Prolog
Ich hoffe, Sie sind gut ins neue Jahr gekommen. Mein Jahreswechsel war sehr angenehm und nach einer wohlverdienten Pause geht es nun auch mit dem Newsletter weiter.
Was mich zum Ende des Jahres verblüffte, hätte mich eigentlich nicht verblüffen dürfen: Die moralische Verwahrlosung der hier regelmäßig thematisierten Milieus. Wenn Jan Böhmermann Liberale mit Terroristen gleichsetzt, nachweislich Fake News verbreitet und Frauen als "Scheißhaufen" bezeichnet, erntet er tosenden Applaus. Wenn Dieter Nuhr einen satirischen Jahresrückblick macht, erntet er moralische Empörung an der Grenze zur Hysterie.
Interessant war auch die Erkenntnis, dass man in Berlin mit einer Hebebühne auf einen öffentlichen Platz fahren und an einem dort aufgestellten Weihnachtsbaum herumsägen kann, ohne daran gehindert zu werden. Ich habe versucht, mir dieses Szenario in München vorzustellen. Es ist mir nicht gelungen.
Viele halten die Errungenschaften der Demokratie inzwischen für so selbstverständlich, dass sie diese immer häufiger geringschätzen. Bärbel Bas forderte zum Beispiel das Ende der Debatten über die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken. Debatten sind allerdings ein zentrales Element dieser Staatsform. Sie per Ansage beenden zu wollen, spricht Bände über die Gedankenwelt der Ansagenden. Aus der Forderung, eine Debatte zu beenden, kann man zudem inzwischen recht zuverlässig ableiten, dass diese Debatte unbedingt geführt werden sollte.
Erstaunlich bleibt auch, dass es ausgerechnet Menschen sind, die ihr gesamtes Leben im oder für den Staat gearbeitet haben, welche die freie Wirtschaft belehren. Oder entscheiden wollen, wie hoch Erbschaften und Erbschaftssteuer sein sollten. Sie zeigen dabei regelmäßig auf wenige Superreiche, meinen aber eigentlich den Mittelstand.
Interessant fand ich, dass Kai Gniffke, SWT-Intendant und künftiger ARD-Vorsitzender, in einer Gesprächsrunde mehr Meinungsvielfalt anmahnte und im Prinzip zugab, dass diese bisher nicht in ausreichender Form gewährleistet sei. Er sagte:
Wir müssen ein Klima in den Häusern schaffen, in denen alle Auffassungen, die sich an demokratische Spielregeln halten, einen Platz haben. […] Das ist sicherlich noch eine Aufgabe.
Und:
Bestimmte Haltungen und Meinungen haben wir möglicherweise nicht in dem Maße auf einer Kommentatorenliste, wie es möglicherweise dem Durchschnitt der Bevölkerung entspricht.
Das ist von daher bemerkenswert, weil diese Tatsache in der Vergangenheit immer vehement bestritten wurde.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Elefanten im Raum, den Rechtsstaat und Journalismus.
Politik und Gesellschaft
In der Silvesternacht kam es in Berlin zu schweren Ausschreitungen, bei denen Polizei und Rettungskräfte angegriffen wurden. Seitdem tobt eine Debatte, bei der sich die unterschiedlichen Lager nicht einmal bei der Problembeschreibung einig werden. Die einen sehen ihre Ressentiments gegenüber Migranten bestätigt, die anderen behaupten, die Herkunft sei grundsätzlich irrelevant. Beides ist unzutreffend und differenzierte Positionen bleiben mal wieder auf der Strecke. In diesem Jahr ließ sich das Thema allerdings nicht so leicht einfangen. Selbst Innenministerin Nancy Faeser, die nicht dafür bekannt ist, besonders genau auf Themen zu schauen, die im von ihr präferierten politischen Lager als Tabu gelten, äußerte sich bei Twitter ungewohnt deutlich:
Gute Politik muss klar benennen, was ist: Wir haben in deutschen Großstädten ein Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsprogrammen kaum erreicht werden.
Klare Aussagen dieser Art kommen leider oft nur dann, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt, wenn der mediale Druck so groß wird, dass man das offensichtliche ansprechen muss.
