Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #84
Prolog
Diese Woche fragte ich mich bei Lektüre einiger Kolumnen, Artikel oder Stellungnahmen nicht zum ersten Mal, ob die sich Äußernden in einer anderen Welt leben als ich. Kritisiert man bei Andersdenkenden zu Recht Falschinformationen, nimmt man es nicht so genau, wenn es das eigene Weltbild stützt. Leider wird nicht einfach nur die Realität ignoriert. Es werden aus strategischen Gründen Fakten bestritten und Diffamierungstechniken angewendet. Andersdenkende sollen aus dem Diskurs entfernt werden. Das findet inzwischen auf allen Seiten statt und ist besorgniserregend.
Eine Behauptung, die in letzter Zeit häufig im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine aufgestellt wird ist, dass Frauen im Gegensatz zu Männern keine Kriege anfingen oder führten. Diese wurde zuletzt von der Liberalen Gyde Jensen geäußert und ist nachweislich unzutreffend. Wie oft muss noch auf die lange Liste von Frauen verwiesen werden, die das mit großer Lust und Brutalität getan haben? Ist das mangelnde Bildung oder, wie oben erwähnt, strategisch begründet? Warum ist das Geschlecht bei diesem Thema überhaupt relevant?
Interessant ist auch, wann bestimmte Argumentationswerkzeuge zur Anwendung kommen und wann eben nicht. Das ehemals seriöse Wissenschaftsmagazin “Quarks”, welches zuletzt in die Schlagzeilen geriet, weil es von einer des Antisemitismus nicht gänzlich unverdächtigen Dame moderiert werden sollte, hat eine Informationskachel bei Twitter veröffentlicht, um über “False Balance” zu informieren. Unter dem Begriff wird verstanden, dass seriöse Fakten/Positionen gleichwertig neben Einzelmeinungen stehen. Auffällig ist, dass das Magazin eine solche Aufklärung nicht für nötig hielt, als ein großer Artikel über eine Frau erschien, die wegen des Klimawandels keine Kinder in die Welt setzen möchte. Oder bei dem Portrait über einen Mann, der aus diesem Grund eine Vasektomie vornehmen ließ. Als seien das keine bizarren Minderheitenpositionen.
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Nun aber los.
Heute geht es unter anderem um kulturelle Aneignung, Meinungsäußerungsfreiheit und moralische Verwahrlosung.
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Politik und Gesellschaft
Die “Fridays For Future” Gruppe in Hannover hat die Musikerin Ronja Maltzahn, die bei der morgigen Kundgebung auftreten sollte, wieder ausgeladen. Der Grund dafür ist, dass sie als Weiße Dreadlocks trägt. Dahinter steht einmal mehr die Theorie der “kulturellen Aneignung”, die nichts anderes ist, als die linke Version des “Ethnopluralismus” der rechtsextremen Identitären Bewegung. Maltzahn selbst veröffentlichte die Absage auf ihrer Instagram-Seite.
Sie selbst schrieb dazu:
Schade dass wir aufgrund von äußerlichen Merkmalen davon ausgeschlossen werden.
Wir möchten keinen Menschen aufgrund von seiner kulturellen Herkunft diskriminieren, sondern vielmehr kultureller Vielfalt eine Bühne geben, sie wertschätzen und zelebrieren, für Gender-Equality, Achtsamkeit und Toleranz einstehen.
Besonders hervorzuheben ist noch die unverschämte Äußerung, wenn Ronja Maltzahn sich bis Freitag die Dreadlocks abschneide, dürfe sie auftreten. Jeder, der sich mit dieser Art von Frisur auskennt weiß, dass man sich eine Glatze rasieren muss, um sie zu entfernen.
Dieser Vorfall zeigt ein weiteres Mal, wie weit sich die “Fridays For Future”-Bewegung in den letzten Jahren radikalisiert hat. Inzwischen geht es immer weniger um das Kernanliegen Klima, sondern immer mehr um Systemveränderung, Identität, Rassismus, Kolonialismus und sonstige Themen dieser Art. Im englischsprachigen Raum gibt es den Spruch “Go woke, go broke.”, der sich darauf bezieht, dass jede Gruppe oder Institution, die solchen Ideen Raum gibt, auf Kurz oder Lang zerstört wird. Das kann man auch hier beobachten.
