Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #11
George Orwell, dessen Werk “1984” ich bereits als Jugendlicher begeistert las, hat leider durch seine Beliebtheit in populistischen und verschwörungsmythischen Kreisen in den letzten Jahren viel erdulden müssen. Ein schwereres Schicksal hat nur die Erzählung “Der Kleine Prinz” von Antoine de Saint-Exupéry, welche so dermaßen totzitiert wurde, dass es wirklich ein Jammer ist. Das macht das Buch allerdings nicht schlechter und man muss Orwell zugestehen, dass einige Dinge, die er dort als Science Fiction entwarf, mit einigen Jahren Verspätung tatsächlich Wirklichkeit geworden sind. Nun wurde ich auf ein Zitat aus dem Roman aufmerksam, an das ich mich gar nicht mehr erinnern konnte, das aber hervorragend zur aktuellen Stimmung bezüglich Geschichtsvergessenheit, Furor und Ignoranz passt. Es lautet:
Every record has been destroyed or falsified, every book rewritten, every picture has been repainted, every statue and street building has been renamed, every date has been altered. And the process is continuing day by day and minute by minute. History has stopped. Nothing exists except an endless present in which the Party is always right.
Tja, da hatte der gute alte George wohl einen Punkt. Fast schon unheimlich, wie oft er in diesem Buch richtig lag.
Diese Woche geht es unter Anderem erneut um die Debatte betreffend Cancel Culture, das Ende einer meiner Lieblingssendungen und Rassismus an Ivy League Universitäten.
Nun aber los.
Politik/Gesellschaft
In den Feuilletons und den sozialen Medien finden im Moment teils hochgradig bizarre Debatten darüber statt, ob Cancel Culture existiere, oder nicht. Diejenigen, welche die Existenz des Phänomens bestreiten, arbeiten sich am Heftigsten an ihm ab. Diskussionen darüber werden als “Gespensterdebatte” oder “rechtes Narrativ” bezeichnet, um sie zu unterbinden und die Diskutierenden zu diskreditieren. Einige tun das, um eine offene Debatte über eine Taktik zu verhindern, die sie seit Jahren ganz bewusst anwenden. Als besonders unzutreffend wird die Unterstellung des “rechten Narrativs” auch aufgrund der Tatsache, dass es Cancel Culture genauso von Rechts gibt, entlarvt. Eine weitere Strategie der diesbezüglichen Diskursverhinderung ist die Akademisierung der Debatte, welche weniger oder nicht Gebildete ausschließt, was das sonst so laut verkündete Ideal der Inklusion ebenfalls als unehrlich und selektiv erscheinen lässt. Es gibt inzwischen derartig viele Beispiele für Cancel Culture (Nicht wenige waren hier bereits Thema.) aus dem In-/ und Ausland, dass ich dieses Bestreiten eines faktisch vorhandenen Phänomens, welches übrigens nicht zufällig genau in den Bereichen zu beobachten ist, in denen es um politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel geht, nicht ernstnehmen kann.
Darüber, was Cancel Culture eigentlich ist, ob es sie gibt, Folgen, Methoden und Debatten hat Ross Douthat einen sehr interessanten Artikel in der “New York Times” geschrieben. Dort stellt er zehn Thesen auf. Nach den Vorgängen um Bari Weiss bin ich von diesem differenzierten Text positiv überrascht.
Everywhere is the same place, and so is every time. You can be canceled for something you said in a crowd of complete strangers, if one of them uploads the video, or for a joke that came out wrong if you happened to make it on social media, or for something you said or did a long time ago if the internet remembers. And you don’t have to be prominent or political to be publicly shamed and permanently marked: All you need to do is have a particularly bad day, and the consequences could endure as long as Google.
You don’t need to cancel Rowling if you can cancel the lesser-known novelist who takes her side; you don’t have to take down the famous academics who signed last week’s Harper’s Magazine letter attacking cancel culture if you can discourage people half their age from saying what they think. The goal isn’t to punish everyone, or even very many someones; it’s to shame or scare just enough people to make the rest conform.
It’s not just technology or ideology, in other words, it’s both. The emergent, youthful left wants to take current taboos against racism and anti-Semitism and use them as a model for a wider range of limits — with more expansive definitions of what counts as racism and sexism and homophobia, a more sweeping theory of what sorts of speech and behavior threaten “harm” and a more precise linguistic etiquette for respectable professionals to follow. And the internet and social media, both outside institutions and within, are crucial mechanisms for this push.
