Marcellus Maximus meint. - Ausgabe #70
Prolog
Nach der letzten Ausgabe des Newsletters habe ich wieder viel Post bekommen und möchte betonen, dass ich mich sehr über jede Art der Rückmeldung freue, wenn sie sachlich formuliert ist. Eine Zuschrift hat mich allerdings verwundert zurückgelassen. Ein Leser kritisierte, dass mein Newsletter ein klar definierbares Themenspektrum hat. Dazu nur soviel: Ich erwarte natürlich einen intellektuellen Mindeststandard bei Leserbriefen.
Die Cancel Culture, die es gar nicht gibt, hat erneut Opfer gefordert. Diesmal traf es Terry Gilliam von Monty Python. Ein von ihm mitinszeniertes Stück im Londoner Old Vic Theatre wurde nun bereits im Vorfeld gestrichen. Grund dafür war, dass einige Mitarbeiter mit Äußerungen Gilliams aus der Vergangenheit nicht einverstanden waren. Das reicht heute schon. Um einen weiteren Fall wird es weiter unten gehen.
Das Phantasie-Phänomen "Gastrosexismus" äussert sich vermeintlich darin, dass Kellner sich auf Erfahrungswerte verlassen. Kleiner Hinweis an den Autor: Der Wein wird vorher probiert, um zu prüfen ob er korkt oder umgekippt und nicht, ob er "gut genug" ist.
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Nun aber los.
Heute geht es unter anderem um den “Gender Pay Gap”, Bildungslücken und einen neuen Film.
Willkommen im Club!
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Politik und Gesellschaft
Bei den Diskussionen um Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen werden Aspekte, die dem jeweiligen Narrativ nicht zuträglich sind, gern weggelassen. Der Anspruch, zur Meinungsbildung so viele Informationen wie möglich zu bekommen, scheint aus der Mode zu sein. Frei nach dem Spruch “Facts don’t care about your feelings.” müssen manche jetzt ganz stark sein. Frauen in DAX-Vorständen verdienen nämlich mehr als ihre männlichen Kollegen. Quote plus höheres Gehalt. Da wird es in bestimmten Kreisen argumentativ schon sehr dünn. Für manche werden trotzdem auch weiterhin die Evergreens “Patriarchat” und “gläserne Decke” valide Argumente sein. Bei dieser Abkopplung von der Realität kann man dann auch nichts machen.
Frauen in den Topetagen der großen börsennotierter Firmen in Deutschland haben einen Gehaltsvorsprung gegenüber Männern - und diesen im vergangenen Jahr sogar noch deutlich ausgebaut. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse des Beratungs- und Prüfungsunternehmens EY. Demnach stieg die Gesamtvergütung von Managerinnen im Vorstand von Unternehmen der DAX-Familie - also DAX, MDAX, TECDAX sowie SDAX - gegenüber dem Vorjahr im Schnitt um 8,2 Prozent auf 2,31 Millionen Euro.
Bei den Männern im Top-Management stiegen die Bezüge 2020 im Mittel um 1,6 Prozent auf 1,76 Millionen Euro. Der Gehaltsvorsprung der Frauen war mit 31 Prozent den Angaben zufolge so groß wie nie zuvor.
DAX-Chefinnen verdienen mehr als Männer - Tagesschau
In der letzten Ausgabe hatte ich einen wunderbaren Nachruf auf Bettina Gaus empfohlen. Nun hat auch Jan Fleischhauer in die Tasten gehauen und das Ergebnis ist nicht minder lesenswert. Vor allem deshalb, weil es auch eine Gegenüberstellung der alten und neuen Linken ist.
Gaus entstammte einer Welt, die bürgerliche Bildung und linke Grundhaltung noch mühelos verband. Auch daran lohnt es zu erinnern, weil es so selten geworden ist. Ich kenne das Milieu aus eigener Anschauung. Es ist eine Welt, in der man Thomas Mann las und Bach hörte und gleichzeitig den Sandinisten in Nicaragua die Daumen drückte und für den Freiheitskampf des angolanischen Volkes die Sammelbüchse herumreichte.