Inzwischen gab es laut Maltzahn ein Gespräch zwischen ihr und der Hannoveraner Gruppe, welches allerdings nicht dazu führte, dass die Ausladung zurückgenommen wurde. Das ist vielsagend.
In Mecklenburg-Vorpommern wollten CDU, FDP und Grüne erreichen, dass Mittel aus dem Landeshaushalt in die Ukraine geschickt werden. SPD, Linke und AfD lehnten dies ab. Das zeigt sehr gut, wie nah sich manche Parteien, die offiziell nichts miteinander zu tun haben wollen, in einigen Punkten sind.
Aus diesen Kreisen hört man auch immer häufiger die Forderung, die Ukraine solle kapitulieren, weil sie mit ihrer Verteidigung den Krieg verlängere. Darüber ärgert sich auch Christian Neef im “Spiegel”.
Die Kapitulationsforderung ist absurd. Folgt man dieser Logik, hätte die Welt, als Hitler 1941 seinen Ostfeldzug begann, die Russen sofort zur Kapitulation auffordern müssen. Der Kampf gegen den Aggressor schien damals ebenfalls aussichtslos, jedenfalls einige Monate lang, er kostete Millionen Sowjetbürger das Leben. Hätten die besser die Waffen strecken sollen? Wie würde die Welt dann heute aussehen?
Das Unrealistischste an der Kapitulationsdebatte ist jedoch die Annahme, schnelles Einlenken würde den Aggressor besänftigen. Als die Sowjetunion im September 1939 gemeinsam mit Hitler nach Polen einmarschierte, ergaben sich die Polen den Sowjets weitgehend kampflos. Geholfen hat ihnen das nicht: Hunderttausende wurden nach Sibirien deportiert, Zehntausende vom sowjetischen Geheimdienst erschossen.
Putin bombardiert europäische Städte, tötet Zivilisten, vertreibt Millionen – und einige wollen sich immer noch möglichst tief in ihn hineinversetzen. Es gibt überhaupt nichts, was darauf hindeutet, dass Putin sich auf Verhandlungen einlassen wollte, und es ging ihm ja offenkundig längst nicht nur um die Nato, sondern darum, die Staatlichkeit und Identität der Ukraine zu vernichten – und in Osteuropa die russische Vorherrschaft wiedererstehen zu lassen, damit auch EU-Staaten zu bedrohen. All das hat Putin ja sogar selbst so deutlich gesagt, wie man es nur sagen kann.
Wie kann es sein, dass man nach allem, was geschehen ist und täglich geschieht, noch immer an seinen abwegigen Thesen festhält, dass man nur mehr hätte zuhören müssen? Es wurde geredet und zugehört und geredet – und nichts davon hat Putin abgehalten, mehr noch: Die schwache Reaktion des Westens auf die Krim-Annexion hat ihn wohl eher ermutigt.
Hört auf mit dem Kapitulationsgerede! - Spiegel
Barbara Kerneck versteht die deutsche Putin-Liebe ebenfalls nicht und begründet das mit der Geschichte ihrer Vorfahren.
„Glaube nie, wenn dir ältere Leute erzählen, sie hätten von den KZ nichts gewusst. Natürlich – das Ausmaß und die Zahlen, das nicht. Aber wer von ihrer Existenz nichts wusste, der wollte einfach nichts wissen“, schärften mir meine Eltern ein. Sie erkannten einen Faschisten, wenn sie ihm begegneten. Putin hätten sie sofort identifiziert. Schon 1993 bezeichnete der vor deutschen Geschäftsleuten den chilenischen General Pinochet als Vorbild, wenn es darum gehe, durch Gewalt das Privateigentum zu schützen. Bis heute hat er dabei vor allem sein eigenes im Auge.
