Prolog
Es ist kaum zu glauben, aber dies ist die hundertste Ausgabe des “Marcellus Maximus meint.”-Newsletters. Als ich vor zwei Jahren aus Ärger über die unterirdische Diskussionskultur bei Twitter (aber auch die Grenzen des Mediums) die erste Ausgabe tippte, hätte ich niemals gedacht, was daraus einmal werden würde. Der Newsletter erfreut sich nicht nur einer nach wie vor steigenden Zahl an Lesern, er hat auch in mehrfacher Hinsicht Türen geöffnet. Dafür bin ich dankbar.
Meine Motivation ist nach wie vor die Sorge um die Entwicklung der Gesellschaft. Dabei treibt mich nicht die Ablehnung von Veränderung, sondern der Zweifel an, ob bestimmte Veränderungen wirklich zu dem führen, was man sich als aufgeklärter Mensch wünscht: Ein friedliches Zusammenleben aller gesellschaftlicher Gruppen. Erscheinungen, die hier zum Beispiel unter den Begriffen “Identitätspolitik” und “Cancel Culture” Thema sind oder auch völlig entgleiste Debatten über Feminismus, Rassismus, Klimawandel und in jüngster Vergangenheit Transsexualität, sind diesem toleranten Miteinander jedenfalls nicht zuträglich.
Verstärkt wird diese Aufsplitterung in immer mehr Grüppchen, die (teils in Unkenntnis, teils in offener Ablehnung demokratischer Grundregeln) mit immer radikaleren Methoden versuchen, ihre Ansichten der Mehrheit der Bevölkerung aufzuoktroyieren, durch Journalisten und Wissenschaftler, welche die Grundsätze ihrer jeweiligen Profession ihren persönlichen Ansichten unterordnen und mehr oder weniger offen als Aktivisten agieren.
Das eigentliche Problem sind allerdings nicht hauptsächlich die erwähnten Gruppen, sondern Institutionen, die vor ihnen einknicken. Man sieht an einigen Beispielen, die auch alle hier Thema waren, dass es gar nicht viel kostet, diese Stürme im Wasserglas zu beenden. Als Autoren des Rowohltverlags mit einem offenen Brief an eben diesen die Veröffentlichung der Memoiren von Woody Allen verhindern wollten, wurden sie durch Verlagschef Florian Illies klar zurückgewiesen. Als Netflix-Mitarbeiter sich über Formate von Dave Chappelle und Ricky Gervais beklagten, war die Antwort deutlich: Wem Meinungsvielfalt nicht passt, der habe eventuell den falschen Job.
Widerspruch ist also ein entscheidendes Element. Ich widerspreche (nicht nur) in Form dieses Newsletters und freue mich über jeden neuen Leser.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Kommunikation, Heuchelei und den Rechtsstaat.
Politik und Gesellschaft
Zu COVID-19 habe ich mich hier bisher kaum geäußert. Das hatte mehrere Gründe. Erstens war mir die Debatte auf allen Seiten zu hysterisch und zweitens gibt es Menschen, die sich mit dem Thema deutlich besser auskennen. Ich selbst bin voll geimpft, trage bis heute in bestimmten Situationen eine Maske und habe das Virus in seinen unterschiedlichen Varianten immer sehr ernst genommen. Ja, ich fand einige Aspekte der Coronapolitik fragwürdig, habe aber vor dem Hintergrund der Tatsache, dass man es mit einer völlig neuen Erscheinung zu tun hatte, ein gewisses Verständnis aufgebracht.
Nun liegt der Entwurf für ein neues Infektionsschutzgesetz vor und ich bin etwas ratlos. Aus diesem geht nämlich hervor, dass Deutschland es offensichtlich besser weiß, als alle Nachbarländer. Leider wird nicht erklärt, auf welchen Erkenntnissen diese Annahme beruht. Stattdessen werden zweieinhalb Jahre nach Pandemiebeginn und bei weitgehend durchgeimpfter Bevölkerung völlig losgelöst von der Existenz neuer Varianten, Hospitalisierungsrate und allgemeiner Krankheitslast, ab Oktober erneut Grundrechtseinschränkungen ermöglicht.