It’s debatable whether these new left-wing norms would be illiberal or whether they would simply infuse liberalism with a new morality to replace the old Protestant consensus. It’s arguable whether they would expand the space for previously marginalized voices more than they would restrict once-mainstream, now “phobic” points of view. But there’s no question that people who fall afoul of the emergent norms are more exposed to cancellation than they would have been 10 or 20 years ago.
10 Theses About Cancel Culture - The New York Times
Bereits Ende Juni hat Yascha Mounk, einer der Unterzeichner des offenen Briefes, welcher im Magazin “Harper’s Magazine” publiziert wurde und hier Thema war, Fälle zusammengetragen, in denen Menschen vor die Trümmer ihrer Existenz gestellt wurden, ohne dass sie sich falsch verhalten hatten. Das zeigt, dass der Kampf gegen Unrecht inzwischen nicht selten selbst Unrecht produziert. Das ist gefährlich und schadet dem grundsätzlich begrüßenswerten Ansatz.
What all of these rather different cases have in common is that none of the people who were deprived of a livelihood in the name of fighting racism appear to have been guilty of actually perpetuating racism.
Stop Firing the Innocent - The Atlantic
Inzwischen erheben auch immer mehr Prominente ihre Stimme gegen den Trend, alles nicht genehme entfernen zu wollen. Einer davon ist der Musiker Nick Cave, der dies nicht zum ersten Mal tut. In der Vergangenheit hatte er sich bereits über seinen Newsletter “Red Hand Files” an einen Fan gewandt, der ihn wegen älterer Songtexte kritisierte und ihm eine Änderung dieser anriet. Nun hat er auf erneut eine Frage beantwortet.
Frances, you’ve asked about cancel culture. As far as I can see, cancel culture is mercy’s antithesis. Political correctness has grown to become the unhappiest religion in the world. Its once honourable attempt to reimagine our society in a more equitable way now embodies all the worst aspects that religion has to offer (and none of the beauty) — moral certainty and self-righteousness shorn even of the capacity for redemption. It has become quite literally, bad religion run amuck.
Cancel culture’s refusal to engage with uncomfortable ideas has an asphyxiating effect on the creative soul of a society. Compassion is the primary experience — the heart event — out of which emerges the genius and generosity of the imagination. Creativity is an act of love that can knock up against our most foundational beliefs, and in doing so brings forth fresh ways of seeing the world. This is both the function and glory of art and ideas. A force that finds its meaning in the cancellation of these difficult ideas hampers the creative spirit of a society and strikes at the complex and diverse nature of its culture.
But this is where we are. We are a culture in transition, and it may be that we are heading toward a more equal society — I don’t know — but what essential values will we forfeit in the process?
Love, Nick
What do you think of cancel culture? - The Red Hand Files
Das Justice Department meint herausgefunden zu haben, dass die Yale-Universität asiatische und weiße Anwärter für Studienplätze beim Auswahlverfahren aufgrund ihrer Ethnie und regionaler Herkunft benachteiligt. Ähnliche Vorwürfe gibt es gegenüber Harvard. Wenn das stimmt, wäre das ein weiterer Beweis dafür, dass der Kampf gegen Rassismus oft rassistisch geführt wird.
The department said Thursday that it found Yale discriminates based on race and national origin, violating federal civil-rights law, and that race was the “determinative factor” in hundreds of admissions decisions each year. It said for the majority of applicants, Asian-American and white students have one-tenth to one-fourth the likelihood of being admitted as African-American applicants with comparable academic credentials.
“Yale rejects scores of Asian American and white applicants each year based on their race, whom it otherwise would admit,” the Justice Department said.
Zurück nach Deutschland: In der Debatte um die Ausladung von Lisa Eckhart von einem Literaturfestival hat sich das “PEN-Zentrum Deutschland” in Person seiner Präsidentin Regula Venske mit einem offenen Brief zu Wort gemeldet. Eine Eingabe, die ich sehr begrüße, weil sie zeigt, dass die Debatte um Meinungsfreiheit und allem was damit zusammenhängt, eben nicht nur ein Thema für vermeintlich Rechte ist, sondern dass auch ein renommierter Schrifstellerverband Probleme sieht.
Wir kennen und schätzen uns in Hamburg nun schon seit vielen Jahren, und ich weiß, dass Euch die Literatur und die Meinungsfreiheit am Herzen liegen. Wie viele andere aber bin ich ob der Ausladung Lisa Eckharts bestürzt. Das kann und darf nicht die Ultima Ratio in dieser Angelegenheit sein! Ob die Gewalt von rechten oder linken Extremisten, von religiösen Eiferern oder Psychopathen angedroht wird: Wir dürfen uns ihr nicht in vorauseilendem Gehorsam beugen.
