Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #74
Prolog
Zurück aus der Weihnachts- bzw. Jahreswechselpause wünsche ich allen Lesern erneut ein frohes neues Jahr. Ich hoffe, Sie hatten schöne Weihnachtstage und sind gut herübergekommen. Mögen eventuelle Vorsätze gut durchgehalten werden. Ich habe die Zeit sehr genossen, bin allerdings kein Mensch für Vorsätze. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, mich auch 2022 in Debatten einzuschalten und vor allem zu widersprechen.
Viele der Dinge, die in diesem Newsletter kritisch hinterfragt werden, vertritt lediglich eine winzige, aber sehr lautstarke und gut vernetzte Minderheit in der Gesellschaft. Diese Themen können nur eine solche eine Prominenz in den Medien, den Köpfen der Menschen und somit auch in gesellschaftlichen Debatten einnehmen, weil zu wenig Menschen widersprechen. Es ist nicht immer bequem, aber auf nachweislich falsche Tatsachenbehauptungen und/oder verzerrt dargestellte Sachverhalte mit einem freundlichen:”Das, was Du eben gesagt hast, stimmt nicht. Hier sind die Fakten.” ist nicht zuviel des Aufwands.
Eine der entscheidenden Erkenntnisse des Erwachsenwerdens ist, dass man zwar nicht die Welt ändern, sehr wohl aber im eigenen Umfeld “ideale” Verhältnisse schaffen kann. Wem bereits das zu anstrengend ist, der verliert irgendwann auch die Berechtigung, sich zu beschweren.
Manche äussern sich aus guten Gründen erst dann zu bestimmten Themen, wenn man ihnen nichts mehr wegnehmen kann, zum Beispiel wenn sie im Ruhestand sind. Jüngstes Beispiel ist Claus Kleber, der in einem Interview mit der “Zeit” Ideologie und Aktivismus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen beklagt. In diesem Fall finde ich das merkwürdig, denn Kleber hätte all das in seiner Position verhindern oder beseitigen können. Warum er es nicht tat, bleibt sein Geheimnis.
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Nun aber los.
Heute geht es unter anderem um Liberalismus, Kontaktschuld und Humor.
Willkommen im Club!
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Politik und Gesellschaft
Gerhart Baum, verdienter Ex-Innenminister und zum linken Flügel der FDP gehörend, hat gestern einen Artikel im Handelsblatt geschrieben, den man nicht unkommentiert lassen kann. Er enthält meiner Meinung nach nicht nur einige Fehlschlüsse, sondern steht auch stellvertretend für die Flügelkämpfe innerhalb des liberalen Lagers. Lesenswert ist er also definitiv.
Misstrauen gegen staatliche Eingriffe ist zwar ein Wesensmerkmal der Liberalen. Aber das darf nicht gelten, wenn auf Schutz nicht verzichtet werden kann. Freiheit muss mit Verantwortung einhergehen und das Gemeinwohl im Auge haben.
Ein Misstrauen gegen staatliche Eingriffe wird hier zwar als Wesensmerkmal liberalen Denkens anerkannt und auch die Binse, dass Freiheit mit Verantwortung einhergeht, darf nicht fehlen. Gleichzeitig werden schwammig vermeintliche Einschränkungen der Berechtigung des Misstrauens formuliert (“Aber das darf nicht gelten, wenn auf Schutz nicht verzichtet werden kann.” Wer bestimmt, wann das der Fall ist und warum soll man dann mit dem Hinterfragen aufhören?) und die Behauptung aufgestellt, Freiheit müsse das Gemeinwohl im Auge haben. Gemeinwohl ist ein Begriff, bei dem ich immer hellhörig werde. Wer definiert mit welcher Legitimation, was Gemeinwohl ist und welche Definition ist in diesem Fall gemeint? Die urliberale Erklärung, dass jeder die Möglichkeit hat frei von staatlichen Zwängen selbst über sein Leben zu bestimmen, was auch die Freiheit zu unvernünftigen Entscheidungen mit eventuell tödlichem Ausgang beinhaltet? Oder die sozialistische? Die ökonomische? Wer die Meinung vertritt, Freiheit solle sich nach dem Gemeinwohl richten, muss mindestens genau erklären, was er damit meint und auf.