Sonderwege können wir gut und schlagen/schlugen sie bereits bei Atomkraft, Klimawandelbekämpfung, Migrationskrise und mehreren anderen Themen ein. Ständig belehren wir zudem das Ausland, was dort nicht selten Irritation auslöst.
Das Hinterfragen und Kritisieren von Regierungshandeln ist keine Querdenkerei oder Schwurbelei sondern essenziell in einer Demokratie. Indem man jeden, der evidenzbasierte Politik und klare Kommunikation erwartet, als Querdenker diffamiert, überlässt man das Thema eben diesen Querdenkern und Coronaleugnern, von denen ich mich klar distanziere. Die Entwicklung des Begriffs “Querdenker” von einem ursprünglich positiv besetzten Begriff hin zu einem gesellschaftlichen Todesurteil, wäre einen eigenen Text wert.
Dazu passt ein Artikel von Morten Freidel über die eigenartige Energiepolitik Deutschlands und die Haltung der Deutschen zu bestimmten Energiequellen.
Nach Fukushima interessierte sich dann kaum jemand mehr dafür, wo an kalten, windstillen Tagen der Strom herkommen soll, wenn alle Atom- und Kohlekraftwerke abgeschaltet sind. Stattdessen redeten die Deutschen über Kernschmelze und atomar verseuchte Landstriche. Dabei erklärten Fachleute schon damals, dass ein Unfall wie der in Fukushima in deutschen Atomkraftwerken ausgeschlossen ist. Ihr Kühlwassersystem ist besser geschützt als das japanische, es arbeitet selbst bei Überschwemmungen weiter. Doch das ging in der Aufregung unter, und die damalige Regierung richtete sich lieber nach dem Willen der Mehrheit: raus aus der Kernenergie, so schnell wie möglich.Ähnlich war es beim Fracking. Viele sorgten sich wegen brennenden Wassers in Amerika und angeblich sinistrer Interessen von Shell und Co. Es drang kaum durch, dass Gas in Russland auch nicht gerade nach den allerfeinsten Umweltstandards gefördert wird. Erst recht nicht, dass man sich vom Kreml abhängig machte. Mahner gab es genug, besonders in Osteuropa. Doch die meisten Bürger wollten das nicht hören, und die Politik folgte ihnen auch hier: Billiges Gas sollte her, der Rest war zweitrangig. Es spielte dann auch keine Rolle mehr, dass es letztlich ziemlich teuer war.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat all das geändert. Er war ein Weckruf, auch für die Energiepolitik. Oder vielmehr: Er hätte einer sein müssen. Denn die Bundesregierung handelt eher so, als würde sie sich nach dem ersten Weckerklingeln lieber noch mal auf die andere Seite drehen. Sie tut so, als wäre Fracking riskant, dabei sagen Umweltschützer das Gegenteil. Sie erweckt den Eindruck, es sei gefährlich, Atomkraftwerke weiterlaufen zu lassen, dabei bestreiten Fachleute auch das. Und wenn all das nicht hilft, um die Diskussion abzuwürgen, kommt stets das Argument: dauert alles zu lange. Fracken, Brennstäbe besorgen, Personal auftreiben. Hilft also nicht für den kommenden Winter.
Als würde es nur um den gehen. Es geht um Jahre, es geht darum, Deutschlands Energieversorgung langfristig unabhängiger zu machen. Es geht auch nicht allein um Russland. Das Land hat den Deutschen nur besonders drastisch vor Augen geführt, wie problematisch es ist, an der Nadel eines einzigen Lieferanten zu hängen. Das kann jederzeit wieder passieren.
Man muss nicht mal wild spekulieren. Gerade erst war Bundeskanzler Olaf Scholz in Norwegen, weil er Gas braucht. Norwegische Zeitungen fragten derweil, warum man für Deutschlands gescheiterte Energiepolitik in die Bresche springen solle. Auch Frankreich hat den Deutschen höflich klargemacht, dass man sie gerne beim Gas unterstütze, dafür aber mit deutschem Strom im Winter rechne. Französische Politiker klangen einigermaßen fassungslos, dass hierzulande überhaupt noch über das Für und Wider der Atomkraft gestritten wird.
