Prolog
Nach der Wahlwiederholung in Berlin ist nach wie vor alles offen. Ein Grund dafür:Es kam erneut zu Pannen. Unter anderem wurden nicht ausgezählte Briefwahlstimmen entdeckt, die seit Freitag herumlagen. Man kann sich nur an den Kopf fassen. Nach der Wahl erklärten Politiker, dass mit allen demokratischen Parteien sprechen zu wollen und nannten in der Aufzählung jedes Mal die Partei "Die Linke". Das wirft die Frage auf, was aus dem antitotalitären Konsens wurde. Insgesamt scheint sich der rot-rot-grüne Senat vorgenommen zu haben, seine Arbeit unbeirrt fortzusetzen. Dass er, vielleicht nicht rechnerisch, aber moralisch abgewählt wurde, interessiert offenbar keinen der Beteiligten.
Die liberale Partei ist (leider zu Recht) komplett abgewählt worden. Nach den auch hier mehrfach thematisierten Eskapaden auf Bundes- und Landesebene ist die FDP für klassische Liberale keine Option mehr. Gesellschaftsliberal gesinnte Menschen wählen ohnehin andere Parteien. Sie hat sich zu lange bei Milieus angebiedert, die sie sowieso nicht wählen und damit die die Stammwählerschaft vor den Kopf gestoßen. Dafür bekommt sie nun eine Quittung nach der anderen. Nicht nur eine Staatsquote von 47,4% und Einnahmen von über 880 Milliarden Euro belegen, dass ein liberales Korrektiv unverzichtbar ist. Was hinter den Kulissen verhindert wird, möchte man sich gar nicht ausmalen. Das wird allerdings nicht ausreichend kommuniziert. Zumindest in Berlin muss man sich nun wieder mit der Opposition zufriedengeben.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Denunziation, Fake News und Privilegien.
Politik und Gesellschaft
Die Amadeu Antonio Stiftung hat ein Denunziationsportal in Netz gestellt, auf dem man “Antifeminismus” melden kann. Dieses wird vom Familienministerium gefördert. Nicht nur René Pfister bereitet das Bauchschmerzen.
Stellen Sie sich vor, eine Stiftung, die von einer ehemaligen Inoffiziellen Mitarbeiterin (IM) der DDR-Stasi gegründet worden ist, eröffnet eine Website, auf der man politisch unzuverlässige Menschen und Meinungen melden kann. Die Stiftung wiederum bekommt staatliche Subventionen aus einem Bundesministerium, das aus politischen Gründen ein Interesse daran haben könnte, bestimmte Meinungen an den Pranger zu stellen, um seine Ministeriumsprojekte durchzusetzen.
Unmöglich, sagen Sie? Nicht in Deutschland?
Es wäre ein Irrtum anzunehmen, bei dem Projekt ginge es vor allem darum, Frauen zu helfen, die unter einem gewalttätigen Ehemann oder einem übergriffigen Chef litten. In den Augen der Amadeu Antonio Stiftung sind schon Leute verdächtig, die der Meinung sind, dass ein Mensch mit einem Penis schwerlich eine Frau sein kann.
Auch Journalisten, die finden, dass das Selbstbestimmungsgesetz der grünen Familienministerin Lisa Paus noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist, und sich fragen, ob Menschen, die nach biologischen Merkmalen Männer sind, etwas in Frauenhäusern oder -gefängnissen verloren haben, sind demnach ein Fall für die Meldestelle.
Die Amadeu Antonio Stiftung hat sich ohne Frage Verdienste im Kampf gegen Rechtsextremismus erworben. Aber in den vergangenen Jahren entwickelte sie sich auch zu einem Allzweckanbieter für die Anliegen des progressiven Milieus. In diesem gilt es als Gewissheit, dass das Geschlecht nichts mit Biologie zu tun hat und es sich keinesfalls auf Mann oder Frau reduzieren lasse. Diese Ansicht wird mit ähnlicher Verve verteidigt wie bei Katholiken die Jungfrauengeburt Marias.
Ich bin selbst Katholik und vollkommen damit einverstanden, dass jeder im Privaten seine Mysterien pflegt. Etwas anderes ist es, wenn eine Organisation wie die Amadeu Antonio Stiftung mit staatlicher Hilfe eine Liste mit Meinungen erstellt, die aus dem öffentlichen Diskurs herausgedrängt werden sollten.