Natürlich sah man sich auf der richtigen Seite der Geschichte. Aber da man sich einen Sinn für die Unübersichtlichkeit und die Widersprüche des Lebens bewahrt hatte, war es einem möglich, weiterhin mit Menschen zu verkehren, die eine ganz andere politische Auffassung vertraten als man selbst.
Im März verließ sie die „taz“, für die sie 30 Jahre geschrieben hatte – erst als Afrika-Korrespondentin, dann als Leiterin des Parlamentsbüros. Der Streit über einen Text, in dem Polizisten zu Abfall erklärt wurden, hat sie über Nacht heimatlos gemacht.
Die Autorin, eine dieser queerfeministischen Stimmen, die in der Medienwelt auf Händen getragen werden, weil sie die aufregende Exotik des Fremden verkörpern, hatte in einer Kolumne Polizisten auf den Müllhaufen gewünscht, zu ihresgleichen, wie es in dem Text hieß. Gaus erkannte das als das, was es ist: einen eklatanten Bruch mit den Grundsätzen, für die sie angetreten war. Entsprechend harsch fiel ihre Replik aus.
Die Trennlinie verläuft durch viele Redaktionen, die einmal für ein progressives Deutschland stritten: auf der einen Seite die alten Linken, die noch an so altertümliche Dinge wie Menschenwürde und die Kraft des Arguments glauben – und auf der anderen die Truppen, die aus Modefächern wie den Postcolonial Studies hereingeschwemmt kommen und den Mangel an Sprachwitz und Schlagfertigkeit durch besondere Gesinnungstreue wettmachen. Was ihnen an Bildung fehlt, ersetzen sie durch Lautstärke. An die Stelle der Neugier ist die Wachsamkeit getreten, an die Stelle des Arguments das Twitter-Gekreisch.
Vor allem ist die moderne Linke grausam humorlos. Nichts fürchtet der Eiferer so sehr wie die Ironie. Das Lachen ist das Erste, was im Königreich des Himmels verboten wird. Das verbindet die Adepten des neuen Denkens übrigens mit ihren Feinden. Auch in der AfD wird nicht gelacht. Oder wenn sie dort lachen, kommt ein merkwürdiges Aufstampfen heraus.
Elke Heidenreich hat recht, die meisten Vertreter der neuen Linken lesen nichts mehr. Das ist das Paradoxe: Keine Generation ist so obsessiv mit Sprache beschäftigt wie die Generation Gender. Ein falsches Wort kann hier ausreichen, um bleibenden Schaden zu hinterlassen. Gleichzeitig ist sie merkwürdig desinteressiert an Wohlklang und Schönheit der Sprache. Auch das ist ja ein Signet der neuen Bewegung, dass sie zu einer nennenswerten Theoriebildung nicht mehr in der Lage ist.
Alles, was die Anhänger im Angebot haben, ist neben ein paar traurigen MeToo-Texten und den modischen Umdeutungen des Holocaust zu einem zweitrangigen Ereignis das gebetsmühlenhaft vorgetragene Bekenntnis, dass die Wurzel allen Übels der Rassismus sei. Wenn man mit ihnen über Heine oder George Sand oder die Liebesbriefe von Kafka reden wollte, blickte man in tote Augen.
Die im Fleischhauer-Text erwähnte Elke Heidenreich sieht sich seit ihrer Kritik an Sarah-Lee Heinrich bei Markus Lanz heftiger Kritik ausgesetzt. Dazu äussert sie sich in einem Interview mit der NZZ.
Sie haben in der Talkshow gesagt, dass Sarah-Lee Heinrich der Funktion dieses Jobs nicht gerecht werde mit ihrer Art zu sprechen. Was genau meinten Sie damit?