Vom Widerwillen der Osteuropäer ganz zu schweigen. Sie werden sich zweimal überlegen, ob sie ausgerechnet dem Land unter die Arme greifen wollen, das sie jahrelang mit ihren Ängsten vor Russland alleingelassen hat und dessen Politiker roboterhaft wiederholten, Nord Stream 2 habe mit Politik nichts zu tun. Ihre Erwartung gegenüber Deutschland ist klar: Ein Land, das jahrelang nur an sich selbst gedacht hat, muss sich auch selbst versorgen können.
Deutschlands Energiepolitik ist heuchlerisch - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht hat inzwischen einen ersten Erfolg vor Gericht erzielt. Den Fall um ihren abgesagten Vortrag an der Humboldt-Universität und die Diffamierungen radikaler Extremisten hatte ich hier beleuchtet.
Der Biologin Marie-Luise Vollbrecht und ihrem Anwalt Ralf Höcker ist es nun gelungen, in der Debattenschlacht um Transidentität und Geschlechter einen Sieg in Form einer gerichtlichen Unterlassungsverfügung einzufahren. Die Behauptung, Vollbrecht leugne oder relativiere Verbrechen des Nationalsozialismus, darf nach einem Beschluss des Landgerichts Köln von Montag nicht mehr wiederholt werden.
Zur Hauptgegenspielerin von Vollbrecht entwickelte sich Dana Mahr, eine medizinsoziologisch forschende Person der Uni Genf. Auch Mahr begann, Spenden zu sammeln, um sich Rechtsbeistand zu holen. Auf Twitter wird ihr zugeschrieben, den Hashtag #MarieLeugnetNSVerbrechen geschaffen zu haben. Dieser wurde von vielen weiteren Personen verwendet, die nun alle potenziell Unterlassungsansprüchen ausgesetzt sind. Laut dem aktuellen Gerichtsbeschluss verletzt der Hashtag Vollbrecht in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.
Zunächst habe man die Transverbände angreifen wollen. Von diesen hatte wiederum der «Bundesverband Trans*» kürzlich angekündigt, gegen Vollbrecht zu klagen, um mit einer sogenannten negativen Feststellungsklage vor dem Landgericht Berlin feststellen zu lassen, dass Vollbrecht keinen Unterlassungsanspruch habe, weil ihr Persönlichkeitsrecht durch den «Bundesverband Trans* » gar nicht verletzt worden sei. Bisher sei jedoch nichts eingegangen, sagt Höcker. Anders als Vollbrecht, die das Geld für ihren Rechtsbeistand privat auftreiben muss, wird der «Bundesverband Trans*» überwiegend vom Bundesfamilienministerium, also aus Steuermitteln finanziert.
Mit dem Vorwurf der Holocaust-Relativierung kann man in Deutschland jeden Debattenteilnehmer in die Todeszone des Diskurses schieben und mundtot machen. Doch Vollbrecht spielte nicht mit. Sie stellte klar, was mit ihrem Tweet gemeint war, und wehrte sich.
Sie leugne die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen, auch an Transsexuellen, gerade nicht und verabscheue sie in ihrer Gänze zutiefst, erklärte sie im Antrag bei Gericht. Sie habe lediglich darauf hingewiesen, dass es «ganz erhebliche, unter seriösen Historikern nicht bestrittene Unterschiede zwischen der Shoah, also dem industrialisierten Massenmord an den europäischen Juden allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, und dem Schicksal aller anderen Opfergruppen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gab».
Biologin Vollbrecht siegt vor Gericht: #MarieWehrtSich - Neue Zürcher Zeitung
Karin Prien hat einen feurigen Gastbeitrag im “Spiegel” darüber geschrieben, wie ihrer Meinung nach wertgeleitete Außenpolitik aussieht. Besonders im Umgang mit den Palästinensern und dem Thema Antisemitismus. Auch wenn man natürlich anmerken muss, dass die CDU sechzehn Jahre Zeit hatte, sich dementsprechend zu verhalten.