Antifeminismus sei nur eine »Einstiegsdroge«, sagt Ans Hartmann. Es ist eine erstaunliche, aber vielleicht nicht unbedingt überraschende Entwicklung, dass man im linken Lager den offenen Diskurs als eine Art Suchtproblem betrachtet.
Wer jemals auf einem grünen Parteitag war, weiß, in welch hohem Ton dort von der Bedeutung der Meinungsfreiheit gesprochen wird. Die Gesichter der Delegierten werden ernst und sorgenvoll, wenn von der Verfolgung von Journalisten in Diktaturen berichtet wird.
Geht es allerdings darum, Meinungen zu bekämpfen, die nicht im grünen Parteitagsprogramm vorgesehen sind, geht es erstaunlich robust zu.
Ein Polemiker würde sagen: Es hat eine gewisse Konsequenz, dass ausgerechnet die Amadeu Antonio Stiftung eine Meldestelle eingerichtet hat. Die Stiftung kam auch deshalb zu einer gewissen Berühmtheit, weil im Jahr 2002 herauskam, dass ihre Gründerin Anetta Kahane jahrelang für die Stasi gearbeitet hatte. Nach allem, was man weiß, hat Kahane niemanden wirklich ans Messer geliefert. Und sie war eine sehr junge Frau, als sie verpflichtete. Insofern fand ich es immer unfair, wenn der Versuch gemacht wurde, Kahanes Lebensleistung mit ihrer Tätigkeit für die Stasi zu diskreditieren.
Aber eine Stiftung, die über 20 Jahre von einer ehemaligen IM geführt wurde, sollte vielleicht nicht ganz vorn mit dabei sein, wenn es darum geht, sich die deutscheste aller Untugenden zunutze zu machen: die Lust, den Nachbarn und Kollegen anzuschwärzen.
Schöner petzen mit Lisa Paus - Spiegel
Das Oberlandesgericht Köln hat nun in einem bemerkenswerten Urteil den guten Ruf der Biologin Marie-Luise Vollbrecht wieder hergestellt. Über den Fall hatte ich hier bereits berichtet. Sie wird seit Monaten von einer Gruppe radikaler Aktivisten verleumdet, weil sie über wissenschaftliche Tatsachen referiert.
Das Oberlandesgericht beschreibt dabei ganz genau, was die Aktivisten im Sinn haben: Sie versuchten, «die Deutungshoheit über den Begriff der NS-Verbrechen zu erlangen» mit dem Ziel, den allgemeinen Sprachgebrauch zu erweitern, damit unter den Begriff des «Holocaust» auch Transpersonen als «gleichwertige» Opfer systematischer Verfolgung eingeordnet werden könnten.
Damit werde zugleich, so das Gericht, «auch der argumentative Grundstein gelegt für eine Behauptung der Leugnung von – einseitig weit verstandenen – ‹NS-Verbrechen›, wenn nur – wie hier – ein Gegner derartiger Begriffsbildungsbemühungen diese Zuordnung infrage stellt und Belege für bisher historisch nicht nachgewiesene Tatsachenbehaupungen der Aktivisten verlangt.» Mit anderen Worten: Allein dass Vollbrecht Belege verlangt hat, macht sie in den Augen ihrer Gegner zur Leugnerin.
Die 32-jährige Vollbrecht hat bisher überwiegend Dinge gesagt, die weitgehend der herrschenden Meinung entsprechen: etwa, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter gebe. Und auch, dass die Shoah ein einzigartiges Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden war. Sie stellt nicht in Abrede, dass auch andere Personengruppen im Nationalsozialismus verfolgt wurden. Für ihre Aussagen erntet sie Hass und Bedrohungen in einem Ausmass, das nicht nachzuvollziehen ist.
Dazu passt auch ein Vorfall bei “Zeit Online”. Dort wurde in einem Artikel behauptet, es sei seit Langem Konsens in der Wissenschaft, dass es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt. Einige Tage nach Erscheinen des Stücks, wurde dieses Zitat in den sozialen Medien in Form einer sogenannten “Kachel” verbreitet. Das ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist eine wissenschaftliche Tatsache und es besteht auch nicht “seit längerer Zeit” Konsens darüber, dass es anders sei. Nach zahlreichen Wortmeldungen (Unter anderem auch von mir.) wurde der betreffende Teil geändert und der Artikel mit folgendem Kommentar versehen:
*Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle hieß es zunächst, dass es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt. Das ist missverständlich, wir haben es präzisiert.