Die Polizei Berlin twitterte, es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Dem ist zuzustimmen. Das Problem ist, dass in Berlin regelmäßig Parteien wieder gewählt werden, die diesem Problem gar nicht entgegenwirken wollen.
Mit Aminata Touré, der Ministerin für Soziales, Jugend, Familie, Senioren, Integration und Gleichstellung in Schleswig-Holstein hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Sie möchte im Zusammenhang mit den Vorfällen ausdrücklich nicht über Migration diskutieren, obwohl offensichtlich ist, dass die Täter fast ausnahmslos einen Migrationsghintergrund haben. Selbst die Kritik von Migranten blendet sie aus. Das ist genauso falsch, wie diejenigen, die im Nachgang der Silvesternacht ausschließlich über Migration diskutieren wollen.
Im Deutschlandfunk findet Burkhard Ewert (Neue Osnabrücker Zeitung) deutliche Worte.
Die Silvesterkrawalle und die nachfolgenden Debatten aber sind nicht der Grund für diesen Wandel. Sie bildeten nur den Anstoß, um genauer hinzusehen und die Umstände ehrlicher zu benennen, ähnlich wie es im Jahr 2015 war. In der damaligen Silvesternacht ließen massive sexuelle Übergriffe den unkritischen Blick auf die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Afrika platzen. Diesmal flogen Raketen und Böller, Flaschen und Steine auf Feuerwehrleute und Polizisten, während sich die Täter filmten, mit armseligem Geprotze in die Kameras sprachen und ihre Videos umgehend posteten.
Die Bilder beendeten für jeden sichtbar die Erzählung einer entrechteten, grundsätzlich gutwilligen zugewanderten Jugend, die fleißig Bewerbungen schreibt. Die doch eigentlich etwas ganz anderes machen möchte und sich nur wegen diskriminierender Strukturen, traumatischer Fluchterfahrungen und rassistischer Chefs nicht als Teil der deutschen Gesellschaft entfalten könne.
Das Interessante dabei: Wer die Täter und ihr Milieu offen benennt, wird mitunter reflexartig als Rassist bezeichnet und beschuldigt, durch Stigmatisierung derlei Grenzüberschreitungen erst zu befördern. Dieser Ansatz aber scheint nun in die Defensive zu geraten – einerseits, weil die mehrheitlich eingewanderten Täter mit ihrer Gewalt selbst prahlten.
Andererseits schwindet auch in wohlmeinenden Kreisen, unter Szenekennern und Sozialarbeitern, Journalisten und Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Einsatzkräften das Verständnis. Verständnis für ein Geschwurbel, das die Herkunft der Täter und ihr soziales Umfeld ausblendet, wenn es doch mindestens mittelbar einen relevanten Teil der Problemlage bildet.
Kein Geheimnis ist auch, dass gerade die Bewohner der einschlägigen „Szeneviertel“ – selbst oft Einwanderer – in Berlin und Frankfurt, Hamburg oder Köln keinen Nerv mehr darauf haben, unter der Rohheit dieser Gruppen selbst zu leiden und im Zweifel noch in einen Topf mit ihnen geworfen zu werden.
Der Blick auf migrantische Jugendliche ändert sich - Deutschlandfunk
In Lützerath steppt seit Tagen der Bär, wie man in Berlin sagen würde. Klimaaktivisten randalieren gegen die Räumung des Dorfes und ignorieren dabei, dass es sich dabei um eine demokratische Entscheidung handelt. Die Jugendbewegung, die sich Gewaltlosigkeit auf die Fahnen geschrieben hat, greift die Polizei mit Steinen und Molotow-Cocktails an.
Es ist für rechtstreue Bürger nicht mehr nachvollziehbar, was sich linke Aktivisten erlauben dürfen. Dass diejenigen, die sich seit Beginn mit dieser Gruppe solidarisieren, positiv darüber sprechen und schreiben, es nicht schaffen, auch nur einen kritischen Satz über die entfesselte Gewalt zu verlieren, ist so entlarvend, wie es zu erwarten war.
Grundsätzlich sollte gelten: Demokraten erkennen demokratische Entscheidungen an. Eine eventuelle Korrektur hat ebenso auf demokratischem Weg zu erfolgen. Wenn jede Interessengruppe versuchte, ihre Ziele mit Rechtsbrüchen durchzusetzen, hätten wir irgendwann Weimarer Verhältnisse. Das möchte niemand.