Das Existenzrecht Israels ist deutsche Staatsräson. Der Holocaust als singulärer menschlicher Abgrund ist eine besondere Verpflichtung für die Bundesrepublik Deutschland. Diese besondere Verantwortung ist aktueller denn je. Sie bedeutet für uns im Jahr 2022, dass wir mit ein paar alten Lebenslügen insbesondere der Linken im Land aufräumen und unser Verhältnis zu Israel und den Palästinensern neu überdenken müssen.
Schlechte Kommunikation scheint hier eine Konstante des Kanzlers zu sein. Olaf Scholz hat in der vergangenen Woche in einem Moment außergewöhnlichen politischen Versagens zugelassen, dass Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im Kanzleramt unwidersprochen dem Staat Israel »50 Holocauste« vorwerfen konnte. Dies war Abbas‘ Antwort auf die Frage, ob die Palästinenser sich nicht endlich für das terroristische Attentat in München 1972 entschuldigen müssten.
Die Äußerungen von Abbas sind falsch, abstoßend und unerträglich. Im Kanzleramt hätte man solche Ausfälle von Abbas vorhersehen müssen und darauf vorbereitet sein, auf einen Eklat auch entsprechend zu reagieren. Ein Bundeskanzler, der für sich in Anspruch nimmt, führen zu wollen, darf so etwas nicht zulassen.
Klar ist auch, dass die aktuelle Situation der Palästinenser kein Weg in eine friedliche Zukunft ist. Wie sonst ist es zu erklären, dass die Palästinensische Autonomiebehörde Hilfsgelder für Familien von Selbstmordattentätern zahlt? Kein Kind in der Westbank oder in Gaza wird mit Hass auf Juden und Israelis geboren. Aber sie werden von klein auf indoktriniert und zu fundamentalistischen Radikalen erzogen. Statt sich um gute Ausbildung, medizinische Versorgung und gute Infrastruktur zu kümmern, befördern Abbas und seine Leute Hass und Hetze. In den Schulbüchern findet sich übelster Antisemitismus.
Erstens muss endlich Schluss sein mit der diplomatischen Zurückhaltung . Bitte keine Sonntagsreden mehr, in denen die besondere Verantwortung Deutschlands für den Staat Israel hervorgehoben wird, bevor im gleichen Atemzug absurde Solidaritätsadressen mit den Anliegen von Fatah und manchmal sogar Hamas folgen. Gerade bei vielen deutschen Linken gibt es eine abstoßende und unerklärliche Liebe zur PLO, vielleicht aus alter sozialistischer Verbundenheit und dem Märchen vom Freiheitskampf der Palästinenser. Da gibt es Verständnis für Attentäter und ihre Familien, da wird der arabische Terror, unter dem Israel seit seiner Staatsgründung zu leiden hat, mit Kapitalismuskritik vermischt. Dies gilt auch für die Berichterstattung. Gerade in deutschen Medien ist immer wieder eine Täter-Opfer-Umkehr zu lesen, wenn ein Selbstmordattentäter an einer Bushaltestelle in Jerusalem erschossen wurde, bevor er eine andere Person töten konnte.
Der allzu zögerliche Umgang mit den antisemitischen Vorfällen auf der Documenta ist ein weiteres Beispiel für mangelnde Handlungsbereitschaft. Auch hier wären deutlichere Worte aus der Bundesregierung und weniger zaghaftes Reagieren der Verantwortlichen nötig gewesen, um Deutschlands Haltung zum Antisemitismus unzweifelhaft zu dokumentieren.
Zweitens muss die Bundesregierung den inakzeptablen Auftritt von Abbas im Kanzleramt zum Anlass nehmen, die verschiedenen Zahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde zu überprüfen und gegebenenfalls auszusetzen. Seit Jahren schon wissen die Verantwortlichen im Auswärtigen Amt, was in den Schulbüchern der Palästinensischen Autonomiebehörde steht. Die finanziellen Zusagen an die Palästinenser müssen an schärfere Kontrollen geknüpft werden. Deutschland muss auch international mehr Partei ergreifen.