Wie sich herausstellte, gab es keine direkten Drohungen. Das ist aber nicht relevant, denn es gab “besorgte Warnungen aus der Nachbarschaft”. Wer sich ein wenig mit Methoden der Mafia und subtiler Bedrohung auskennt, weiss, dass das - Zusammenhang und Gegend einbeziehend - völlig ausreicht. Eine Lesung mit Harald Martenstein war wegen angeblicher Frauenfeindlichkeit in der Vergangenheit gestört worden. Beim Rückzug drehten die Störer das Ventil einer Gasflasche auf, was zum Glück rechtzeitig bemerkt wurde.
Die Beschwichtigung, es handle sich hier nicht um Zensur, Frau Eckhart könne ja an anderen Veranstaltungsorten oder auch im Fernsehen auftreten, greift – pardon, lieber Niko – zu kurz.
Es gibt vielfältige Formen von Zensur, klassisch durch staatliche Obrigkeit, moderner (aber vielleicht nicht einmal das) durch organisierte Kriminalität und/oder politischen Terror, verschärft in beiden Fällen durch die Duldung und Straflosigkeit seitens eines handlungsunfähigen Staates. Und, noch moderner, durch ‚Volksabstimmung‘ im Internet.
Wer von den acht Nominierten am Ende mit einem Preis ausgezeichnet wird, entscheidet die Jury, nach Diskussion, so hoffe ich, und nicht im Faustkampf. Und auch das Publikum muss sich mit Argumenten, d.h. mit Worten auseinandersetzen. Gewaltandrohungen zählen nicht dazu. Im Übrigen sind für den Straftatbestand der Volksverhetzung, die manche hier vermuten, unsere Justiz und für jugendgefährdende Medien die Bundesprüfstelle zuständig. Traurig genug, dass an den Rändern unserer Gesellschaft kein Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat besteht. Wir aber sollten ihn verteidigen.
Offener Brief von PEN-Präsidentin Regula Venske an das Team des HarbourFront Literaturfestivals
Ich finde Lisa Eckhart gar nicht besonders gut, aber die Wucht, mit der inzwischen Künstler angegriffen werden, die sich dem hierzulande üblichen zielgruppengerechten Konsenskabarett entziehen und es wagen, in alle Richtungen zu schießen, bereitet mir Sorge. Darüber hat Philipp Hübl bei “Deutschlandradio Kultur” einen empfehlenswerten Kommentar abgegeben.
Satire muss auch nicht nur die „Mächtigen“ entzaubern, sondern ebenso unsere eigenen Ideologien und unseren Gruppenzwang entlarven. Die Rechten sehnen sich nach Anführern, die Linken nach Heiligen, wie Studien aus der Moralpsychologie zeigen. Beides kann gefährlich sein. Und wir alle neigen zu Selbsttäuschung und zu Stammesdenken. Wir sehen das Foul beim Gegner, aber nicht bei der eigenen Mannschaft. Uns fallen die Widersprüche der anderen auf, nicht aber die eigenen, etwa wenn wir uns über SUVs echauffieren, aber in das Flugzeug nach Thailand steigen.
Der Identitätsschutz trübt sogar unsere Einschätzung der Fakten. So wie Rechtspopulisten weltweit den menschengemachten Klimawandel leugnen, weil das Teil ihrer moralischen Identität ist, wollen Progressive oft nicht wahrhaben, dass Mietpreisbindung die Wohnungsknappheit vergrößert oder dass Fremdenfeindlichkeit in Deutschland in den letzten 20 Jahren deutlich zurückgegangen ist, wie die aktuelle Mitte-Studie und andere Untersuchungen zeigen.
Daher brauchen wir auch eine gesellschaftliche Fehlerkontrolle. Satire ist eine Art „Peer Review“ für unsere Moral. Und damit eine Form von Respekt, die allen Menschen Autonomie und kritisches Denken zutraut. Sie gibt uns die Chance, unser Weltbild zu überdenken. Wie die Wissenschaft.
„Satire ist eine Art Peer Review für unsere Moral“ - Deutschlandfunk Kultur
In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Josef Joffe in der “Zeit”. In seinem Artikel setzt er sich anhand des in Ungnade gefallenen, weil angeblich rassistischen, Films “Kindergarten Cop” mit den aktuellen Vorfällen auseinander.
