Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #75
Prolog
Neulich wurde ich auf der Straße angesprochen. Eine Dame fragte mich, ob ich der Vater eines “Jonathan” sei. Dies verneinte ich und wollte weitergehen. Sie gab allerdings nicht auf und behauptete, wir hätten uns mal sehr nett auf einem Kindergeburtstag unterhalten. An ihre Tochter “Charlotte” könne ich mich doch sicher noch erinnern. Ich entgegnete wahrheitsgemäß, dass ich sie noch nie gesehen hätte und sie mich verwechsle. Sie antwortete, das sei unmöglich, ich müsse es sein.
Ist das eine neue Form des Flirtens oder handelte es sich um den Kontaktversuch eines Geheimdienstes? Im Fall der ersten Möglichkeit halte ich die Erfolgsaussichten für relativ klein, die James Bond-Variante gefällt mir deutlich besser. Jedenfalls ließ mich dieses Erlebnis etwas befremdet zurück. Das tun auch Tonalität und Stil einiger Diskussionen, die in letzter Zeit geführt werden.
Die Vehemenz, mit versucht wird, Begriffe wie "Freiheit" und "Eigenverantwortung" zu diskreditieren, ist beunruhigend. Das bringt mich zum in der letzten Ausgabe vorgestellten und vieldiskutierten Artikel von Gerhart Baum im Handelsblatt. Ein großer Teil derer, die ihn begeistert beklatschen, beweisen mit ihrer Argumentation, dass sie ihn gar nicht verstanden haben. Da zeigt sich wieder ein stumpfes Lagerdenken.
Auch die Prioritätensetzung bezüglich Debatten lässt zu wünschen übrig. Man möchte schreien, wenn man sieht, dass Parlamentspoeten und Zahnbürsten mit austauschbaren Akkus für viele offenbar die Prioritäten 2022 sind. Es gibt schon genug staatlich gefördertes Mittelmaß in Kunst und Kultur, da braucht es nicht eine weitere sinnlose Funktion. Abgesehen davon kann ich mir kaum etwas spießigeres als einen Parlamentspoeten vorstellen. Politische Lyrik, da kam noch nie etwas gutes bei heraus. Dass denjenigen, die nichts von dieser Idee halten, inzwischen “Antiparlamentarismus” (Mit allem, was damit Unappetitliches verbunden ist.) vorgeworfen wird, ist nur ein weiterer Beleg für die Überdrehtheit, mit der inzwischen diskutiert wird.
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Nun aber los.
Heute geht es unter anderem um fest geschlossene Augen, Antisemitismus und Identität.
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Politik und Gesellschaft
Es gibt Bestrebungen, den grünen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer aus der Partei auszuschließen. Meiner Meinung nach ein absurdes Vorhaben, aber kein Wunder, wenn man sich wie ich schon länger mit den oft sehr eigenen Gedankenwelten dieser Partei beschäftigt. Nun haben mehr als 500 Mitglieder der Grünen einen Aufruf dagegen unterzeichnet. Rüdiger Soldt kommentiert das in der FAZ.
Zu den Unterzeichnern gehören viele prominente, ehemalige Mandatsträger der Partei und viele Mitglieder der Gründungsgeneration. So ist der Aufruf von der früheren Parlamentarischen Staatssekretärin Uschi Eid, dem früheren baden-württembergischen Umweltminister Franz Untersteller, der Mitgründerin und ehemaligen Europaabgeordneten Eva Quistorp, der früheren EU-Haushaltskommissarin Michaele Schreyer, dem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Rezzo Schlauch, der ehemaligen Berliner Bildungssenatorin Sybille Volkholz, der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer und dem ehemaligen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Vollmer, mit unterzeichnet worden. Auch Klaus-Peter Murawski, der frühere Staatskanzleichef des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, ruft in dem Schreiben dazu auf, das Ausschlussverfahren einzustellen.
Die Befürworter Palmers sehen in dem Ausschlussverfahren auch einen Verstoß gegen grüne Gründungsprinzipien: Vom Mainstream abweichende Meinungen müssten als Bereicherung und Anstoß zu einer programmatischen Auseinandersetzung begriffen werden.
