Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #87
Prolog
Mit großer Vorfreude auf geplante Aktivitäten hatte ich den Ostertagen entgegengesehen und lag dann pünktlich am Karfreitag mit Erkältung im Bett. Wenigstens war es kein COVID, trotzdem ärgerlich. Heute ist tatsächlich der erste Tag, an dem ich mich wieder einigermaßen fit fühle.
Mit Interesse habe ich zur Kenntnis genommen, dass im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine immer noch vor einem Alleingang Deutschlands gewarnt wird. Diese Haltung ist sehr selektiv, denn man scheut Alleingänge keineswegs grundsätzlich.
Xavier Naidoo hat sich in einem entrückten Video von Verschwörungstheorien und Extremismus distanziert. Leider geht er nicht ins Detail und sagt, was er genau damit meint. Das ganze wirkt, wenn man es mit der hohen Emotionalität früherer Videos vergleicht, gescriptet. Jeder hat eine zweite Chance verdient, auch Naidoo. Bei jemandem, der sich zwanzig Jahre lang in problematischer Weise geäußert und kürzlich noch mit ausgewiesenen Neonazis zusammengearbeitet hat, reicht kein dreiminütiges Video.
Der Verdacht, dass seine Stellungnahme eher etwas damit zu tun hat, dass Künstler zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder auf Tournee gehen können, ist sicher nicht unberechtigt. Er sagt:”Ich stehe für Toleranz, Vielfalt und ein friedliches Miteinander. Nationalismus, Rassismus, Homophobie und Antisemitismus sind mit meinen Werten nicht vereinbar. Und ich verurteile diese aufs Schärfste.” Es ist schwer zu glauben, dass sich ein solcher Wandel von einem auf den anderen Tag vollzieht. Man muss abwarten, was da noch kommt. Um es mit einer seiner Liedzeilen auszudrücken:”Dieser Weg (zurück) wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.”
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Nun aber los.
Heute geht es unter anderem um Rechtfertigungsversuche, Diskussionskultur und Bestätigungsfehler.
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Politik und Gesellschaft
Die Tatsache, dass Elon Musk Twitter kaufen möchte, sorgt weiterhin für Diskussionen. Besonders die Frage, wie sich dieser Schritt auf Diskussionen auswirkt, ist Auslöser für so manche Debatte. Dass die Diskussionskultur bei Twitter unterirdisch ist, äußere ich seit langer Zeit. Nicht ohne Grund nutze ich das Netzwerk kaum noch. Meiner Meinung nach ist Twitter als Debattenplattform aus vielen Gründen gescheitert. Wenn Musk übernähme, wäre das wahrscheinlich gut für die Meinungsfreiheit dort. Ein Aspekt, der viele auf die Palme bringt, die das freie Wort nur schätzen, solange es ihre Ansichten betrifft. Patrick Bernau hat sich näher mit dem Thema beschäftigt.
Die Wahrheit ist: Twitter steckt in der Krise, und das schon seit Jahren. Immer noch hat niemand einen Weg gefunden, mit diesen Kurznachrichten nennenswert Geld zu verdienen. Und jetzt sind die besten Zeiten des Netzwerks schon vorbei. Wie Facebook hat auch Twitter begonnen, den traurigen Social-Media-Blues zu spielen.
Es gibt schon Gründe für die alte Regel, dass man mit entfernten Bekannten lieber nicht über Politik sprechen sollte. Im Internet jedenfalls wiederholt sich inzwischen eine Entwicklung in trauriger Regelmäßigkeit: Wenn ein soziales Netzwerk irgendwann bekannt wird und immer mehr Nutzer anzieht, dann werden die Gespräche dort immer politischer – und dann leidet bald die Gesprächskultur.
Die Netzwerke probieren sich zu schützen, indem sie mehr und mehr Nachrichten sperren und Nutzer ganz von der Plattform verweisen. Die Diskussionskultur retten sie damit nicht. Die Debatte retten, indem man die Grenzen des Sagbaren enger zieht – so einfach ist es leider nicht.
Schwierig ist es aber sogar mit den ganz normalen Beiträgen, die nicht komplett falsch oder hasserfüllt sind. In den vergangenen Monaten war oft die Rede davon, dass Twitternutzer in den vergangenen Monaten erst alle zu Virologen, dann zu Militärexperten geworden seien. Dahinter steckt ein ernsthaftes Problem: Wenn sich Millionen Nutzer über Dinge äußern, in denen sie keine Experten sind, dann haben Halbwahrheiten und Missverständnisse Hochkonjunktur. Emotional zugespitzte Beiträge finden besonders viel Resonanz, heben aber das Debattenniveau auch nicht. Nicht mal die geistige Elite des Landes kann in den sozialen Medien zuverlässig das Niveau halten, das zeigte in den vergangenen Wochen die deutsche Professorendebatte über ein Gasembargo gegen Russland. Und zwischen alldem stecken die Trolle, die auf den sozialen Medien vor allem darauf aus sind, andere zu provozieren.