Ich habe gemerkt, wie unfähig sie war zu formulieren, fand auch ihre Bemerkung von der «ekligen weissen Männergesellschaft» nicht passend. Ich habe gesagt: Das ist diese sprachlose Generation, die nicht liest. Und daraufhin wurde ich als Rassistin bezeichnet, und es ging ein wahnsinniger Shitstorm los. Dass mein Buch daraufhin auf Platz eins schoss, damit hat niemand gerechnet, weil es ein Sachbuch über Literatur ist.
Ist es nicht ein etwas hartes Urteil, über jemanden zu sagen, er habe keine Sprache? Haben Sie sich im Nachhinein überlegt, ob Sie das vielleicht anders hätten sagen können?
Das ist bei mir oft so. Ich bin jemand, der gut austeilt. Ich kann dann auch gut einstecken. Aber Heinrich habe ich nicht als Person, sondern als Funktionärin kritisiert. Sie ist Sprecherin, und eine Sprecherin sollte richtig formulieren können, oder? Und das habe ich kritisiert. Ich hätte das auch gesagt, wenn sie blond und blauäugig wäre. Also mit Migrationshintergrund hat das gar nichts zu tun. Zumal sie in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Und Deutsch ist ihre Muttersprache. Der Vorwurf des Rassismus ist schon mal ganz lächerlich.
Wir haben übrigens Sarah-Lee Heinrich ein Gespräch angeboten, Volker Weidermann wollte für «Die Zeit» ein Gespräch moderieren, Lanz wollte sie und mich noch mal einladen. Sie hat alles abgelehnt, sie will es nicht.
Der Festakt zur Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche wurde gestört durch eine grüne Politikerin – es ging um den auf der Buchmesse anwesenden rechten Verlag Jungeuropa. Können in Deutschland derzeit überhaupt noch Kultur, Unterhaltung, Bildung stattfinden, ohne dass das sofort alles von identitätspolitischen Fragen überlagert wird? Manchmal befallen einen da Zweifel.
Ich glaube, dass Sie recht haben, dass das im Moment nicht passiert. Und das war 68 – bei denen war ich ja dabei damals – genauso, dass wir die Professoren unterbrochen haben. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, wir hatten eine andere Kultur, eine andere Bildung und andere Absichten. Das war die Zeit des Vietnamkriegs. Das war die Zeit, wo wir alle in das Alter kamen, unsere Eltern zu fragen: Was habt ihr im Zweiten Weltkrieg gemacht? Als die Dinge endlich aufgearbeitet wurden, wir uns von Obrigkeiten, die eventuell darein verwickelt waren, nichts mehr sagen liessen. Heute ist das so, dass wir eine hysterische Beleidigt-Kultur haben. Das heisst, jeder, der nicht sofort in jedem Satz mitbedacht wird – schwarz, einbeinig, blind, taubstumm, Migrationshintergrund, was weiss ich: bisexuell –, ist beleidigt, weil er in diesem Satz nicht erwähnt wurde. Das geht nicht. Man kann nicht alle Menschen in jedem Satz erwähnen und glücklich machen. Diese Betroffenheitskultur finde ich völlig falsch.
Nehmen Sie die Geschichte von Dr. Dolittle. Eines meiner liebsten Kinderbücher. Da sagt der Negerkönig – wenn man es heute ausspricht, wird man schon gekreuzigt –: «Ach, ich bin so braun, ihr seid alle so schön mit eurer hellen Haut. Ich möchte auch helle Haut haben.» Und Dr. Dolittle sagt: «Seien Sie doch froh, Sie sind doch viel schöner als wir. Gucken Sie mal, wie blass wir sind, wie teigig.» Er tröstet ihn, und der Negerkönig ist glücklich. Das kann man jetzt nicht umändern in «König mit Migrationshintergrund». Das ist Schwachsinn.