„Es ist unsere Aufgabe, gesellschaftlich kontroverse Themen auch bei uns diskursiv auszutragen, immer in der Hoffnung, dass das beste Argument dann auch siegen wird“, heißt es in dem Aufruf. Wenn Palmer als „Querulant“, „Störenfried oder „Flüchtlingsfeind“ bezeichnet worden sei, dann seien das Klischees, die in den seltensten Fällen hinterfragt worden seien. Leider hätten es „intellektuelle Exzentriker“ und „Charakterköpfe“ in der grünen Partei heute schwer; sie würden nicht als bereichernd geschätzt. Ausdrücklich verteidigt werden Palmers inhaltliche Interventionen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik: Seine „bedenkenswerten Argumente“ seien diffamiert worden, die Grünen müssten, so wie es Palmer gefordert habe, die „längst überfällige Debatte“ über die künftige Migrationspolitik führen. Wer Palmers Buch „Wir können nicht allen helfen“ gelesen habe, der könne nicht mehr zur Auffassung gelangen, dass der Tübinger Oberbürgermeister ein Fremdenfeind sei.
„Verbale Entgleisungen“ für Ausschlussverfahren nicht ausreichend - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Silke Mende, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hat sich mit der Frage befasst, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen den Grünen, Anthroposophie und völkischem Denken gibt. Besonders in Zeiten merkwürdiger Allianzen auf Corona-Demos sehr interessant.
Ein Charakteristikum der frühen grünen Bewegung, die sich im Januar 1980 als Bundespartei gründete, war ihre große Heterogenität, die ideologisch von „ganz links“ bis „ganz rechts“ reichte. Paradigmatisch kam dies im Gründungsslogan „nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ zum Ausdruck. Teil dieses Spektrums war die Anthroposophie, die neben einer an Rudolf Steiner ausgerichteten orthodoxen Richtung etliche Spielarten kennt. Es sind insbesondere ihre zahlreichen Praxisfelder, von der Waldorfschule über die Alternativmedizin bis zur biodynamischen Landwirtschaft, die in den 1970er Jahren eine ungeheure Dynamik entfalteten und Anschlussfähigkeit in unterschiedlichen Milieus ermöglichten. In Anlehnung an den Religionswissenschaftler Helmut Zander, einem der ausgewiesenen Kenner auf diesem Gebiet, lässt sich von „selektiver Nutzung“ sprechen.
Zunächst gab es Berührungspunkte der Grünen zu völkischem und nationalistischem Denken, wie es in Teilen der traditionellen Lebensschutzbewegung zum Ausdruck kam. Deren Wurzeln reichten vor allem in die Nachkriegszeit und teilweise bis zur Lebensreformbewegung der „langen Jahrhundertwende“ zurück, etwa im Dunstkreis des „Weltbunds zum Schutz des Lebens“ (WSL). Einer ihrer Protagonisten war der ehemalige Nationalsozialist Werner Georg Haverbeck (1909-1999). Bereits in den 1930er Jahren mit der Anthroposophie in Berührung gekommen, war er in den 1950er Jahren Pfarrer in der anthroposophisch inspirierten Christengemeinschaft und stand seit 1974 an der Spitze der deutschen Sektion des WSL. Mit seiner Frau, Ursula Haverbeck-Wetzel (*1928), die seit den 2000er Jahren mehrfach wegen Volksverhetzung und Holocaustleugnung verurteilt wurde, leitete er das „Collegium Humanum“ in Vlotho. In den 1970er Jahren ein wichtiges Forum für unterschiedliche Gruppen der Umweltbewegung wie der entstehenden Grünen, entwickelte sich das Collegium seit den 1980er Jahren immer stärker zu einer Anlaufstelle für Rechtsextremisten und wurde 2008 vom Verfassungsschutz verboten. Für den völkischen Ökobauern Baldur Springmann (1912-2003) wiederum, der ebenfalls eine braune Vergangenheit hatte, war Anthroposophie weniger als Theorie denn als Praxis von Interesse: Bereits Mitte der 1950er Jahre hatte er auf biodynamisches Wirtschaften umgestellt und verstand es, sich bis weit ins linke und alternative Milieu hinein als Pionier einer ökologisch orientierten Landwirtschaft zu inszenieren.