Wir brauchen das Instrument einer Impfpflicht, die an die Verhältnismäßigkeit gebunden ist. Das sehen inzwischen auch führende Vertreter der FDP so. Mit einer prominenten Ausnahme: Vize-Parteichef Wolfgang Kubicki hat die Pandemiegefahr lange verharmlost – und trägt mit seiner einseitigen Interpretation des Freiheitsbegriffs dazu bei, dass Leben und Gesundheit gefährdet werden.
Ob eine Impfpflicht notwendig ist, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Es gibt gute Argumente sowohl dafür als auch dagegen. Zu behaupten, Wolfgang Kubicki habe die Gefahr der Pandemie lange verharmlost, entspricht allerdings nicht den Tatsachen. Es sei denn man empfinde seine Meinung als Verharmlosung. Das wäre dann ausschließlich das Problem des so Empfindenden. Ebensowenig stellen seine Äußerungen eine Gefahr für Leib und Leben dar. Eine groteske Behauptung.
Kubicki begibt sich auf das Gebiet der Demagogie, wenn er behauptet, die Mehrheitsgesellschaft übe an den Ungeimpften „Rache und Vergeltung“. Rache und Vergeltung wofür eigentlich? Mit solchen demagogischen Formulierungen spricht er ein Milieu an, das über die Impfgegnerschaft hinaus ganz anderes im Sinne hat.
Diese Formulierung halte ich auch für übertrieben. Dass die Argumentation vieler in den sozialen Medien einem Rachefeldzug gleicht, kann man allerdings schwerlich bestreiten. Da freut man sich und feixt über an Covid verstorbene Coronaleugner. Vor dem Hintergrund schwarzen Humors könnte man es tatsächlich als Realsatire empfinden, dass Menschen, die ein Virus leugnen, genau daran sterben. Trotzdem verbietet sich die Freude über Todesfälle für anständige Menschen.
Dass sich auch Coronaleugner von Kubickis Äußerungen angesprochen fühlen, bedeutet nicht, dass sie illegitim sind. Das “Applaus von der falschen Seite”-Argument war noch nie eines und wird auch nie eines sein.
Die Behauptung, die Corona-Impfstoffe seien gefährlich, widerspricht schließlich allen Erkenntnissen der Wissenschaft.
Ich habe keinen Beleg für die Behauptung gefunden, Kubicki habe die Impfstoffe als gefährlich bezeichnet. Vielleicht kann mir die Leserschaft weiterhelfen? Im Gegenteil: Er hat immer betont, dass er die Impfung für richtig hält. Es wäre ein starkes Stück, wenn Baum sich das ausgedacht hätte. Insgesamt sind diese Angriffe schlechter Stil.
Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers trat kürzlich mit der These hervor, es gebe „nun zwei liberale Parteien“, die linksliberalen Grünen und die eher konservative FDP. Das seien die zwei Flügel des einen liberalen Projekts.
Den Grünen, so Möllers, gehe es vor allem um den langfristigen Schutz der Freiheit, die FDP hingegen konzentriere sich nicht auf das perspektivische „Sollen“, sondern auf das kurzfristige „Wollen“. Doch diese Rollenbeschreibung ist falsch: Zum einen ist die FDP nicht perspektivlos, zum anderen sind die Grünen nicht immer zukunftsorientiert.
Entscheidend ist vielmehr ein anderer Unterschied: das Freiheitsverständnis. Freiheit in Verantwortung für andere ist für Liberale das Leitmotiv ihrer Politik, während bei den Grünen Freiheit neben anderen Zielen wie Frieden und Nachhaltigkeit rangiert.
Die Grünen vertreten politische Ziele, die aus liberaler Sicht zustimmungsfähig sind. Auch sie setzen sich für Freiheit und Demokratie ein. Was ihnen jedoch fehlt, ist das liberale Leitmotiv. Für die Grünen ist es im Zweifel der Staat, der die Freiheit schafft.