Als wäre das noch nicht genug, sortieren sich die Nutzer sozialer Medien allzu oft in Teams ein, in denen jeder dem anderen nachplappert. Die Psychologie weiß schon lange: Sozialer Zusammenhalt ist den meisten Leuten wichtiger als wahrheitsgemäße Informationen. Wer also in seiner Meinung von der Mehrheit seines Teams abweicht, der hat es auch nicht leicht. Der amerikanische Jurist und Obama-Berater Cass Sunstein hat in gleich zwei Büchern analysiert, welche Gefahren für Demokratien von diesen Tendenzen ausgehen.
Dass Musk den Mund oft zu voll nimmt, das weiß inzwischen ganz Deutschland. Viele seiner Ziele hat er aber gegen jede Erwartung doch erreicht. Paypal funktioniert als Bezahldienst bis heute. Mit seinen Weltraum-Raketen versorgt er inzwischen die NASA, und Tesla hat sich zum profitablen Autohersteller entwickelt. Musk hat es sogar geschafft, in Deutschland eine ganze Autofabrik innerhalb von nur zweieinhalb Jahren zu bauen und genehmigt zu bekommen (und zwar in dieser Reihenfolge). Eine Neuerfindung von Twitter könnte da auch noch drin sein.
Den Managern von Twitter hat Musk schon mal ausgerichtet, sie hätten sein Vertrauen nicht, an dem Unternehmen müsse sich vieles ändern. Falls er Twitter tatsächlich bekommt, gibt es wahrscheinlich zwei Szenarien. Entweder er zerstört Twitter vollends, dann versinkt der Dienst über kurz oder lang in der Bedeutungslosigkeit. Oder seine Reformen zünden, dann könnten sie der demokratischen Debatte in den sozialen Medien neues Leben einhauchen. Zumindest wäre es spannend, Musk beim Versuch zuzugucken.
Der Spieler - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Jan Fleischhauer hat sich in einer sehr guten Kolumne der im Moment verbreiteten Haltung bezüglich Russlands, man habe das ja alles nicht ahnen können, gewidmet. Auch mich befremdet diese stark, denn wer die Fakten sehen wollte, der sah sie auch. Bereits vor Jahren.
Er habe sich in Putin geirrt, wie andere auch, hat Frank-Walter Steinmeier auf die Frage geantwortet, wie er sich so in dem Mann irren konnte, dem er eben noch Brücken bauen wollte. Putin habe viele getäuscht, erfahren wir von Michael Kretschmer, dem sächsischen Ministerpräsidenten. Auch Manuela Schwesig fühlt sich betrogen: „Putin hat alle getäuscht.“ Selbst Wolfgang Schäuble, nach 45 Jahren im Bundestag eigentlich nicht in dem Alter, in dem man sich noch etwas vormachen lässt, sieht sich hinters Licht geführt: „Ich lag falsch, wir alle lagen falsch.“
„Putin hat uns alle getäuscht“, ist das neue: „Hätten wir das gewusst.“ Wenn alle sich getäuscht haben, wiegt der eigene Irrtum gleich weniger. Wir kennen das aus der Geschichte. Auch von Hitler und den Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden, waren die Deutschen anschließend maßlos enttäuscht. Wie der Mann aus Braunau an die Macht kommen konnte, vermochte sich keiner mehr so recht zu erklären.
Ich kenne eine Reihe von Leuten, die einen sehr klaren Blick auf Putin hatten. Man wollte sie nur nicht hören. Es ist auch nicht so, dass Putin mit seinen Absichten hinter dem Berg gehalten hätte. Er hat wieder und wieder erklärt, wie er die Welt sieht und was er vorhat.
Ich zitiere mich selbst an dieser Stelle so ausführlich, weil sich aus meiner Sicht die Frage anschließt, warum einem Journalisten möglich war zu sehen, was einem Mann wie Steinmeier mit all seinen Stabsstellen und Mitarbeitern nicht zu erkennen möglich war.