Teile der völkisch grundierten Lebensschutzbewegung gelangten in den Gründungsprozess der Grünen. Die wichtigste organisatorische Brücke bildete die nationalneutralistische Kleinstpartei der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) um ihren umtriebigen Vorsitzenden August Haußleiter (1905-1989), der nach einem kurzen Engagement in der frühen CSU vor allem mit rechten Splitterparteien hervorgetreten war. Nach einem misslungenen Annäherungsversuch an APO und Studentenbewegung gelang es der AUD in den 1970er Jahren, Kontakte zur sich institutionalisierenden Umweltbewegung aufzunehmen. Dadurch wurden sie zu einer der Gründungsorganisationen der Grünen, in deren Frühphase sie eine durchaus markante, aber nicht dominante Rolle spielte.
Wichtiger als diese punktuellen Überschneidungen sind allerdings zwei andere anthroposophisch beeinflusste Netzwerke im Entstehungsprozess der Grünen. Aufgrund ihrer teils ausgeprägten lebenskulturellen Schnittmengen mit dem Alternativmilieu, bezeichne ich sie als „antiautoritäre Anthroposophen“. Sie bestanden aus zunächst getrennten Organisationszusammenhängen, die in den 1970er Jahren zueinander fanden: Zunächst der Achberger Kreis, dessen institutionelles Zentrum sich im äußersten Südosten Baden-Württembergs unweit des Bodensees befand. Dort entstand an der Wende zu den 1970er Jahren das Internationale Kulturzentrum Achberg, das fortan als Forum radikaldemokratischer Anthroposophen fungieren und im Gründungsprozess der Grünen eine wichtige Plattform darstellen sollte. Es formierte sich um die Idee der „sozialen Dreigliederung“ nach Steiner, die drei voneinander getrennte gesellschaftliche Bereiche unterscheidet und sie mit den Idealen der Französischen Revolution zu verknüpfen sucht: Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, Gleichheit im Bereich des öffentlichen Rechts und Freiheit im Geistesleben. Was in den Reihen der orthodoxen „Mehrheitsanthroposophie“ im Umfeld der Anthroposophischen Gesellschaft bestenfalls auf Desinteresse stieß, wurde von den Achbergern ins Zentrum ihrer politischen Arbeit gestellt. In ihren Augen galt es, die anthroposophische Lehre, insbesondere deren politisch-gesellschaftliche Aspekte, dem Zeitgeist und den gesellschaftlichen Herausforderungen der 1970er Jahre anzupassen.
Darüber kam sie schnell in Kontakt mit einer anderen Gruppe, die ein ganz ähnliches Anliegen verfolgte: Die 1973 gegründete Freie Internationale Universität (FIU) um Joseph Beuys (1921-1986), der als ihr charismatischer spiritus rector das Drehgelenk zu den Achbergern wurde. Auf die Prägung des Künstlers durch das Werk Steiners und seine ambivalente politische Einordnung wurde bereits vielfach verwiesen, am dezidiertesten von Hans Peter Riegel. Im Laufe der 1970er Jahre fand eine zunehmende Vernetzung von Achberger Kreis und FIU um Joseph Beuys statt. Unabhängig von unterschiedlichen Akzentsetzungen vertraten sie im Grunde dieselben Ideen, die in einem gemeinsamen Habitus und einem spezifischen Politikstil ihren Ausdruck fanden.
Aber auch die Achberger, die FIU und Joseph Beuys selbst verloren im politischen Tagesgeschäft schnell an Resonanz. Bei den Europawahlen 1979 hatte Beuys für die Grünen kandidiert, und bei den Bundestagswahlen 1980 war er sogar als ihr nordrhein-westfälischer Spitzenkandidat ins Rennen gegangen. Nur drei Jahre später verwehrte ihm seine Partei jedoch einen aussichtsreichen Listenplatz. Obgleich er bis zu seinem Tod Mitglied war, blieb seine große Zeit bei den Grünen eine kurze Episode im Formierungsprozess der Partei. Dieses Schicksal teilte er mit den anderen anthroposophisch inspirierten Netzwerken und der Mehrzahl ihrer Protagonisten.