Interessant, denn eine nachweislich unzutreffende Behauptung ist nicht "missverständlich". Dass sich die Autorin dieser Unwahrheit nicht bewusst war und diese weder bei der Abnahme des Textes, noch beim Erstellen der Kachel auffiel, halte ich außerdem für ausgeschlossen. Zudem handelt es sich hier nicht um ein unbedeutendes Regionalblättchen, sondern um ein ehemals seriöses Leitmedium.
Insgesamt strotzt der Artikel vor schrägen Argumenten, aber das kritisiere ich in einem Meinungsartikel nicht. Unwahre Tatsachenbehauptungen sind allerdings keine zulässigen Meinungen im seriösen Diskurs.
Das unterdrückte Geschlecht - Zeit
Nach meiner Teilnahme an der “Streitkultur” - Sendung im Deutschlandfunk bin ich nun mehrfach gefragt worden, warum ich Maryam Aras nicht darauf hingewiesen habe, dass ich dunkelhäutig bin. Ich hatte tatsächlich im Vorfeld darüber nachgedacht, weil ich damit hätte demonstrieren können, dass nicht alle Schwarzen gleich denken. Meine Hautfarbe war allerdings nie ein dominanter Teil meiner Identität. Deshalb habe ich mich dagegen entschieden. Meine Argumentation hat nichts mit meiner Hautfarbe zu tun.
Die Woke-Bewegung versuche, der Mehrheit ihre Vorstellung aufzuzwingen, kritisiert der Publizist Marcel Peithmann. Gleichberechtigung setze ein Umdenken der Mehrheitsgesellschaft voraus, meint hingegen die Literaturwissenschaftlerin Maryam Aras.
Bereichert Wokeness die demokratische Debatte? - Deutschlandfunk
Gegen die Wokeness begehren nun auch die Franzosen immer mehr auf, was ich sehr sympathisch finde. Es passt zu ihrer Mentalität, dass sie freiheitseinschränkenden, autoritären Trends ablehnend gegenüberstehen.
Vor den Transaktivisten zittern die Universitäten. In Genf wurde Éric Marty, der in „Le Sexe des Modernes“ Gender als „letzte ideologische Botschaft des Westens“ bezeichnet, tätlich angegriffen und bespuckt, sein Manuskript zerrissen: „Transphobie“ lautete der Vorwurf. Reihenweise werden in Frankreich Veranstaltungen mit den Psychoanalytikerinnen Céline Masson und Caroline Eliacheff gestört oder abgesagt. Die Autorinnen diagnostizieren in „La fabrique de l’enfant transgenre“ eine „Mode der Transidentität als Teil einer ideologischen Subkultur mit sektiererischen Zügen“, die sich im Internet verbreite. In Brüssel wurde eine Debatte durch eine Attacke mit Tierkot unterbrochen, nach dem Einschreiten der Polizei konnte sie weitergehen. Die Zeitungen berichten von „faschistischen Methoden“ der Demonstranten.
Der Ideenhistoriker Pierre-André Taguieff deutet den „militanten und ideologisierten Hass auf die europäische Kultur“, den Woke predige, als „Diabolisierung des Westens“. Die „Dekonstruktion“ führt er auf den Einfluss von Heidegger und Nietzsche in Frankreich zurück. Taguieff kennt die philosophische und politische Wirkungsgeschichte der französischen Postmoderne in beiden Ländern. „Black Lives Matter wurde 2013 von drei militanten Marxistinnen begründet“, hält er in „Pourquoi déconstruire?“ fest. Aus dem Antirassismus wurde ein Rassismus. Die Umschreibung der Geschichte belegt er mit dem Hinweis auf Historiker, die den Anfang der Demokratie nicht in Athen, sondern in Afrika situieren. Woke versteht Taguieff als Wiedergeburt der „revolutionären Utopie“.