Der kluge Alan Posener kommentiert in der “Zeit”.
Ende Gelände, Letzte Generation und Co. – beziehungsweise die überschaubare Zahl gut trainierter Aktivistinnen, die Lützerath in eine Art gallisches Dorf verwandelt haben, das den zur Räumung geschickten Polizistinnen ziemlich lange trotzen dürfte – wollen im Weiler nicht etwa die bäuerliche Lebensweise oder das Eigentum der längst ausgezogenen Bewohner schützen, nicht einmal eine seltene Krötenart oder ein unersetzbares Baudenkmal. Sie haben das konkrete Dorf Lützerath schon in Lützi umbenannt, so wie sie den Hambacher Wald Hambi nennen, und dadurch den Kampf um Hambi und Lützi auf das Niveau eines Kinderfilms herabziehen: "Lützi bleibt!" "Hambi wehrt sich!" Bibi und Tina mit Alex gegen den gemeinen Großkonzern! Tohuwabohu total!
Die Aktivisten wollen ein Zeichen setzen. Und bei aller Selbstverniedlichung sind schwerste Opfer einkalkuliert.
Gönne ich den Lützi-Besatzern diese Erfahrungen nicht? Doch, ich gönne sie ihnen. Einschließlich der Blessuren von Gummiknüppeln und schlimmerem, der diversen Zellen, der Verurteilung wegen Landfriedensbruch und Beamtenbeleidigung, Sachbeschädigung und versuchter Gefangenenbefreiung, die ich davongetragen habe. Können sie alles haben. Denn der Rechtsstaat muss sich wehren, das Recht muss durchgesetzt werden. Der Spruch ist ja richtig: "Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht!" Nur war das damals nicht der Fall und ist es heute auch nicht.
Die Rechtmäßigkeit der Enteignung, Entschädigung und Umsetzung der Bewohner von Lützerath wurde durch alle Gerichtsinstanzen bestätigt. Die Politik – die schwarz-grüne Landesregierung in NRW, die rot-grün-gelbe Bundesregierung – hat keine Optionen; sie muss durchsetzen, was Recht ist. Alles andere wäre Populismus.
Hätte man nicht vor einem Jahr drei Atomkraftwerke abgeschaltet; würde man nicht die verbliebenen drei deutschen AKW in drei Monaten abschalten; hätten die Franzosen ihre AKW besser gewartet und Kühlturme gebaut, statt auf die Kühlung durch Flüsse zu setzen; würde man nicht auf den Produktionismus setzen – hätte, würde, könnte, müsste: ja. Oder: jein, denn man kann sich auch fragen, wem etwa geholfen wäre, wenn Deutschland die energieintensive Industrieproduktion herunterfährt. Wer etwa – wie ich – seit neun Monaten auf die schon bezahlten Solarpanels fürs Dach wartet, weil sie aus China kommen, kann sich auch fragen, ob die Kritik am Produktionismus etwas zu kurz springt.
Was aber in diesem Land passiert, das entscheiden nicht selbst ermächtigte Berufs- und Freizeitrevolutionäre. Das entscheiden gewählte Parlamente und von diesen Parlamenten eingesetzte Regierungen; das entscheiden auch unabhängige Gerichte, nach Maßgabe von Recht und Gesetz. Ich erwarte nicht, dass die Besatzer das einsehen. Auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, Teil der Lösung sein statt Teil des Problems – all das ist viel sexyer. Nur: Wer sich gegen die Rechtstaatlichkeit stellt, steht eben nicht auf der richtigen Seite der Geschichte, sondern wird selbst zum Problem. Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.
Die Thermopylen der Klimabewegung - Zeit
Zum Ende der Rubrik diesmal Sehenswertes. Ein Interview mit dem Journalisten Jochen Bittner, in dem er über intuitive Urteile, gute Argumente und aufgeklärten Journalismus spricht.
Jochen Bittner bildet im "Streitgespräch" verschiedene Perspektiven auf ein Thema ab. Er betont: "Man kann nicht objektiv berichten, aber man kann den Versuch unternehmen, das Weltgeschehen objektiv zu betrachten".