Daraus ein abruptes Ende der Wirkungsgeschichte ihrer Ideen und Praktiken im Umfeld der Partei abzulesen, wäre allerdings zu kurz gesprungen. Zwar steht es noch aus, diese empirisch dicht zu erforschen, ein Blick auf die Anhänger- und Wählerschaft der Grünen lässt jedoch auf eine fortbestehende Nähe schließen. Das gilt für das weit gefasste Alternativmilieu ebenso wie für die Anthroposophie und ihre Praxisfelder, von der biodynamischen Landwirtschaft über die Waldorfschulen bis hin zur Alternativmedizin. Für das Selbstverständnis der Partei sind diese weiterhin von Bedeutung – wenn auch für ihre Anhänger offenbar stärker als für ihre gewählten Repräsentanten. Dass hier ein regelrechtes Spannungsverhältnis zwischen den Grünen und ihrer Klientel besteht, hat nicht zuletzt die 2019 und 2020 intensiv geführte Debatte um die Rolle von Homöopathie und Alternativmedizin gezeigt. Auch wenn sich deren Anhänger bei den Grünen auf einem Rückzugsgefecht befinden, schlug die Auseinandersetzung inner- und außerhalb der Partei hohe Wellen, bevor sie seit dem Frühjahr 2020 bekanntlich von einem anderen, bestimmenderen gesundheitspolitischen Thema in den Hintergrund gedrängt wurde.
Wie anthroposophisch waren die Grünen? - Geschichte der Gegenwart
Die aktuelle Kolumne von Jan Fleischhauer hat für einigen Wirbel gesorgt. Vor allem natürlich wie immer bei den Menschen, die sie nicht gelesen haben. Die Behauptung, er verharmlose oder leugne gar Corona, ist unzutreffend. Ich empfehle den Text zur Lektüre, weil ich die darin geäusserte Haltung sehr gut nachvollziehen kann.
Der Hinflug war bis auf den letzten Platz besetzt. Meine Sitznachbarin flüsterte mir zu, dass die Leute über den Jahreswechsel wie wild fliegen würden. Alle Weihnachtsflüge von München seien praktisch ausgebucht, habe sie im Radio gehört. Keine Ahnung, warum sie mir die Information im Flüsterton überbrachte. Vielleicht dachte sie, dass sie das Kabinenpersonal in letzter Sekunde des Flugzeugs verweisen würde, wenn eine der Stewardessen unser Gespräch mitbekäme.
Bei mir verstärkte das den Eindruck, dass wir dabei waren, etwas Gefahrvolles, um nicht zu sagen Verbotenes zu tun. Ein Ferienflug nach Lanzarote als Akt der Aufsässigkeit – wow! Und ich hatte immer gedacht, eine Reise auf die Kanaren sei der Inbegriff von Spießigkeit.
Ich habe zwei Jahre alles mitgemacht. Ich habe mit meinen Kindern vor dem Kinderspielplatz gestanden und dem Flattern der Absperrbänder zugesehen. Auf dem Rodelberg haben wir streng darauf geachtet, dass zwischen uns und dem Nachbarschlitten anderthalb Meter Abstand lagen.
Selbstverständlich habe ich immer Maske getragen, auch draußen, wenn es vorgeschrieben war. Ich bin geimpft und geboostert. Mein Sohn ist kommende Woche zur Impfung angemeldet, wenige Tage nach seinem siebten Geburtstag. Die Geburtstagsfeier haben wir zum zweiten Mal in Folge abgesagt, weil wir niemanden in Schwierigkeiten bringen wollten.
Ich kann ziemlich genau sagen, wann es bei mir klick gemacht hat. Es war drei Tage vor Weihnachten, als das RKI eine „Strategie-Ergänzung“ zur Bekämpfung der Omikron-Welle vorstellte. „Maximale Kontaktbeschränkungen“, „maximale infektionspräventive Maßnahmen“, „Reduktion von Reisen auf das unbedingt Notwenige“ – das waren die vorgeschlagenen Maßnahmen. Also der nächste Lockdown, dieses Mal noch härter und entschiedener, eben maximal. Da wusste ich, das RKI hat mich verloren.
Ich werde nicht plötzlich unvorsichtig sein. Ich werde mich weiter an die Regeln halten. Ich werde nur nicht mehr mein ganzes Leben an den Schaubildern ausrichten, die das Schlimmste annehmen.
Nach der Welle ist vor der Welle, auch das ist ja eine Lehre aus den vergangenen zwei Jahren. Es wird immer irgendeine Variante geben, die noch leichter zu übertragen ist und damit potenziell noch gefährlicher.