Dass Putin neue Kriege anstrebt, diesen Verdacht schöpfte ich schon 2003 bei den Recherchen zu meinem Buch „Russlands Blick auf Nato und EU“. Etwa bei einer in Zeitungen gedruckten Rede vor Geheimdienstkollegen. Bei aller Anbiederung im Ausland blieb in diesen Kreisen der Westen das Böse und die Nato der Feind. Vom Kreml geförderte ultrarechte Parteien entwarfen damals öffentlich die später realisierten Drehbücher für die Kämpfe in Georgien und auf der Krim.
Zum Präsidenten gewählt wurde Putin 2000 auf den Flügeln einer von ihm entfachten Kriegshysterie gegen ein kleines, stolzes Volk innerhalb der Russischen Föderation. Der brutale Zweite Tschetschenienkrieg war die Blaupause für den heutigen in der Ukraine und dauerte schon zwei Jahre, als die Abgeordneten im Deutschen Bundestag Putin im Jahre 2001 mit Standing Ovations empfingen. Er lieferte dort ein Lippenbekenntnis zur Demokratie ab. Manche Linke und SPDler entblöden sich bis heute nicht, diesen Moment als „verpasste Chance für Deutschland“ zu bezeichnen.
Unmittelbar nach der Krim-Annexion sprach ich den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck im Foyer des Deutsch-Russischen Forums an: „Sie begeben sich in sehr gefährliche Gesellschaft!“ Er lächelte: „Ich glaube, Sie übertreiben ein wenig!“ Unter seinem Vorsitz verwandelte sich dieser vorwiegend aus Politik- und Wirtschaftsvertretern gebildete Verein in ein Werbeforum für Putins Clique.
Auch Platzeck wollte nicht wissen. Als „russische Interessen“ verkaufte er die der dort herrschenden Diebesbande. Hinter der Liebedienerei von Ministerpräsident Bodo Ramelow oder seiner Kollegin Manuela Schwesig vor den russischen Energiebossen steht neben der Gier der Manager eine tiefe Verachtung dieser Linken und Sozialdemokraten für die kleinen Leute auf der russischen Straße. Deren Armut und Rechtlosigkeit ist ihnen schnurz. Dafür wird im Gespräch über Putins Unrecht gern mit Verfehlungen des Westens gekontert: Abu-Ghraib, Guantánamo, Todesstrafe in den USA. Der Whataboutismus ist eine besonders beschränkte Form des Nichtwissenwollens.
Wir heute schulden den um ihre Freiheit kämpfenden Ukrainer eine ebenso machtvolle Unterstützung von außen. Meine Eltern fanden sich nach dem Krieg in der Bundesrepublik wieder, wo sie – nicht zuletzt dank der von den Alliierten durchgesetzten Entnazifizierung – in einer demokratischen Gesellschaft lebten. Die Putinisten werden im Fall ihres Sieges ihre Fantasien in teuflischen Konzentrationslagern ausleben, wie in Tschetschenien und in der Ostukraine. Falls aber das in Russland herrschende Regime untergeht, müssen wir ein humanes Entputinisierungsprogramm schon in der Schublade haben.
Linkes Nichtwissenwollen - TAZ
Die “New York Times” hat sich in den letzten Jahren vor allem durch das Entfernen von Mitarbeitern, die ihr nicht in den ideologischen Kram passen, hervorgetan. Deshalb hatte ich ein Zufrieren der Hölle für wesentlich wahrscheinlicher als das gehalten, was jetzt passiert ist. Die Zeitung veröffentlichte einen bemerkenswerten Artikel darüber, dass Amerika ein Problem mit freier Meinungsäußerung hat. Sogar die Existenz von Cancel Culture wird darin eingeräumt. Meine Kinnlade liegt immer noch in tausend Teile zerborsten auf dem Boden. Ich empfehle dringend, den Text in Gänze zu lesen.
For all the tolerance and enlightenment that modern society claims, Americans are losing hold of a fundamental right as citizens of a free country: the right to speak their minds and voice their opinions in public without fear of being shamed or shunned.
How has this happened? In large part, it’s because the political left and the right are caught in a destructive loop of condemnation and recrimination around cancel culture. Many on the left refuse to acknowledge that cancel culture exists at all, believing that those who complain about it are offering cover for bigots to peddle hate speech. Many on the right, for all their braying about cancel culture, have embraced an even more extreme version of censoriousness as a bulwark against a rapidly changing society, with laws that would ban books, stifle teachers and discourage open discussion in classrooms.
