
Damit gehört das Stück auch heute auf die Bühne. Dass darin nur Männer auftreten dürfen, kann man selbstverständlich kritisieren. Ebenso Becketts maskulinistische Begründung: Frauen haben keine Prostata. Nicht zulässig jedoch ist das Herausreißen des Stücks aus seinem historischen Kontext. Genderfragen spielten nach dem Krieg eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Diese Realität vergessen manche Genderkritiker allzu oft – und schaden damit sowohl ihrer positiven Sache als auch ihrer Glaubwürdigkeit. Und das ist, nun ja, absurd.
Felix Dachsel hat im “Spiegel” einen grandiosen Artikel über seine neu erwachte Leidenschaft für Luxusuhren geschrieben. Der Text erinnerte mich an mehreren Stellen an das Magazin “Tempo”, welches ich als Jugendlicher mit Begeisterung verschlang und für das es nach seiner Einstellung nie adäquaten Nachfolger gab. Weder in Print- noch in Blogform. Ein Lesevergnügen.
Der Boden ist aus Saphirglas, ich schaue ins mechanische Uhrwerk. Ich schiebe die Scheine in einem ungeordneten Haufen über den Tisch. Mein Herz schlägt etwas schneller, als würde ich etwas Verbotenes tun: Ich kaufe die erste Luxusuhr meines Lebens.
Ich habe mich natürlich gefragt, ob ich ein Angeber bin, aber mir fiel nicht ein, bei wem ich angeben könnte. Im Alltag begegnen mir klimabewusste Menschen unter vierzig, die sich gegenseitig davon berichten, auf was sie neuerdings alles verzichten: Wir fliegen nicht mehr, wir schenken uns nichts, wir haben unser Auto verkauft und so weiter. Ihr Statussymbol ist der Verzicht. Da stehe ich mit einer teuren Uhr am Handgelenk eher unter Christian-Lindner-Verdacht.
Und wenn wir schon mal da sind, lernen wir noch Vokabeln. Wie zum Beispiel nennt der Uhrmacher diese kleine Lupe, die er in sein Auge klemmt? »Lupe«, sagt Ralf Meertz.
Wir erinnern uns kurz an die SPD-Politikerin Sawsan Chebli, die vor ein paar Jahren einen Shitstorm abbekam, weil sie eine Datejust von Rolex trug, die nicht mehr kostet als ein besserer Motorroller. Chebli reagierte mit einem furiosen Wutausbruch: Ihr sage keiner, was Armut ist. Sie habe mit zwölf Geschwistern in zwei Zimmern gewohnt, auf dem Boden geschlafen und gegessen und am Wochenende Holz gehackt, weil Kohle zu teuer war.
Wenn die goldene Rolex ein selbstbewusstes Zeichen für sozialen Aufstieg ist, dann bedeutet die Aufregung über Cheblis Uhr möglicherweise, dass diese Gesellschaft Probleme hat mit Aufsteigern, die ihren Erfolg zeigen. Die Mittelschicht, die unter sich bleiben will, rümpft die Nase über zu viel Gold. Das ist die verlogene, deutsche Bescheidenheit.
Wir sind hier, um zu verstehen, was mit den jungen Leuten und den teuren Uhren los ist, was da seit ein paar Jahren abgeht. Denn nicht nur Luisa Neubauer ist Deutschland, auch das hier ist Deutschland. Erstwähler wählen gern die Grünen, das hat die letzte Bundestagswahl gezeigt. Aber sie wählen noch lieber die FDP. Die Jugend versammelt sich nicht nur um die Abbruchkante von Lützerath, sondern auch um die Rolex GMT-Master II.
Als ich die Arbeiter in der Fabrik beobachte, die sich in ihren weißen Kitteln über Uhrwerke beugen, ohne jede Hast, als gebe es keine Welt da draußen, überkommt mich der Gedanke, dass sich ihre Ruhe in den Uhren speichert, bis die Ruhe eines Tages auf einen gestressten Menschen übergeht wie mich.
Ich bin mit Kritik am Kapitalismus aufgewachsen, mit Kritik am unendlichen Wachstum. Als ich älter wurde, merkte ich, dass ich den Kapitalismus eigentlich ganz gut finde, Kaufen machte mir Spaß. Nun aber spüre ich diese sentimentale Sehnsucht nach etwas, das lange hält. Nach Dingen, die bleiben. Diese Unlust, eine kurzlebige Smartwatch zu tragen. Meinen Ärger über die wachsenden Berge von Elektroschrott.
Ich habe wohl meine Form der Kapitalismuskritik gefunden: Luxusuhren.
Wie ich lernte, Luxusuhren zu lieben - Spiegel
Coverversion der Woche: Dionne Warwick - Alfie
Vorgestern starb Burt Bacharach. Deshalb war die Auswahl der heutigen Coverversion einfach. Das Stück wurde 1966 von Burt Bacharach und Hal David als Soundtrack für den gleichnamigen Film geschrieben Es war ein großer Hit sowohl für für Cilla Black als auch für Dionne Warwick.
Obwohl Bacharach „Alfie“ als seinen persönlichen Favoriten hat, waren er und Hal David nicht begeistert von der Idee, als sie von Ed Wolpin angesprochen wurden. David hielt den Namen der Titelfigur für langweilig: „Einen Song über einen Mann namens ‚Alfie‘ zu schreiben, erschien mir damals nicht besonders aufregend.“ Die Komponisten erklärten sich bereit, einen Song einzureichen, wenn sie ihn innerhalb von drei Wochen fertigstellen könnten.
Die Version von Dionne Warwick ist die von Bacharach Präferierte.
Epilog
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Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #114
Anmerkung zum Interview von Ingo Meyer durch Jörg Thadeusz:
Ich bin nicht sicher, ob Thadeusz den advocatus diaboli gegenüber Meyer spielte und die Argumente der Genderbefürworter nur *stellvertretend* vorbrachte oder ob er selber daran glaubt - ich fürchte letzteres. In dem Fall zeigt er leider eine erschreckende Unkenntnis des Deutschen und seiner Semantik, genauer gesagt der Semantik und der Pragmatik des sog. generischen Maskulinums. Bei 15:35 korrigiert Ingo Meyer zum Glück den Unsinn, den Thadeusz reproduziert. Die meisten, die das sog. generische Maskulinum als das Böse schlechthin bekämpfen, haben nach meinem Eindruck gar nicht verstanden, was das ist. Ich empfehle da immer wärmstens folgendes Papier:
Zeugen gesucht! Zur Geschichte des generischen Maskulinums im Deutschen. Ewa Trutkowski, Helmut Weiß. March 2022 https://lingbuzz.net/lingbuzz/006520
Sowohl Helge Schneider als auch Bill Maher waren für mich diese Woche Fackeln des gesunden Menschenverstands in diesem Tunnel des Illiberalismus und der Cancel Culture.
Danke für das Morgan-Freedom-Video zum BHM, kannte ich nicht. Da sagt er wirklich ein paar wahre Worte, die man immer wieder sagen sollte: Wir perpetuieren Rassismus, indem wir im woken Stil auf unseren Unterschieden herumhacken und in jedem erdenklichen Kontext die Hautfarbe/Ethnie in den Vordergrund stellen. Warum können wir einander nicht einfach als Menschen betrachten?