Wollen wir in dauernder Habachtstellung vor dem Virus leben? Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man dem Impfstoff vertrauen will oder nicht. Entweder die Impfung schützt, wie versprochen, vor schweren Verläufen – oder wir sind ohnehin verloren. Dann nützen uns auch die mit Magenbittermiene vorgetragenen Modelle von Sandra Ciesek nichts mehr.
Ich will niemanden davon abhalten, sich zu Hause einzuschließen. Jeder soll machen, was er für sinnvoll hält. Ich habe meine Entscheidung getroffen. I am out.
Ich bin raus! Das war der Moment, in dem mich das RKI und die Corona-Experten verloren - Focus
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes. Nina Kirsch hat ein sehr interessantes Interview mit Serdar Somuncu geführt.
Svenja Flaßpöhler spricht in der Reihe “Junge Köpfe” der FAZ über Identität.
Die Debatte über Herkunft und Identität ist zu einer zentralen Frage unserer Zeit geworden. Wo kommt das her und wo führt das hin? Ein Streitgespräch mit der Philosophin Svenja Flaßpöhler.
Philosophin Svenja Flaßpöhler über Identität - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kultur
Es war nur eine Frage der Zeit, bis es bei Diskussionen um Raubkunst, Kolonialismus und Ähnliches, die Brücke-Künstler trifft. Am 29, Dezember gab es im “Heute-Journal” einen Beitrag über eine Ausstellung im Brücke-Museum in Berlin.
Das Wort „Beitrag“ klingt allzu neutral, denn es handelte sich um eine aggressive, ja vernichtende Polemik gegen die künstlerische Avantgarde, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs Klassizismus und Akademismus verwarf und sich für „exotische“ und „primitive“ Kulturen begeisterte: von Masken aus Afrika und Skulpturen aus Ozeanien in den Studios von Picasso und Braque, die bei der Entstehung des Kubismus Pate standen, bis hin zum Atelier des Brücke-Malers Ernst Ludwig Kirchner, das, vollgestopft mit Kolonialkunst, einer Völkerschau glich.
Glaubt man den Kuratoren und Kommentatoren der auch in Kopenhagen und Amsterdam gezeigten Brücke-Ausstellung, war die Geburt der modernen Kunst ein Sündenfall, ein moralisches Desaster, das nach neuen Wegen suchende Künstler zu Komplizen der Kolonialherrschaft werden ließ. Und vom Vorwurf, sich nicht klar vom Kolonialismus distanziert zu haben, ist es nicht weit zum Totschlagargument des Rassismus, das jede Widerrede zum Schweigen bringt.
Diese Argumentation ist mehr als fahrlässig: Als Scharnier dient der schwammige Begriff „Raubkunst“ – schwammig wörtlich wie auch im übertragenen Sinn, da die expressionistischen Maler ja nicht nur Artefakte, sondern auch künstlerische Verfahren von deren Erfindern „stahlen“. So besehen ist alles Raubkunst, ein Schlagwort, das den Prozess der Entlehnung oder Inspiration durch Elemente fremder Kulturen unter Pauschalverdacht stellt: Dass die Griechen von den Ägyptern, die Römer von den Griechen lernten, war demnach kein Kulturaustausch, sondern Diebstahl.
Anstelle der Unschuldsvermutung tritt die Devise „in dubio contra reum“, besonders wenn es sich um alte, weiße Männer handelt. Dass die moderne Kunst, nicht bloß die der Expressionisten, die Gesellschaft ihrer Zeit und damit auch die Kolonialherrschaft radikal in Frage stellte, kommt den selbstgerechten Anklägern nicht in den Sinn: So wenig wie die Tatsache, dass schon Nationalsozialisten wie Stalinisten ebenjene Kunst, der die Nachgeborenen nun die Legitimation absprechen, als dekadent oder reaktionär verfolgten und verboten. Dass Künstler sich mit den Opfern des Kolonialsystems, „Wilden“ und „Primitiven“, identifizierten und deren Kultur der europäischen vorzogen, widerlegt den Vorwurf des Rassismus, wie ein Brief Emil Noldes aus Neuguinea vom März 1914 zeigt: „Mit bestem Wissen und Wollen sucht der weiße Mann den Kult und das Selbstbewusstsein der Urmenschen zu untergraben . . . In zwanzig Jahren ist alles verloren an primärer Geistigkeit, die wir so leichtsinnig und schamlos vernichten. Die Urmenschen leben in der Natur . . ., und ich habe zuweilen das Gefühl, als ob nur sie noch wirkliche Menschen sind, wir aber verbildete Gliederpuppen, künstlich und voll Dünkel.“
Dass Nolde sich später den Nazis andiente, hat ihn vor der Einstufung als entartet samt Malverbot nicht bewahrt. Die postkolonialen Kritiker aber ignorieren den historischen Kontext der Kunst und verfälschen deren Geschichte, indem sie die Titel von Zeichnungen und Gemälden verändern und umschreiben im Sinne politischer Korrektheit von heute, die hoffentlich bald der Vergangenheit angehört.