Die Professorin Kathleen Stock hat nach sechzehn Jahren Lehrtätigkeit und Jahren der Hetze gegen sie an der Universität Sussex gekündigt. Einigen Studenten, aber auch Kollegen, gefielen ihre Ansichten nicht. Jan Feddersen, ein Linker alter Schule, kommentiert das in der TAZ.
Nicht, weil sie eine schlechte akademische Lehrerin war, sondern weil sie in Blogbeiträgen sehr klar gegen den woken Zeitgeist und stattdessen darüber schrieb, dass das Geschlecht, Frau oder Mann, biologisch begründet sei und keineswegs identitär dem aktuellen Belieben anheimgestellt werden darf. Stock erntete dafür eine Fülle von üblen Nachreden im Uni-Gehege – bis hin zu einer Demonstration auf dem Campus gegen sie, als sei sie ein Nazi. Man brandmarkte sie – das Schlimmste, das in ihrem Milieu einem widerfahren kann –, transphob zu sein. Eine internationale Unterschriftenliste, die ihre Ablösung forderte, darunter auch Leute aus dem deutschen Universitätsbetrieb, unterfütterte den global getunten Mob.
Stock zog sich nun zurück; sie hat, physisch bedroht, sich und ihre Familie zu schützen. Der Fall, der auch ein grelles Licht auf das esoterische Verständnis von Humanbiologie auf Teile der Geisteswissenschaft wirft, mag zum Menetekel werden: Mit der Demission Stocks wird auch die Meinungs- und Forschungsfreiheit als krass bedroht erkannt werden – hier nicht von rechts, sondern auch von einem Teil der Linken. Dass der Fall, wie behauptet wird, einer zwischen Progressiven und Konservativen sei, zwischen den Frischen und Alten, ist falsch: Wokistan gibt sich links – und ist doch nur ein antifreiheitlicher Mob im Zustand der Selbsttrunkenheit: Im Netz wurde Stocks Resignieren als Sieg gefeiert – für die queere Sache. Was für eine Groteske!
Antifreiheitliches Wokistan - TAZ
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes. Gerd Buurman reagiert auf die groteske Behauptung des Aktivisten Malcolm Ohanwe, “kontrovers” sei ein Code für Nazis.
Prof. Katharina Beckemper und Prof. Elisa Hoven sprechen mit dem ehemaligen Neonazi Philip Schlaffer.
Nikolaus Jilch von “Agenda Austria” unterhält sich mit Anna Schneider.
“Die Liebe zum Verbot finde ich furchtbar”
Kultur
Es gibt heutzutage nur noch selten neue deutsche Filme, die mich interessieren. Einer davon ist “Lieber Thomas” von Andreas Kleinert, der das Leben von Thomas Brasch behandelt. Bei der Vorbereitung auf den Film stieß ich auf die Information, dass die ehemalige Inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit und heutige Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane, offenbar auch Brasch im Auge hatte. Das sollte nicht in Vergessenheit geraten.
In einem von IM „Victoria“ stammenden Bericht heißt es 1976 über einen Kreis von Schriftstellern und Schauspielern: „Zu den Feinden der DDR gehören in erster Linie Klaus Brasch und Thomas Brasch.“
Der Trailer macht einen sehr guten Eindruck, ich bin gespannt. Wer den Film bereits gesehen hat, kann mir gern schreiben, wie er ihn fand.
Coverversion der Woche: Marie Laforêt - Et si je t'aime
Vor vier Tagen starb Margo Guryan, weshalb heute einer Songs dran ist. Das von ihr geschriebene Original wurde erstmals im Dezember 1967 veröffentlicht und 1968 von Marie Laforêt interpretiert. Beide Versionen gefallen mir jeweils auf ihre Art sehr gut.
Epilog
Wenn Ihnen diese Ausgabe gefallen hat, leiten Sie sie gern an Freunde, Bekannte oder Familienmitglieder weiter. Vielen Dank im Voraus!