Hier ist Baum zuzustimmen. Es ist ein bizarres Schauspiel, wie in den letzten Jahren versucht wird, die Grünen zur liberalen Partei umzulabeln. Es gibt im demokratischen Spektrum kaum eine illiberalere Gruppierung. Nicht minder bizarr sind die Versuche der Umdeutung von Freiheitseinschränkungen zum Inbegriff von Freiheit, an der sich leider auch Baum beteiligt. Ja, in einer Pandemie sind Freiheitseinschränkungen notwendig. Das widerspricht liberalem Denken nicht. Sie sind aber keine Freiheit und welche Einschränkungen dafür geeignet sind, die Pandemie in den Griff zu bekommen, darüber darf natürlich leidenschaftlich diskutiert werden.
Die Liberalen müssen ihr Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen überwinden - Handelsblatt
Der Philosoph Philipp Hübl hat einen hervorragenden Artikel über Kontaktschuld und moralischen Furor geschrieben.
Wer allerdings meint, Reinheitsgedanken tauchen nur im rechten Lager auf, der irrt, denn seit einiger Zeit entdeckt man sie auch in progressiven, also linksliberalen Kreisen. Beispiele aus den letzten Jahren: Ein Kind durfte die Waldorfschule nicht besuchen, weil der Vater in der AfD ist. Der Fischer-Verlag trennte sich von Monika Maron, weil einer ihrer Texte in einem Kleinverlag erschienen ist, dessen Bücher nicht nur von Amazon, sondern auch von dem neurechten Verlag Antaios vertrieben werden. Der Geschäftsführer einer Filmförderung musste seinen Posten räumen, weil er mit einem AfD-Politiker zu Mittag gegessen hatte. Der Sponsor Check24 distanziert sich vom Sportkommentator Marcel Reif, nachdem er den hochsprachlichen Ausdruck „Jungtürken“ verwendet hatte, den einige Twitter-Nutzer als „rassistisch“ fehlgedeutet haben.
Im progressiven Lager gelten einige Menschen durch Verwandtschaft oder bloße Nähe zum Bösen gleichsam als infiziert und werden in eine soziale Quarantäne versetzt. Gerechtfertigt wird dieses Reinheitsstreben mit dem edlen Ziel, die Marginalisierten und Unterdrückten zu schützen und Diskriminierung zu bekämpfen. Gefährlich ist der Ansatz trotzdem, denn er entspringt unbewussten moralischen Affekten und widerspricht einer universellen Ethik, in der Kontaktschuld oder Sippenhaft keinen Platz haben sollten.
Obwohl progressive Menschen Religionen und Traditionen oftmals kritisieren, finden sich unter ihnen immer mehr Beispiele für Reinheitsbestrebungen, allerdings nicht als Schutz vor biologischer, sondern vor moralischer Infektion.
Die Parallele zum kulturellen Reinheitsdenken liegt auf der Hand. Rechtsextreme attackieren Menschen aus Nordafrika nicht in ihren Herkunftsländern, sondern erst dann, wenn sie als „Fremde“ das heimische Territorium betreten. Was dem Rassisten die kulturelle Infektion ist, ist einigen progressiven Aktivisten die moralische. Sie wollen den Kontakt zum Gegner oder zu seinen moralisch falschen (oder als falsch markierten) Ideen und Taten unterbinden. Die physische Nähe im Vorlesungssaal, auf einer Lesebühne oder im Verlagsprogramm kann da schon ausreichen.
Manchmal steckt hinter extremen Reinheitsbekundungen vor allem Eigen-PR: Wenn sich Leute als besonders sensibilisiert inszenieren und als besonders engagiert im Kampf gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt, etwa indem sie anregen, Straßennamen zu „entmilitarisieren“, weil Namensgeber wie Hans von Obentraut, den heute so gut wie niemand mehr kennt, im Dreißigjährigen Krieg vor 400 Jahren als General gekämpft haben.
Aber diese Inszenierung funktioniert nur, weil das Reinheitsdenken inzwischen weitverbreitet und akzeptiert ist und weil jede Kritik an der übertriebenen Inszenierung raffiniert als Kritik am moralischen Auftrag umgedeutet wird, der natürlich immer gerechtfertigt ist. Wer ist nicht gegen Rassismus, Militarismus und Machtmissbrauch?