Postkoloniale Selbstgerechtigkeit - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Das “Bündnis gegen Antisemitismus Kassel” hat eine Liste von Künstlern für die kommende Documenta veröffentlicht, die den kulturellen Boykott Israels gutheissen und sich teilweise in der antisemitischen BDS-Bewegung engagieren. Besonders gespannt bin ich auf die Positionierung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die 2019 der BDS-Resolution im Bundestag nicht zugestimmt hatte.
Von heute aus betrachtet erscheint es beinahe seltsam, dass den Verantwortlichen der bevorstehenden Documenta 15 die politischen und ideologischen Untertöne des indonesischen Kuratorenkollektivs ruangrupa und seiner Künstlerauswahl erst jetzt zu Gehör gelangen, man möchte sagen: um die Ohren fliegen.
Sie kämpfen offen für die palästinensische Sache, viele bestreiten das Existenzrecht des Judenstaats und verfallen, so der Vorwurf, auch in die Sprache des Antisemitismus. Natürlich, die Künstler sind frei, ihre Positionen deutlich zu machen. Doch wenn Vertreter von Organisationen wie dem Khalil Sakakini Cultural Center eingebunden werden – und also die Sache mitprägen –, wird es unschön. Entweder ist es Absicht oder Blauäugigkeit. Al-Sakakini (1878–1953) war ein arabischer Nationalist und Nazi-Sympathisant. Er rief schon früh zum Kampf gegen die Juden auf und ist heute ein palästinensischer Säulenheiliger.
Kaum erklärlich ist es, dass die Debatten des vergangenen Jahres um die Israelfeindlichkeit der identitären Linken im Kunstbetrieb und der Postkolonialisten von den Documenta-Planern einfach ignoriert wurden. Das Ganze wird sich nun, dazu ist wenig Fantasie nötig, zu einem kulturpolitischen Skandal auswachsen. In Kassel stellt man sorgfältige Prüfungen in Aussicht. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung wird sich heraushalten, die Gelder sind ohnehin bewilligt, und der nachträgliche Eingriff des Staates käme einer Zensur gleich. Also muss die Documenta selbst für Klarheit sorgen und sich der gesellschaftlichen Debatte stellen.
Abermals – und nach der Diskussion um den Philosophen Achille Mbembe erwartbar – prallt in diesem Fall die Freiheit der Meinungsäußerung hart mit der deutschen Verantwortung gegenüber Israel zusammen. Der Bundestag hat sich in seiner BDS-Resolution vom Mai 2019 klar in der Sache positioniert, doch in der kulturbetrieblichen Praxis blieb offen, wie mit den politischen Haltungen von Künstlern und Intellektuellen in Sachen BDS zu verfahren sei. Bloß verschweigen lässt sich die Frage nicht länger.
Verschweigen, das geht nicht mehr - Die Zeit
Coverversion der Woche: Ramones - Baby, I Love You
Leider ist gestern Ronnie Spector, Gründerin der Ronettes verstorben, was die Auswahl der heutigen Coverversion erleichtert. Die Ramones waren bekannt für Interpretationen aus genau diesem Bereich, die ihnen immer wunderbar gelangen. Die Originalversion wurde 1963 aufgenommen und erschien zuerst als Single. Ein Jahr später befand sie sich dann auch auf dem Debütalbum der Ronettes mit dem Titel ”Presenting the Fabulous Ronettes”. Produziert wurde das Stück von Phil Spector, der 1980 dann auch die Aufnahme der Coverversion verantwortete.
Epilog
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