However you define cancel culture, Americans know it exists and feel its burden. In a new national poll commissioned by Times Opinion and Siena College, only 34 percent of Americans said they believed that all Americans enjoyed freedom of speech completely. The poll found that 84 percent of adults said it is a “very serious” or “somewhat serious” problem that some Americans do not speak freely in everyday situations because of fear of retaliation or harsh criticism.
Most important, freedom of speech is the bedrock of democratic self-government. If people feel free to express their views in their communities, the democratic process can respond to and resolve competing ideas. Ideas that go unchallenged by opposing views risk becoming weak and brittle rather than being strengthened by tough scrutiny. When speech is stifled or when dissenters are shut out of public discourse, a society also loses its ability to resolve conflict, and it faces the risk of political violence.
The progressive movement in America has been a force for good in many ways: for social and racial justice, for pay equity, for a fairer system and society and for calling out hate and hate speech. In the course of their fight for tolerance, many progressives have become intolerant of those who disagree with them or express other opinions and taken on a kind of self-righteousness and censoriousness that the right long displayed and the left long abhorred.
On college campuses and in many workplaces, speech that others find harmful or offensive can result not only in online shaming but also in the loss of livelihood. Some progressives believe this has provided a necessary, and even welcome, check on those in power. But when social norms around acceptable speech are constantly shifting and when there is no clear definition of harm, these constraints on speech can turn into arbitrary rules with disproportionate consequences.
America Has a Free Speech Problem - The New York Times
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes. Die von Nicole Deitelhoff und Michel Friedmann moderierte Veranstaltungsreihe “StreitClub” war völlig an mir vorbeigegangen.
Die Beschreibung liest sich gut.
Kaum etwas ist so häufig Teil unseres Alltags und dabei gleichzeitig so negativ besetzt wie der Streit. Häufig assoziieren wir ihn mit Eskalation, zermürbenden Endlos-Auseinandersetzungen und mit Wut, Enttäuschung oder Aggression. Streit bedeutet Konflikt. Streitkultur hingegen bedeutet Konfliktaustragung und -einhegung. Streitkultur meint also nichts anderes als die Kunst des produktiven Streitens. Als solche ist sie unverzichtbar für stabile zwischenmenschliche Beziehungen, denn im Streit loten wir unsere wechselseitigen Grenzen aus, wir lernen an- und voneinander. Das gilt genauso für unser gesellschaftliches Zusammenleben: Erst im Ringen miteinander entdecken wir uns als Gesellschaft und entwickeln und testen politische Alternativen, die unser Zusammenleben strukturieren. Höchste Zeit also, dass wir uns darin wieder üben!
Die erste Ausgabe, welche bereits im Oktober 2021 stattfand, möchte ich gern empfehlen. Diskutiert wird mit dem Rechtsanwalt Christian Schertz und dem Comedian Florian Schröder über die Grenzen der Meinungsfreiheit.
Kultur
Coverversion der Woche: Peter Thomas Sound Orchestra - Jumpin’ Jack Flash
Gestern hatte Jimmy Miller Geburtstag. Wem der Name nichts sagt: Es handelt sich um den Produzenten, der die meiner Meinung nach wegweisendsten Alben der Rolling Stones produziert hat. Das wären “Beggars Banquet” (1968), “Let It Bleed” (1969), “Sticky Fingers” (1971) und “Exile on Main St.” (1972). Danach hätte sich die Band meinetwegen auflösen können. Der Song “Jumpin’ Jack Flash”, war sein Einstand als Produzent der Band. Er wurde von Mick Jagger und Keith Richards geschrieben und im März/April 1968 aufgenommen. In Großbritannien erschien die Single am 24. Mai 1968 und erreichte dort Platz 1 der Charts. Auch in Deutschland rangierte das Lied auf Platz 1 der Single-Charts. In den USA erschien die Single am 1. Juni 1968 und erreichte Platz 3. Mir gefällt, wie Peter Thomas bereits 1968 aus dem eigentlich düsteren Song, eine fröhliche Groovenummer gemacht hat.
Epilog
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