Im Fall Steinmeier ist das besonders rätselhaft, weil wir mit dem heutigen Bundespräsidenten einen Menschen vor uns haben, der nie um das politisch korrekte Wort verlegen war. Was fand so jemand an einem Killer, der seine Mordkommandos schon in Tschetschenien und Syrien so vergewaltigen und brandschatzen ließ, wie sie jetzt in Buschta vergewaltigten und brandschatzten?
Hieß es nicht eben noch, dass man ja nur „Mein Kampf“ hätte lesen müssen, um zu wissen, was auf Deutschland und die Welt zukomme? Ist „Nie wieder“ nicht eine stehende Redewendung? Und da redet jemand wie Hitlers Wiedergänger und niemand nimmt das ernst?
Die „New York Times“ hat in einer langen Geschichte über den Aufstieg Putins einen hohen Steinmeier-Berater mit dem Satz zitiert: „Wir haben nicht realisiert, dass Putin sich in eine historischen Mythologie eingesponnen und in den Kategorien eines 1000-jährigen Reiches zu denken begonnen hatte.“ Das ist so niederschmetternd, dass es schon wieder komisch ist. Gibt es im Auswärtigen Amt niemanden, der mitliest, was einer der gefährlichsten Menschen der Welt in Reden an sein Volk verkündet?
Ich habe eine gewisse Obsession mit dem Thema Gasspeicher entwickelt, seit ich las, dass der größte Speicher im niedersächsischen Rehden 2015 ausgerechnet an Gazprom verkauft wurde, also ein Jahr nach dem russischen Einmarsch auf die Krim.
Ich habe mir eine Liste mit den Füllständen kommen lassen. 2018, 2019, 2020: Jedes Jahr lag die Menge des gesicherten Gases bei über 80 Prozent. Dann, 2021, fällt der Füllstand auf 3,6 Prozent. Und keinem in der Regierung oder im Wirtschaftsministerium ist das aufgefallen? Niemand hat sich gefragt, was da los ist, und mal bei Gazprom Germania angerufen?
„Putin hat uns alle getäuscht“: Wie sich die Russland-Freunde ihr Versagen schönreden - Focus
Das Buch “Capital in the Twenty-First Century” ist ein Millionenbestseller und bis heute eines der Hauptargument derer, die eine sogenannte “Reichensteuer” fordern. Nun belegt eine Untersuchung substantielle Fehler in der Auswertung und Bearbeitung der Einkommens- und Steuerstatistik, die alle in eine Richtung weisen und zur Überschätzung der Ungleichheit führen.
Geloso warf im Gespräch mit dieser Zeitung Piketty Fehlverhalten vor. Der französische Ökonom wollte laut Geloso vielleicht nicht betrügen, aber er gab sich schnell ohne weiteres Hinterfragen und Überprüfen mit Ergebnissen zufrieden, die in sich in die These wachsender Ungleichheit einfügten. Geloso spricht von Faulheit, Nachlässigkeit und einer motivgesteuerten Datenauswahl. Wären die Fehler unschuldig, würden sie nicht alle in eine Richtung weisen.
Geloso und Magness widmen sich dem linken Teil der U-Kurve und damit der Frage, ob Roosevelts progressive Einkommensteuer tatsächlich die Ungleichheit so dramatisch verringert hatte wie behauptet. Die Forscher bestätigen, dass die Ungleichheit in der New-Deal-/Zweiter-Weltkrieg-Phase zurückgegangen ist. Nur: Der Hauptgrund war nach ihrer Erkenntnis nicht die hohe Besteuerung, sondern die zerstörerischen Folgen der Großen Depression, die Millionen in die Armut trieb und große Vermögen vernichtete. Piketty gab der Steuer eine übergroße Rolle in der Umverteilung, weil er laut Geloso die damalige Steuerstatistik falsch interpretiert hatte: Sie überschätzten den Anteil der Reichen. Bis 1943 wies Amerikas Fiskus IRS Nettoeinkommen nach steuerlichen Abzügen aus. Um das relevante Bruttoeinkommen der Reichen zu ermitteln, konstruierten Piketty und Kollegen einen Aufschlag, den Geloso willkürlich nennt. Die Alternative sei „langwierig und langweilig“. Er konstruierte aus den IRS-Statistiken die wahren steuerlichen Abzüge der Reichen. Das Ergebnis entsprach nicht annähernd Pikettys Resultat, sondern lag beständig darunter. Reiche waren ärmer, als Piketty sie machte.