Damals ging es erst um die „politische Korrektheit“ gegenüber den diskriminierten Minderheiten, deren Emanzipation im Mai 1968 begonnen hatte. Sie mündete in eine „Tyrannei der Tugend“, mit der sich der Schriftsteller Pierre Jourde („La Tyrannie vertueuse“) befasst: „Wir erleben die Rückkehr der moralischen Ordnung.“ Sie erinnert ihn an die „Skandale, Zensur, Prozesse“ (gegen Flaubert, Baudelaire) während der Restauration im 19. Jahrhundert. „Woke“ definiert Jourde als Hegemonie der Identität und Verzicht auf die Universalität. Im Namen einer „verabsolutierten Partikularität“ werden Zensur und Selbstzensur ausgeübt. Auch für Anliegen, die Jourde unterstützt: „Ich bin Feminist und für die Ehe für alle.“
Das neue Tabu der „kulturellen Aneignung“ deutet er als Negation der Kultur. Wer Beethoven als Demütigung der Schwarzen empfindet, werde zum Rassisten, der ihre „Identität“ auf Rap und Tamtam-Trommeln beschränke. Woke ist für Jourde „kein politisches, sondern ein moralisches Denken“: „Man will das Böse ausradieren.“ Literatur wird unmöglich: „Als ob Bataille für die Priester des rassischen und feministischen Gutdenkens nicht existiert hätte.“ Kein Witz: In einer LGBT-Gruppe unterstellen Transfrauen einer Lesbierin, die ihre Avancen abweist, Transphobie. Gegen die moralische Ordnung zitiert Jourde Sartre und setzt auf Humor, Satire, Kritik: „Merci, Charlie Hebdo.“
Die Tyrannei der Tugendhaften - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Zum Ende der Rubrik wieder Sehens- und Hörenswertes. Jörg Scheller spricht über Privilegien.
"Prüf erstmal deine Privilegien": So kann es in politischen Debatten heißen. Bedeuten soll es meist: Dir geht es viel zu gut, um mitreden zu können - zum Beispiel, wenn es um Rassismus geht.
Jörg Scheller, Professor für Kunstgeschichte in Zürich, widerspricht dieser Auffassung: Bestimmten Gruppen pauschal Privilegien zuzuschreiben, überdecke Unterschiede und negiere die Möglichkeit, sich individuell zu entscheiden. Darum geht es in seinem Buch "(Un)Check your Privilege".
Wer ist privilegiert, Jörg Scheller? - RBB Inforadio
Christian Schertz spricht mit Alexander Kähler über den Anwaltsberuf und Pressefreiheit sowie Persönlichkeitsschutz.
Schertz sieht es als seine „Pflicht“, seine Expertise und sein Know-how Menschen zur Verfügung zu stellen, „die einer medialen Verurteilung, Vorverurteilung mitunter auch Vernichtung ausgesetzt sind.“ Schertz, zu dessen anwaltlichen Schwerpunkten das Presse- und Persönlichkeitsrecht zählt, nimmt für sich in Anspruch, auf der Seite derjenigen zu stehen, „die sich dagegen wehren, dass ihre Rechte verletzt worden sind“, die Schutz bedürften.
Kultur
Hannover hat es in die “New York Times” geschafft. Grund dafür ist, dass Marco Goecke, Ballettchef der Staatsoper, sich am Abend der Premiere seines Stücks "Glaube - Liebe - Hoffnung" bei der Kritikerin Wiebke Hüster über einen ihrer Artikel beschwert und ihr im Eifer des Gefechts Hundekot seines Dackels ins Gesicht geschmiert hat. Eine unglaublich erniedrigende Handlung, die Bände über Goeckes Menschenbild spricht.
Die bereits durch entgleiste Stellungnahmen in der Vergangenheit bekannte Autorin Sybille Berg schrieb dazu bei Twitter:
#hundekot Das ist kein Angriff auf die Pressefreiheit. überragende Künstler sind Ausnahmemenschen, sie dürfen nicht alles aber-shit happens. #MarcoGoecke ist einer der überragenden Künstler in D- ihn zu verlieren wäre ein riesiger Verlust- macht ne Therapie,gebt euch die Hand.
Diese gänzlich entrückte Äußerung offenbart eine Ablehnung zentraler zivilisatorischer Errungenschaften. Abstraktion kippt in schulterzuckende Menschenverachtung. Das Verzieren von Kritikergesichtern mit Fäkalien: Kein Angriff auf die Pressefreiheit, sondern Aktionskunst? Dieses gruselige Mindset passt gut zu dem des inzwischen entlassenen Marco Goecke. Ob die beiden sich wohl kennen?