Und drittens: unser Umgang mit den Angehörigen der israelischen Terroropfer von den Olympischen Spielen 1972 . Dass es jetzt wieder so lange gedauert hat, eine halbwegs würdige Lösung zu finden, dass es so aussah, als würden die Familien der Opfer nicht einmal zur Gedenkfeier nach München kommen, hat die aktuelle Bundesregierung zu verantworten.
Kein Geld mehr für Hass und Terror! - Spiegel
Die Professorin Susanne Schröter hat einen lesenswerten Artikel über die Debatte um Rassismus, die Ablehnung des Westens und das oben bereits erwähnte Einknicken von Institutionen vor diesen Phänomenen geschrieben.
Der Ravensburger Verlag nahm vor wenigen Tagen das Jugendbuch "Der junge Häuptling Winnetou" aus dem Sortiment, das anlässlich des Kinostarts eines gleichnamigen Films publiziert wurde. Als Grund wurden Vorwürfe genannt, die von sogenannten Betroffenenvereinigungen im Internet erhoben wurden. Aus ihren Reihen wurde reklamiert, dass die Darstellung der indigenen Bevölkerung der USA nicht der Realität entspräche. Die Darstellung verletze deshalb die Gefühle der Betroffenen. Zudem handele es sich um "kulturelle Aneignung", da nicht die Indigenen, sondern Weiße das Buch verfasst hätten. Nun könnte man entgegnen, dass kulturelle Aneignung eine wichtige Kulturtechnik sei, da in der Menschheitsgeschichte nicht jeder Stamm das Rad beständig neu erfunden, sondern stets auf die brauchbaren Erfindungen der Nachbarstämme zurückgegriffen habe. Man könnte auch darauf verweisen, dass die Faszination für fremde Kulturen ein Zeichen der Wertschätzung sei und im Kulturbetrieb als normal gilt. Wenn japanische Musikerinnen Vivaldi in einer deutschen Konzerthalle spielen und dabei westliche Mode tragen, hält niemand dies für anstößig. Und letztendlich hätte man den Aktivisten entgegenhalten müssen, dass ein Roman keine wissenschaftliche Abhandlung darstellt. Nichts von alledem taten die Mitarbeiter des Verlags. Sie bekundeten vielmehr umgehend tiefe Reue, entschuldigten sich wortreich und gelobten fürderhin Besserung.
Man könnte dieses Einknicken und den vorauseilenden Gehorsam gegenüber einer sich selbst legitimierenden Aktivistengruppe als unterhaltsame Posse abtun, wenn sie singulär wäre. Das ist allerdings nicht der Fall. Die Ereignisse häufen sich. In Museen wurden Bilder abgehängt, weil Lobbygruppenvertreter sie als sexistisch ansahen, die "English Touring Opera" entließ weiße Musiker, weil sie aufgrund ihrer Hautfarbe nicht den geforderten Vielfaltskriterien entsprachen, und die Leitung der Humboldt-Universität sagte kürzlich den Vortrag einer Doktorandin ab, weil er das Thema der biologischen Zweigeschlechtlichkeit behandeln sollte. Aktivisten, die biologische Feststellungen dieser Art als "transphob" ablehnten, hatten zuvor ein Redeverbot gefordert.
Bei den Aktivisten, die die westliche Welt nach ihren kruden Vorstellungen umzugestalten gedenken, handelt sich um akademisch geschulte, politisch versierte und bestens vernetzte Personen, die sich selbst als unterprivilegierte Opfer inszenieren oder vorgeben, im Namen einer selbst ernannten Opfergruppe zu sprechen. Islamisten gehören dazu, die Kritik an der eigenen extremistischen Gesinnung als "Islamophobie" oder "antimuslimischen Rassismus" brandmarken, sowie Personen, die sich als transsexuell oder "nichtbinär" bezeichnen und Geschlecht nur noch als Ergebnis eines Sprechaktes verstanden wissen wollen.