Beispiele sind kein Beweis, aber sie mehren sich; das Netz der Schuldhaftigkeit wächst und schnürt das geheiligte Prinzip des Liberalen ein – die freie Rede. Hören wir einem Großen, John Stuart Mill, zu: "Jeder, der frei und vollständig sagt, was er denkt, leistet dem Ganzen einen Dienst. Wir sollten ihm dafür danken, dass er schonungslos unsere liebsten Meinungen angreift." Aber bitte regelhaft und respektvoll. Denunziation gehört nicht dazu. Die legt nicht den Irrtum frei, sondern macht Menschen zu Cancelling-Kandidaten. Verstehen und Verständigung sind ein Paar.
Empörungsbereite kennen keinen Spaß - Die Zeit
Anfang der Woche wurde vermeldet, dass Nikolaus Blome in Zukunft das Ressort Politik und Gesellschaft in der Zentralredaktion der Mediengruppe RTL Deutschland leiten wird. Damit einher geht, wie von mir bereits erwartet, die Einstellung der Sendung “Augstein und Blome”, die seit ihrer ersten Folge im Januar 2011 zu meinen Lieblingssendungen gehörte. Mehr noch: Sie gehörte zu den wenigen politischen Sendungen, die ich mir überhaupt noch ansah. Als würdiger Nachfolger von Kienzle und Hauser gefiel mir wöchentliche Schlagabtausch des linken Jakob Augstein und des konservativen Nikolaus Blome vor allem wegen seines zugespitzen, aber trotzdem respektvollen Wesens sehr gut. Den beiden ging es offenbar ähnlich, denn sie schrieben sogar Bücher zusammen, gingen auf Lesereisen und wollten einfach nicht aufhören. Nun haben sie es doch getan und werden aus der Sommerpause nicht zurückkehren. Wirklich schade. Der Beginn der Sendung fiel für mich in eine Zeit, in der ich begann, meine Ansichten zu politischen und gesellschaftlichen Themen verstärkt offen zu äussern. Das ist, wenn diese in Teilen von denen der eigenen Bezugsgruppe abweichen, ein Erlebnis der besonderen Art. Aus Nostalgiegründen hier die früheste Folge, die ich bei Youtube gefunden habe.
Kultur
Das Folgende passt sowohl in die vorige, als auch in diese Rubrik: Die Geschichte "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" wird 60 Jahre alt. Als Kind habe ich die Sendung gern im Fernsehen angeschaut und war sehr verwundert über die aktuellen Behauptungen, sie sei rassistisch. Offenbar nicht nur ich, denn auch die Spiegel-Autorin Katja Iken kann das nicht verstehen. Sie argumentiert klug gegen diesen Unsinn.
Eine Kitaleiterin aus Hamburg brandmarkte die Jim-Knopf-Bücher kürzlich als rassistisch: "Jim Knopf wird leider noch oft gelesen", warnte sie in der "Zeit". Er reproduziere "viele Klischees, zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen". Auch Pippi Langstrumpf will die Pädagogin lieber im Altpapier als in Kitas sehen.
Als ich das las, wurde mir angst und bange. Pippi und Du, die Helden meiner Grundschulzeit, auf dem Schrottplatz der Geschichte zu entsorgende Bösewichter? Ich fragte mich, was vom Kinderbücher-Kanon überhaupt noch genehm sei. Der Räuber Hotzenplotz? Ein krimineller Raucher und Alkoholiker. Karlsson vom Dach? Egoistisch, verfressen, verlogen, das falsche Vorbild. Das Sams? Eine Persiflage auf Kleinwüchsige. Die kleine Hexe? Zu vorwitzig. Der Pumuckl? Zu chaotisch.
Conni! Die würde übrig bleiben, schoss mir durch den Kopf. Die vorbildliche Conni mit der Schleife im Haar. Conni feiert Geburtstag, Conni backt Pizza, Conni macht das Seepferdchen. Null Prozent Fantasie, hundert Prozent Langeweile. Kinderliteratur, bemängelte Christine Nöstlinger einmal zu Recht, sei "für viele nicht mehr als eine Pädagogikpille, eingewickelt in Geschichterlpapier".
Lebertran statt Krummeluspillen, Dinkelcracker statt Schokopudding: Arme Kinder der Zukunft, dachte ich. Und war froh, dass ich meinen dreien noch Jim Knopf vorgelesen habe.
Happy birthday, Hoheit! - Der Spiegel
Coverversion der Woche: Blondie - Hanging On The Telephone (1978)
Das Original ist von der Band The Nerves aus dem Jahr 1976, ist roher und ungeschliffener, was aber einen eigenen Charme hat. Wie so oft gefallen mir beide Versionen.