Deutschland wird nicht nur jedes Jahr progressiver, man unterschätzt auch die Autonomie der Menschen, wenn man annimmt, sie seien durch satirische Pointen von Comedians, durch die falschen Bücher im Regal einer Buchhandlung oder durch die Latrinenparolen einiger Rechtspopulisten beliebig verführbar.
Das Reinheitsstreben äußert sich auch im Vorwurf der „kulturellen Aneignung“, also in der Annahme, es sei moralisch falsch, wenn die Mehrheitsgesellschaft Kleidungsstile, Frisuren oder Speisen von Minderheiten übernimmt. Dass dieser kulturelle Austausch den liberalen Gegenentwurf zu rechten Fantasien kultureller Segregation darstellt, scheinen die Kritiker dabei nicht zu sehen. Das Reinheitsstreben motiviert auch Museen, die „problematische“ Bilder abhängen, und Aufführungshäuser, etwa wenn das Berliner Staatsballett Tschaikowskys „Nussknacker“ aus dem Spielplan streicht, weil die Intendantin den Chinesischen Tanz in diesem Ballett für rassistisch hält.
Das Reinheitsstreben verstärkt vor allem den Drang nach moralischer Vereindeutigung: die Welt klar in Gut und Böse einzuteilen, ohne die Graustufen zu sehen. Zusammen mit Stammesdenken geht diese Vereindeutigung eine, nun ja, unheilige Allianz ein, weil sie den Gruppenzwang erhöht und die Angst, für die falschen Kontakte gebrandmarkt zu werden. So zeigt eine aktuelle amerikanische Studie, dass nicht die strenggläubigen Konservativen den stärksten Konformitätsdruck im eigenen Lager verspüren, sondern die „progressiven Aktivisten“ ganz links im politischen Spektrum.
Moralische Reinheit und Kontaktschuld: Die bloße Nähe zum Bösen wird bestraft - Berliner Zeitung
Thematisch ebenfalls passend hat Florian Schröder der Peter Unfried und Harald Welzer für die TAZ ein Interview zu seinem neuen Buch “Schluss mit der Meinungsfreiheit! Für mehr Hirn und weniger Hysterie.” gegeben.
Was mich an den radikalisierten Wokies so stört, ist, dass sie im Namen der Gleichheit für Segregation sorgen: Sie wollen Rassismus abschaffen und machen die Hautfarbe des Sprechers zum entscheidenden Merkmal, ob er mitreden darf oder nicht. Dazu kommt die gefährliche Tendenz, alle vom Gespräch auszuschließen, die nicht dem eigenen Weltbild entsprechen. Sie wollen erwacht sein, sind aber doch verdammt nah am Wachtturm.
Ich glaube, es handelt sich tatsächlich um eine neo-trivial-religiöse Erweckungsbewegung mit häufig sektenhaften Zügen. Ich kann mir vorstellen: Wenn man dazugehört, ist es drin wahrscheinlich sehr angenehm. Wie bei allen Ideologien, die den darin Gefangenen den überlebenswichtigen Vorteil bieten, sich für frei zu halten. Dieses flauschig-rosa Plüschhafte »Wir sind uns alle einig, dass die anderen die Bösen sind«. Mehr kann man im Leben eigentlich gar nicht erreichen.
Ein radikaler Teil dieser selbsternannten Progressiven aber, die dafür sorgen wollen, schließen sich als Inquisitoren selbst aus, indem sie den Feind – den Märtyrer – als moralisch unrein definieren und die Regeln festlegen wollen, wer in welcher Weise worüber sprechen darf. Das ist selbst reaktionär und schafft neue Unterschiede statt neuer Gemeinsamkeiten.
Sie selbst wurden in diesem Jahr von einem woken Shitstorm durchgeschüttelt. Bei Ihrem Podcast mit dem Kollegen Serdar Somuncu überspitzte er Frauenfeindlichkeit, um sie satirisch zu kritisieren, worauf er der Frauenfeindlichkeit angeklagt wurde und sie der Mittäterschaft, weil Sie lachten. Ihr Lachen stellte für die Empörten eine Straftat dar, die am Ende in eine öffentlich-rechtliche Entschuldigung mündete. Satire und Humor sollen eindeutig sein, da dürfen keine Restzweifel aufkommen.