Die Speerspitze des identitätspolitischen Aktivismus bilden sogenannte "People of Color", die allen Ernstes behaupten, Rassismus sei intrinsisch an eine helle Hautfarbe gebunden. Einige von ihnen fordern, keine Bücher von weißen Schriftstellern zu publizieren und Weiße grundsätzlich von Führungspositionen auszuschließen. Ein neuer Rassismus formiert sich, und er richtet sich – historisch ein absolutes Novum – gegen die eigene Bevölkerung. Weiß sein wird in der weißen Welt zum Stigma. Da die Anerkennung eines Opferstatus in der Regel mit finanziellen Zuwendungen belohnt wird und ein lukratives Geschäftsmodell darstellt, lässt sich gegenwärtig eine Multiplizierung von selbst ernannten Opfergruppen beobachten.
Die Konsequenzen sind alles andere als trivial. Die Idee der Gleichheit aller Bürger weicht einem identitätspolitischen Furor, der Menschen nach äußerlichen Merkmalen, sexuellen Gewohnheiten und, sofern es Muslime betrifft, auch nach Religionszugehörigkeit gliedert. Mit verordneten Sprachregelungen möchte man die Bevölkerung zur Anerkennung der neu geschaffenen Realitäten nötigen. Verboten werden soll alles, was Lobbygruppenvertreter als verletzend empfinden könnten, und so werden Meinungs-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt.
Dass es so weit kommen konnte, dass sich gebildete Menschen freiwillig irrationalen und menschenverachtenden Ideologien unterwerfen und dabei in Kauf nehmen, die eigene Gesellschaft zu zerstören, ist erklärungsbedürftig. Von Aktivisten und ihren Unterstützern wird verbreitet, jede Art sozialen und politischen Elends gehe auf den europäischen Kolonialismus zurück. Der Westen stünde in einer ungebrochenen Tradition zum Rassismus des 18. und 19. Jahrhunderts, beute die Welt aus, sei verantwortlich für die Kriege, die Zerstörung der Umwelt, die Klimakatastrophe und für die internationalen Fluchtbewegungen. Mit Fakten wird dieses simplifizierende Narrativ gewöhnlich nicht untermauert, doch sie zeigt bis hinein in konservative Kreise Wirkung. Gerade Menschen, die sich dafür engagieren, dass die Welt ein besserer Ort wird, fühlen sich von den Anklagen getroffen und reagieren mit Schuldgefühlen. Darauf setzen die Aktivisten. Weiße sollen ihre Schuld bekennen, Abbitte leisten und Platz für diejenigen machen, die sich als Opfer generieren. Der afroamerikanische Linguist John McWhorter spricht zu Recht von einer neuen säkularen Religion, die viele Attribute des evangelikalen Christentums übernommen habe. Es sei vor allem der Schuldkult, der bis zur Bereitschaft der sozialen Selbstauslöschung gehe, der dafür verantwortlich sei, dass den immer maßloseren Forderungen selbsternannter Opfergruppen nachgegeben werde.
Die Schuld des weißen Mannes - Rotary Magazin
Zum Ende der Rubrik wieder Lesens- und Sehenswertes. Für mehr Meinungsvielfalt und bessere Debattenkultur spricht sich René Pfister aus.
Diversität von links bis konservativ abzubilden, wünscht sich René Pfister, „Spiegel“-Korrespondent in den USA, von den Medien. Das aufgeklärte Lager schade sich mit einem Vokabular der Empörung selbst, anstatt politische Anliegen offen auszufechten.
„Wir müssen den offenen Diskurs verteidigen“ - Deutschlandfunk Kultur
Ein Interview mit Harald Schmidt, dem wie immer alles erfrischend egal ist und der einmal mehr zeigt, wie sehr jemand wie er in den deutschen Medien fehlt.
Als Late-Night-Talker erlangte er Kultstatus: Seitdem Harald Schmidt nicht mehr so oft im Fernsehen zu sehen ist, tritt er bevorzugt im Theater auf. Ab Samstag spielt er an der Wiener Volksoper Ludwig XV. in der Operette "Die Dubarry". STANDARD-Kulturchef Stephan Hilpold traf den 65-Jährigen auf der Probebühne der Volksoper zu einem Gespräch über Winnetou, politisch inkorrekte Witze und die Frage, wie viel der Entertainer jetzt wirklich Rente kriegt.