Ms. Hüster, a dance critic for 25 years, said in a phone interview that she was so shocked that she started to scream. “It was terrible,” she said. As soon as she composed herself, she reported Mr. Goecke — who last year was jointly awarded Germany’s main dance prize — to the police.
On Monday, Hanover’s police department said in a statement that it had opened an investigation into a case of bodily harm and insult. “The investigations are at the beginning,” it added.
Since the incident, Ms. Hüster said, she has been focused on doing “everything in my power to heal myself,” but much of Germany’s dance world is trying to understand why a respected choreographer would attack a critic, and whether it represented a sign of a damaging shift in how artists view criticism.
Choreographer Smears Dog Feces on Critic After Negative Review - The New York Times
Harald Schmidt hat wieder einmal eines seiner einmaligen Interviews gegeben. Menschen wie er bräuchte es mehr im deutschen Kulturbetrieb.
Nach Corona mussten die Theater erst ihr Publikum wieder zurückerobern. Am Schauspielhaus Zürich werden die Verträge des Leitungsteams nicht verlängert - vor allem wegen der schlechten Auslastung und zu viel "Wokeness" am Haus.
Die haben im Sinne des Zeitgeists sicher alles richtig gemacht. Das Schauspielhaus Zürich ist nicht irgendeine Klitsche, sondern ein Haus mit großer Geschichte und Geld. Das Publikum will dort Schauspieler sehen. Stars, die sie über mehrere Produktionen verfolgen können. Nur mit Projekten, Überschreibungen und "Wilhelm Tell nach Schiller" scheint das nicht funktioniert zu haben. Ich bin da wirklich unsentimental und würde sagen: Machen wir Broadway, machen wir Westend. Es heißt nicht von ungefähr "Show-Business": Ich muss die Plätze verkaufen, sonst ist die Bude dicht. Das habe ich oft am Theater erlebt: 20 Prozent Platzausnutzung, und man sagte, wir sind zu radikal für diese Spießer. Dabei war es einfach nur stinklangweilig. Die viel beschimpften Abonnenten kommen ja meistens sogar noch. Aber die will man nicht mehr. Frage ich immer: Habt ihr denn neue?
Wären Sie gerne jünger?
Keine Sekunde! Auch mit Blick auf das, was am Theater los ist. Elternzeit. Quality Time. Wokeness. Awareness. Alles nicht mein Ding. Ich höre, es gibt Häuser, da gibt es keine Kritik mehr. Da werden nur noch Befindlichkeiten geäußert. Wie da eine Probe funktionieren soll, weiß ich nicht. Ich habe an der Schauspielschule Zürich einen Workshop für Improvisation gegeben. Da war ich schnell in der Position "Opa erzählt vom Theaterkrieg". Die hatten von Peter Zadek oder Ulrich Wildgruber noch nie gehört. Zeitung lesen sie schon mal gar nicht, auch nicht online. Die Hälfte kam leicht übermüdet zehn Minuten zu spät, links einen Kaffeebecher, rechts ein Croissant, Beine hoch aufn Stuhl. Denke ich, Kinners, ich hab mein Leben lang so ein Hochleistungsdenken gehabt - und ihr? Auf die Frage nach ihrem Traumtheater kam die Antwort: "Also für mich muss es menschlich stimmen."
Wie stehen Sie zu den Klimaklebern und "Fridays for Future"-Protesten?
Lass ich an mir vorbeiziehen. Ist mir als Thema zu dankbar. Zu naheliegend. Das ist etwas für den gemeinen Kabarettisten. Ich steige erst ein ab EZB aufwärts. Der Pöbel macht Kabarett. Ich bin Conférencier. Eigene Liga. Bob-Dylan-Abteilung.
Krieg, Energiekrise, Klima - die aktuelle Weltlage gibt für den Satiriker vielleicht gar nicht so viel her? Zu ernst?
Der Krieg ist sehr ergiebig! Plötzlich habe ich Panzer zu kennen. Plötzlich heißt es, wir müssen unsere Rüstungsindustrie unterstützen. Bis vor einem Jahr war die Rüstungsindustrie ein Igitt-Thema. Jetzt haben die Aktien von Rheinmetall 160 Prozent zugelegt. Mein Lieblingsfoto der letzten Woche: die "Masken-Millionärin" Andrea Tandler vor dem Gericht München. Jetzt in U-Haft. Sensationell. Diese Mütze, diese Brille, dazu das Ding vor dem Mund. Das muss mir ein Theater erst mal bieten! Oder Lindner in Mali: das Grundoutfit von Selenskij und drüber so ein offenes Jeanshemd. Wo ich mich frage: Was macht der Finanzminister in Mali? Ich lach mich teilweise krank, wenn ich die Nachrichten sehe.