Sie soll am besten moralisch rein sein, deshalb ist sie ja auch oft so belehrend, anklagend. Das ist der Preis der Selbstversicherung, gut zu sein. Eindeutigkeit verhindert jede Form von Reibung, Irritation und damit auch jede produktive Auseinandersetzung. Auch mit sich selbst. Das scheint mir im Moment das Wichtigste zu sein, dass alles gefahrlos ist, Leben im abgesicherten Modus. Risikolos, in der Mitte der Fahrbahn. Das führt zu einer Starre und Unbeweglichkeit, die mit Unangreifbarkeit verwechselt wird. Nach meiner Wahrnehmung leben wir in einer gelähmten Gesellschaft, die darauf hofft, keinen Fehler zu machen, nichts Falsches zu sagen, nichts Falsches zu glauben, niemand Falschem hinterherzulaufen und wahrscheinlich im nächsten Schritt auch, nichts Falsches zu denken.
Ist das vieldiskutierte Satirestück von Lisa Eckhart über Juden, die Frauen missbrauchen, antisemitisch?
Nein. Diese Interpretation halte ich für falsch und banausenhaft. Was der Text macht, ist zu sagen: Bei #metoo ist mit Harvey Weinstein ein Jude Täter geworden. Wir hatten Juden aber doch immer auf dem Opferticket. Da kommt man ja ganz durcheinander zwischen den Opfern und den Tätern. Das ist eine vollkommen luzide und richtige Beschreibung unseres Problems, dass wir die Welt manichäisch einteilen und nur noch Täter und Opfer kennen, die uns bitte den Gefallen tun mögen, genau das zu bleiben. Sonst müssten wir am Ende noch nachdenken, Gott behüte uns! Die Vorstellung, dass Opfer und Täter die Fronten immer wieder wechseln und die Welt eben nicht eindeutig ist, kommt nicht mehr vor. Und genau diese eindeutigen Zuschreibungen werden in der Nummer ausgehebelt.
Da der wache Mensch eins zu eins liest und hört, wird er sagen: Du tust zwar so, als würdest du darüber lachen, dass ein Rassist entlarvt wird, aber in Wahrheit lachst du affirmativ, weil du nämlich auch ein Rassist in einem zutiefst rassistischen Mainstream bist.
Das halte ich nicht für zutreffend. Rassismus ist eines der Hauptprobleme unserer Gesellschaft, das ist überhaupt keine Frage. Aber ich halte es doch für unterkomplex zu unterstellen, dass im Fall des Polt-Sketches der Rassist als Teil einer rassistischen Gesellschaft über seine eigenen Rassismen lacht. Es wird sicher Menschen geben, die das nicht verstehen und sagen: Genau so sind die Asiaten. Aber die werden nicht dadurch mehr, dass ein Komiker diese Nummer macht. Und allen anderen möchte ich doch zutrauen, dass sie das sehr wohl zu unterscheiden wissen. Sonst würde man die Gesellschaft als Ganzes als unterkomplexe Gemeinschaft verstehen, die nicht mehr in der Lage ist, Anführungszeichen zu lesen. Dann bräuchten wir einen totalitären Staat, um diese unmündige Truppe in Schach zu halten. Und dagegen wehre ich mich massiv.
Die Illiberalität einer Gesellschaft lässt sich daran zeigen, wie viel Moral-Überschuss sie produziert, und inwieweit sie das Recht hinter die Moral stellt. Insofern sind wir auf einem besorgniserregend illiberalen Niveau angekommen. Deswegen würde ich immer für Ethik sprechen, weil Ethik sich ja ausschließlich für die Fragen interessiert: Ist etwas fair, ist es unfair? Ist es gerecht? Ist es ungerecht? Ist es verallgemeinerbar oder nicht? Und deswegen fehlt mir die Ethik in der ganzen Debatte, deren Aufgabe es ist, vor der Moral zu warnen, wie Niklas Luhmann es einmal so treffend formulierte.