Thea Dorn spricht mit Stephan Karkowsky über Debattenkultur, die immer mehr Intellektuelle aller Lager bedroht sehen.
Erstmals bespricht das „Literarische Quartett“ im ZDF Salman Rushdies „Satanische Verse“. Gastgeberin Thea Dorn sagt, das 1988 erschienene Buch spiele mit Dogmen und passe zu heutigen Identitätsdebatten. Von diesen zeigt sie sich alarmiert.
Warnungen vor Wokeness - Deutschlandfunk Kultur
Gregor Gysi hatte im Rahmen seiner Veranstaltung “Missverstehen Sie mich richtig.” den genialen Helge Schneider zu Gast.
Prof. Dr. Dieter Gosewinkel hält am Beispiel der RAF im Rahmen der Ringvorlesung “Geschichte als Waffe”, einen phantastischen Vortrag, der auch in anderen Zusammenhängen hochaktuell ist.
Am 18. Oktober 1977, wurden drei führende Mitglieder der Roten Armee Fraktion, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, tot in ihren Zellen der Justizvollzugsanstalt Stammheim aufgefunden. Eine vierte inhaftierte Terroristin, Irmgard Möller, überlebte, schwer verletzt, die „Todesnacht von Stammheim.“ War dies der endgültige Beweis für die staatliche Misshandlung, schließlich gar Ermordung der inhaftierten Terroristen durch den Staat? Seit Jahren kursierte in Unterstützerkreisen der RAF und erheblichen Teilen einer kritischen Öffentlichkeit der Verdacht, im Stuttgarter Gefängnis werde "Staatsfolter" verübt, die nunmehr im "Staatsmord" kulminiert sei. Diese Erzählung vom staatlichen Terror gegen „politische Gefangene“ wurde in den Augen der Kritiker zur historischen Wahrheit und diese Wahrheit zur Waffe. Bereits vor der Stammheimer Todesnacht hatte der Vorwurf der „Isolationsfolter“ der RAF viele Sympathisanten zugeführt, danach wurde das tief erschütterte Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik zu einem überaus wirksamen Instrument der Rekrutierung und Mobilisierung weiterer Generationen im terroristischen Kampf. Der Vortrag geht der Entstehung des Verdachts und des Mythos der „Staatsfolter“ nach und rekonstruiert seine Verwendung als Waffe im politischen Meinungskampf, die über Jahrzehnte hinweg eine Spur der Gewalt durch die Geschichte der Bundesrepublik zog.
Kultur
Coverversion der Woche: Alice Russell - Brown Sugar
Diese Woche vermeldete der “Stern”, dass die Ärzte ihr Lied “Elke”, das von einer übergewichtigen Frau handelt, nicht mehr spielen. Die Band, die aus der Punkszene entstand, sich von dieser aber immer abgrenzte, war bis zu ihrer Trennung grandios. Unter anderem deshalb, weil sie die Provokation der spießigen Mehrheitsgesellschaft, was immer ein entscheidendes Element von Punk war, verinnerlicht hatte. Ja, vieles war geschmacklos, vieles pubertär, aber genau das machte den Reiz aus. Humor fehlte aber auch damals schon vielen, weshalb nahezu alle ihrer Veröffentlichungen auf den Index kamen. Nun spielt die Gruppe das Stück nicht mehr und zensiert sich damit selbst. Damit ist der negative Höhepunkt ihrer Karriere seit der Wiedervereinigung, die ich sowohl musikalisch als auch textlich immer als gähnend langweilig bis ärgerlich empfunden habe, erreicht. Beim Konzert hatten sich Fans das Lied wohl gewünscht und bekamen von Farin Urlaub eine negative Antwort.
Demnach verwies der Sänger darauf, dass "Elke" "fatshaming und misogyn" sei: "Sowas spielen wir nicht mehr, das ist letztes Jahrtausend."