Interview mit Jochen Bittner von "Die Zeit"
Kultur
Coverversion der Woche: Yardbirds - Train Kept A-Rollin'
Jeff Beck ist gestorben. Genau wie auch Jimmy Page (Led Zeppelin) war er Teil der Yardbirds. In diesem Ausschnitt aus dem Film “Blow Up” von Michelangelo Antonioni sind sie gemeinsam auf der Bühne zu sehen. Der Film ist übrigens einer der besten aller Zeiten.
Der Song wurde erstmals 1951 vom amerikanischen Jazz- und Rhythm-and-Blues-Musiker Tiny Bradshaw aufgenommen. Ursprünglich im Stil eines Jump Blues komponiert, orientierte sich Bradshaw an einem bereits vorhandenen Text. 1965 nahmen die Yardbirds das Lied im frühen psychedelischen Blues-Rock-Stil auf, was hauptsächlich auf Jeff Becks Fuzz-Effekte zurückzuführen ist. Dieses Arrangement wurde bald zum meist kopierten. Nachdem Gitarrist Jimmy Page der Gruppe beigetreten war, nahmen sie 1966 eine aktualisierte Version mit neuem Text und dem Titel „Stroll On“ für den Film “Blow Up” auf. Diese Version gilt als ein Vorläufer von Heavy Metal.
Als sich die Yardbirds 1968 auflösten, wurde "Train Kept A-Rollin'" von Pages neuer Band Led Zeppelin während ihrer frühen Tourjahre als Eröffnung bei Konzerten gespielt. Das Lied wurde auch zu einem wichtigen Bestandteil von Aerosmiths frühem Live-Repertoire und von der Band 1974 für ihr zweites Album aufgenommen.
Epilog
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Was mich an der "Silvester"-Debatte besonders erbost, ist, dass sich nichts bessern kann, weil alle Beteiligten an der dämlichen Diskussion die Debatte vergiften. Das eher linke Lager hält alle, die nicht aussehen wie Kinder von Franz und Inge, pauschal für vom Kapitalismus unterdrückte Opfer, die auf jeden Fall und unter allen Umständen Opfer sind. Ob mittelalterliches Rollenverständnis der Geschlechter, ob rechtsprechung durch islamische Gelehrte: Vor der Rassismuss-Karte haben alle auf der linken Seite so viel Angst, dass jede Verhältnismäßigkeit verloren geht. Das Problem ist: Es *gibt* nun einmal objektiv Probleme bei der Intergration. Die Ursachen dafür sind vielfältig, nicht eindimensional, und sie sind auch nicht alleinige Schuld der jugendlichen aus arabischen oder türkischen Familien. Aber so zu tun als gäbe es keinerlei Probleme oder seien an allem nur der Rassismus von Karl-Heinz aus Ennepetal schuld, ist grotesk und geht soweit an der Lebenswirklichkeit vorbei, dass sich jede Grundschullehrerin in Duisburg, jeder Fussballschiedsrichter in Berlin und jede Arzthelferin in Hamburg schlicht verarscht vorkommt. Und wenn niemand mehr auch nur sagen darf, dass es Probleme gibt, ohne Nazi genannt zu werden - nun, dann entsteht ein Vakuum. Dann spricht entweder jemand die Probleme an, dem es egal ist, als Nazi beschimpft zu werden, oder dem Wähler ist es egal, Nazi genannt zu werden, wenn der dann die wählt, die sich noch trauen, das Thema anzusprechen. ABER: das konservative Lage ist natürlich genauso idiotisch. Die Probleme hängen natürlich nicht nur damit zusammen, dass die Kinder Mohammed oder Bahira heißen, und auch wir haben die Hilfe bei der Intergration der Eltern und Großeltern verweigert. Die besten Freunde meines Sohnes heissen Taha, Djibril und Mohammed, und das sind natürlich Berliner - und Deutsche - Kinder, völlig egal, welchen Pass sie haben. und es ist auch an uns allen, Ihnen das Gefühl zu geben, ebenso ein Teil von uns zu sein wie jeder Markus und jede Stefanie.
tl;dr: Die spinnen doch ALLE, die Römer.