Ideologen hassen Ironie. Und je ideologischer Menschen sind und je sicherer sie sich sein möchten, ihrer eigenen Position und der Ecke, in der sie stehen, desto mehr verlangen sie nach Eindeutigkeit und desto mehr müssen sie alles dazwischen ablehnen.
Die Religion der Narzissten - TAZ
Aufgrund problematischer Entwicklungen in ihrem Arbeitsumfeld hat eine weitere Journalistin sich entschlossen zu kündigen. Ich glaube, das ist seit dem Bestehen dieser Publikation der fünfte Fall dieser Art, über den ich berichte. Diesmal geht um Tara Henley, die CBC aufgehört hat.
When I started at the national public broadcaster in 2013, the network produced some of the best journalism in the country. By the time I resigned last month, it embodied some of the worst trends in mainstream media. In a short period of time, the CBC went from being a trusted source of news to churning out clickbait that reads like a parody of the student press.
Those of us on the inside know just how swiftly — and how dramatically — the politics of the public broadcaster have shifted.
It used to be that I was the one furthest to the left in any newsroom, occasionally causing strain in story meetings with my views on issues like the housing crisis. I am now easily the most conservative, frequently sparking tension by questioning identity politics. This happened in the span of about 18 months. My own politics did not change.
To work at the CBC in the current climate is to embrace cognitive dissonance and to abandon journalistic integrity.
It is to sign on, enthusiastically, to a radical political agenda that originated on Ivy League campuses in the United States and spread through American social media platforms that monetize outrage and stoke societal divisions. It is to pretend that the “woke” worldview is near universal — even if it is far from popular with those you know, and speak to, and interview, and read.
To work at the CBC now is to accept the idea that race is the most significant thing about a person, and that some races are more relevant to the public conversation than others. It is, in my newsroom, to fill out racial profile forms for every guest you book; to actively book more people of some races and less of others.
To work at the CBC is to submit to job interviews that are not about qualifications or experience — but instead demand the parroting of orthodoxies, the demonstration of fealty to dogma.
It is to become less adversarial to government and corporations and more hostile to ordinary people with ideas that Twitter doesn’t like.
It is to endlessly document microaggressions but pay little attention to evictions; to spotlight company’s political platitudes but have little interest in wages or working conditions. It is to allow sweeping societal changes like lockdowns, vaccine mandates, and school closures to roll out — with little debate. To see billionaires amass extraordinary wealth and bureaucrats amass enormous power — with little scrutiny. And to watch the most vulnerable among us die of drug overdoses — with little comment.
It is to consent to the idea that a growing list of subjects are off the table, that dialogue itself can be harmful. That the big issues of our time are all already settled.
It is to capitulate to certainty, to shut down critical thinking, to stamp out curiosity. To keep one’s mouth shut, to not ask questions, to not rock the boat.
Obwohl längst um Ruhestand, löst Harald Schmidt immer wieder Empörung aus. Ihm wird zuverlässig nach jedem seiner Interviews ein erstaunliches Maß an Hass entgegengebracht. Er wird so verabscheut, weil sein Humor (der sich gegen alles richtet, was den ihn Verabscheuenden wichtig ist) den Großteil der Bevölkerung anspricht und niemand ausser Helge Schneider an ihn herankommt. Wäre er noch aktiv, würde man mit aller Kraft versuchen, ihn zu beseitigen. Das sagt er selbst. Neuester Anlaß für das Hervorholen von Fackeln und Mistgabeln war ein Gespräch mit der NZZ. Auch hier zeigt sich wieder sein Humor, den viele nicht verstehen und ebensoviele bewusst missverstehen. Ich habe beim Lesen des Interviews Tränen gelacht. Das ist mir bei Jan Böhmermann oder der “Heute-Show” noch nie passiert.