Bei der Argumentation, die meiner Meinung nach unsinnig ist, weil der Protagonist des Liedes die Frau nahezu anbetet, bleibt nach heutigen Standards vom Frühwerk eigentlich nichts mehr übrig. Humor ist nur noch in engen Grenzen mit dem Zeitgeist vereinbar. Das passt dann wieder zu den 80er Jahren, als die damalige “Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften” Ärzteplatten indizierte. Der Unterschied: Damals kamen die Zensoren von Rechts, heute von Links.
Die Rolling Stones haben aus ähnlichen Gründen vor einigen Jahren “Brown Sugar”, einen ihrer besten Songs, aus dem Programm genommen. Weil ich das nicht nur für Quatsch, sondern auch für gefährlich halte und es sich dabei um eines meiner Lieblingsstücke handelt, habe ich es heute als Coverversion ausgewählt.
Es wurde hauptsächlich von Mick Jagger komponiert und ist der Eröffnungstrack des Albums Sticky Fingers von 1971. Es erreichte in den Vereinigten Staaten und in die Nummer Eins der Hitparade. In Großbritannien und Irland landete es auf Platz zwei.
Obwohl "Brown Sugar" Jagger-Richards zugeschrieben wird, war es in erster Linie das Werk von Jagger, der es während der Dreharbeiten zu Ned Kelly im Jahr 1969 schrieb. Laut Marsha Hunt, Jaggers Freundin und Mutter seines ersten Kindes Karis, schrieb er das Lied für sie. Die ehemalige Ikette Claudia Lennear bestreitet diese Behauptung und sagt, dass es über sie geschrieben wurde. Im Jahr 2014 sagte Lennear der Times, dass sie das Thema des Liedes sei, weil sie mit Jagger zusammen war, als es geschrieben wurde. Bill Wyman erklärte in seinem Buch “Rolling with the Stones”, dass der Text teilweise von Lennear inspiriert war.
"Brown Sugar" wurde vom 2. bis 4. Dezember 1969 über einen Zeitraum von drei Tagen im Muscle Shoals Sound Studio in Sheffield, Alabama, aufgenommen. Das Lied wurde erst über ein Jahr später aufgrund von Rechtsstreitigkeiten mit dem ehemaligen Label der Band veröffentlicht.
Die Version von Alice Russell befand sich 2011 auf dem Sampler “Sticky Soul Fingers: A Rolling Stones Tribute”.
Epilog
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Danke für den Artikel von Rotary, den werde ich direkt mal lesen. Zu dem Thema habe ich mir selbst auch in Form eines Kommentars viele Gedanken gemacht:
https://twoplustwo.substack.com/p/ewiger-tater-ewiges-opfer-uber-die
In der Tat ist vielen Aktivisten nicht klar, was das Konzept des zunächst einmal gut klingenden "Anti-Rassismus" im Sinne von Ibram X. Kendi eigentlich bedeutet...
Und Harald Schmidt ist für mich der letzte große deutsche Late-Night-Moderator, sucht in der aktuellen Medienlandschaft seinesgleichen.
Bei den AKW muß ich widersprechen: So sicher, wie Herr Freidel da in dem Artikel behauptet, sind die deutschen AKW nämlich nicht.
Natürlich kann bei deutschen AKW kein Tsunami kommen, die stehen ja nicht am Meer. Sie sind aber an Flüssen gebaut, und das hat seinen guten Grund: Das Wasser aus den Flüssen wird nämlich zur Kühlung benötigt. Und da die Flüsse wegen der steigenden Troclenheit immer weniger Wasser führen, wird das langsam auch für AKW zum Problem.
Dazu kommt auch noch, daß man ein AKW nicht so einfach abschalten kann, denn selbst wenn die Reaktoren abgeschaltet sind, müssen sie wegen der Nachzerfallswärme weitergekühlt werden. Ist eine Kühlung nicht möglich, dann kann es auch dann noch zu einer Kernschmelze kommen.
Zudem gibt es bei Kernkraft auch das Müllproblem. das noch immer nicht gelöst ist, und mit dem wir unseren Nachfahren ein schön strahlendes Erbe hinterlassen.
Die Kernkraft ist daher keine Lösung.