Gleichzeitig unterschätzte Piketty durch Fehlinterpretation der damaligen Steuerstatistiken die Höhe des gesamten Einkommens der Volkswirtschaft. Ferner vernachlässigte er die mit den Änderungen der Spitzensteuersätze verbundenen Steuerdeklarationsstrategien und berücksichtigte beispielsweise nicht, dass Bundesbeamte überdurchschnittlich gut bezahlt waren, aber keine Steuererklärungen abgeben mussten.
Die Aufarbeitung der Ungereimtheiten in Pikettys Arbeit setzen sich fort: Im Februar veröffentlichten die hoch angesehenen Steuerexperten Gerald Auten und David Splinter eine wissenschaftliche Arbeit, die den zweiten Teil der U-Kurve zerpflückte. Sie zeigt in Pikettys Version von der Wirklichkeit eine starke Zunahme der Ungleichheit nach den Steuersenkungen unter Ronald Reagan in den 1980er Jahren. Die Autoren fokussierten sich auf die oberen ein Prozent der Einkommensbezieher, die in Pikettys Vorstellungswelt zwangsläufig immer reicher wurden und einen immer höheren Anteil vom Kuchen abgriffen. Auten und Splinter zeigen, dass der Anteil am Volkseinkommen der obersten ein Prozent von 1962 bis 1979 von 11 Prozent auf grob 9,3 Prozent sank. Bis 2019 stieg er dann tatsächlich auf 13,7 Prozent. Das bestätigt Piketty, doch der Anstieg von knapp 3 Prozentpunkten über 60 Jahre ist verblüffend gering. Und selbst diese kleine Reichtumsverschiebung zugunsten der Reichen verschwindet zum großen Teil, wenn man Sozialtransfers berücksichtigt.
Laut Geloso verflacht sich Pikettys „U“ zu einer Untertasse mit leicht nach noch oben gewölbten Rändern, wenn man die inzwischen zahlreichen kritischen Arbeiten zusammennimmt. Ein Muster ist bei Piketty klar erkennbar. Bemerkenswerterweise bewegen sich die darin aufgespießten Ungenauigkeiten, Fehler und Ungereimtheiten im empirischen Teil fast ausschließlich in eine Richtung: Sie sollen offenbar die Aussage stützen, Amerika wird immer ungleicher, weil sich Reiche mehr vom Kuchen sichern und dem Kongress die Kraft zur Umverteilung fehlt.
Deirdre McCloskey, eine der frühen einflussreichen Kritikerinnen, hatte schon 2014 in einer Besprechung der amerikanischen Ausgabe einen schweren Verdacht gegen Piketty, weil dieser bewusst das Humankapital nicht als Einkommensquelle berücksichtigt hatte. Er habe Humankapital, sprich die Bildung, Kenntnisse, Kreativität und Erfahrung der Menschen, ausgelassen, um das Bild von der Kapitalakkumulation nicht zu gefährden. Hätte Piketty Bildung als Kapital akzeptiert, wäre sein Drama zu Staub geworden, schrieb McCloskey schon 2014.
Pikettys U wird flach wie eine Untertasse
Zum Ende der Rubrik Sehenswertes. Der Pressesprecher der Berliner Polizei, Thilo Cablitz, war hier bereits mehrfach Thema. Er hat sudanesische Wurzeln, ist also eine sogenannte “Person of Color”. Es lässt sich von keiner Seite vereinnahmen, was eigentlich normal sein sollte, es aber auch meiner Erfahrung nach nicht immer ist. Man muss viel Kritik aushalten. Nun gibt es eine Dokumentation über ihn.
Als Polizist wurde er von den einen mit dem "N-Wort" beschimpft, als "Nazi" von den anderen. Thilo Cablitz steht oft zwischen den Fronten. Der Pressesprecher der Berliner Polizei hat sudanesische Wurzeln. Vielleicht auch deshalb setzt er sich besonders für Toleranz ein. Auch dann, wenn er z.B. auf einem Einsatz gegen gewalttätige Hooligans oder Querdenker seinen Dienst tut.
Kultur
Coverversion der Woche: Siouxsie And The Banshees - The Passenger
Das Lied wurde von Iggy Pop und Ricky Gardiner geschrieben. Es erschien 1977 auf dem Album “Lust For Life”. Als eigene Single wurde es erstmals im März 1998 veröffentlicht. Die Coverversion von Siouxsie And The Banshees ist von 1987 und war erstmals auf ihrem Cover-Album “Through The Looking Glass” zu hören. Iggy Pop selbst äusserte sich wie folgt zu der Interpretation:”That's good. She sings it well and she threw a little note in when she sings it, that I wish I had thought of, it's kind of improved it. The horn thing is good.”
Epilog
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