Ein guter Interviewer kommt erst einmal mit einer Frage, die einen völlig in Schlagsahne bettet. In meinem Fall wäre der ideale Einstieg: «Für mich sind Sie eine Art Frank Sinatra, der Nietzsche zu Ende denkt.» Dann denke ich, da ist einer, der mein Lebenswerk kennt. Und dann fängt man an, sich um Kopf und Kragen zu reden. Die tödlichste Kombination ist es, wenn der alte Hase, dessentwegen man zugesagt hat, einen jungen Kollegen mitbringen muss, der vor Ehrgeiz strotzt und als Erstes fragt: «Was macht das mit Ihnen, dass Sie beim vierten Sender rausgeflogen sind und keiner Sie mehr sehen will?» Der will natürlich abends im Klub oder in der Patchwork-Hölle sagen können: Dem hab ich gleich mal einen eingeschenkt. Aber das ist natürlich Quatsch, denn wie mein alter Arbeitgeber Haim Saban immer sagte: «You get the bees with honey, not with vinegar.»
Bei Gaus fand ich, dass ich sehr schlecht war, denn ich war so beflissen. Ich wollte auf dieser Gaus-Ebene mithalten, anstatt Gaus zu mir herunterzuziehen, wie ich es heute machen würde. Zwei Stunden vorher musste ich zu einer Besprechung kommen, und er sagte, er verrate mir nun sein Geheimnis: Die Fragen habe er auf Pappen stehen, die aus den Strumpfhosenpackungen der Rommé-Partnerinnen seiner Frau kämen. Da würde ich heute natürlich sagen: Das finde ich super, dass ich Fernsehen erklärt kriege, denn ich habe ja erst 40 000 Sendungen gemacht, und man lernt schliesslich nie aus. Aber ich dachte: wow, Günter Gaus, Hannah Arendt und Gustaf Gründgens.
Manchmal versuche ich auch, mir neue Einkunftsquellen zu erschliessen, etwa indem ich mich als grossen Börsenfreak darstelle. Darauf kommen dann zwei oder drei Anfragen als Keynote-Speaker bei irgendwelchen Drückerkolonnen. Das mache ich dann nicht, das ist mir zu blöd. Aber es passiert immer wieder, dass mir einer schreibt: «Ich habe mit Freude gelesen, dass auch Sie für die Atombewaffnung Baden-Württembergs sind, wir würden Sie gerne zu unserem Kongress in Sigmaringen einladen.»
Noch bis zum 14. Januar kann sich jeder, der den öffentlich-rechtlichen Rundfunk reformieren möchte, bei der Landesregierung von Rheinland-Pfalz melden und Vorschläge machen. Das ist ein für den ÖRR ungewohntes Angebot. Hier der Link.
Und es dürfte doch wohl kaum jemanden geben, dem zur Reform von ARD, ZDF und Deutschlandradio nichts einfiele. Man kann sich zum allgemeinen Auftrag, zum Programmangebot, den Onlineangeboten, der Rolle der Gremien und „Sonstigem“ äußern. Wobei unter „Sonstiges“ die Höhe des Rundfunkbeitrags leider nicht fällt. Den hat zuletzt das Bundesverfassungsgericht beschlossen, wogegen sich bekanntlich nichts einwenden lässt. Und mit den Milliarden, die den Sendern zur Verfügung stehen, befassen sich die dafür zuständigen Bundesländer auch demnächst erst.
Beitragszahler, macht Vorschläge! - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes.
Das immer mal wieder ganz interessante Format “13 Fragen” befasste sich mit der Frage “Cultural Appropriation: Ist kulturelle Aneignung diskriminierend?”. Unter den Diskutanten: Jan Fleischhauer und Haznain Kazim.
Der von mir hochgeschätzte Maurice Philip Remy hat einen Film über die Vorgänge um die Entlassung Hubertus Knabes als Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen gemacht. Remy dürfte den meisten wegen seines Buchs “Der Fall Gurlitt” bekannt sein.
Kultur
Coverversion der Woche: Galaxie 500 - Ceremony
Weil diese Woche Bernard Sumner von New Order Geburtstag hat, wird es natürlich ein Stück dieser Band. Eigentlich ist Song von Joy Division. Er war der letzte den die Gruppe 1981 vier Tage vor dem Tod des Sängers Ian Curtis aufnahm. Komponiert wurde er bereits 1980 und war gleichzeitig die erste Single von New Order, wie sich die verbliebenen Mitglieder (Inzwischen ohne Peter Hook am Bass.) seitdem nennen. Die Coverversion ist von Galaxie 500s 1989er EP “Blue Thunder”.
Epilog
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