Ihrem Publikum trauen Sie indes sehr viel zu, jonglieren mit Namen aus Fernsehen und Politik und geben Feuilleton-Spezialwissen als selbstverständlich aus. Einige wissen ja gar nicht, wer etwa Politikwissenschaftler Herfried Münkler ist ...
... gerade deswegen nenne ich ihn "unseren Liebling Herfried Münkler". Den habe ich fest im Programm. Weil mir das imponiert, wenn er in einem Interview im Deutschlandfunk um acht Uhr morgens das Zündnadelgewehr und die Schlacht bei Königgrätz erklärt: "Wissen Sie, das Entscheidende war der Kronprinz, der die zweite Armee in die Flanke geführt hat."
So manche Witze aus Ihrer Dirty-Harry-Zeit fallen heute unter Bodyshaming oder Rassismus.
Selbstverständlich mache ich keine Polen-Witze mehr. Aber es macht mir einen Riesenspaß, politisch korrektes Vokabular zu verwenden. Je korrekter ich formuliere, desto größer meine Verachtung. Dass es jetzt nicht mehr "Clan-Kriminalität" heißt, sondern "familienbasierte Kriminalität" - ein Geschenk des Himmels! Ich würde nie schimpfen, man dürfe ja nichts mehr sagen. Der einst gefeierte Mainzer Karnevalsänger Ernst Neger heißt bei mir jetzt Ernst Person of Color.
"Ich lach mich krank" - Süddeutsche Zeitung
Coverversion der Woche: The High & Mighty - Take It Off
1989 war nicht nur insgesamt ein Jahr der Premieren, es war auch ein gutes Jahr für HipHop. Neben dem perfekten "Pauls Boutique"-Album der Beastie Boys erschien mit De La Souls "3 Feet And Rising" ein weiteres bahnbrechendes Werk, welches, wahrscheinlich nervtötend für meine Eltern, bei mir monatelang auf Schleife lief. Ich wurde imaginäres Mitglied der Native Tongues Posse. Jungle Brothers, A Tribe Called Quest, you name it. Eine neue Welt.
Dreimal war es mir vergönnt, De La Soul live zu erleben. Es waren jedes Mal Feste. Eine großartige Band, die gezeigt hat, dass es bei HipHop nicht um Bitches, Money und dicke Karren gehen muss, sondern dass Rap auch mit Humor und Intellekt funktioniert. Ein geplantes Interview kam leider nicht zustande.
Nun ist Trugoy im Alter von 54 Jahren viel zu früh gestorben. Es war bekannt, dass er Herzprobleme hatte. Anfang März wird das gesamte Material der Gruppe endlich digital verfügbar sein, was bisher wegen Sample-Querelen nicht möglich war. Leider wird er das nicht mehr miterleben.
Epilog
Folgen Sie mir bei Interesse gern in den sozialen Medien. Vernetzungsmöglichkeiten finden Sie auf meiner Website. Bei Twitter können Sie zusätzlich die #FreeBlackTwitterGermany-Liste für schwarze Meinungsvielfalt im deutschsprachigen Raum abonnieren.
Wurde Ihnen diese Publikation weitergeleitet? Melden Sie sich für “Marcellus Maximus meint.” an, um den Newsletter in Zukunft bequem über Ihr Emailpostfach zu empfangen.
Wenn Ihnen diese Ausgabe gefallen hat, leiten Sie sie gern an Freunde und Bekannte weiter. Danke im Voraus! Natürlich freue ich mich auch über Ihre Kommentare.
Nachdem ich erst glaubte "Oh Graus, was für einen ziemlich reaktionären Newsletter hast du denn hier grade abonniert?", bin ich nach der heutigen Ausgabe doch erfreut, wie differenziert, aber doch meinungsfreudig hier argumentiert wird.
Ganz abgesehen davon, dass ich neugierig auf die Coverversion der Woche der Woche bin, weil sich die oft in meinem Musikgeschmack wiederfinden.